Kurzbeschreibung

Der Bankier und linksliberale Politiker Johannes Kaempf (1842–1918) war Mitglied der Freisinnigen Volkspartei, aus der 1910 die Fortschrittliche Volkspartei hervorging. Seit 1903 war er Mitglied des Reichstags und wurde 1912 zu dessen Präsidenten gewählt. In dieser Funktion leitete er bis zu seinem Tod 1918 die parlamentarischen Sitzungen. Am 4. August 1914 hielt Kaempf diese Rede im Reichstag, nachdem Reichskanzler Bethmann-Hollweg die Sichtweise der deutschen Regierung auf die Ereignisse, die zum Ausbruch des Krieges führten (die sog. Juli-Krise), dargelegt hatte. Zu diesem Zeitpunkt hatte Österreich-Ungarn Serbien bereits den Krieg erklärt, und Deutschland befand sich im Kriegszustand mit Russland und Frankreich. Deutsche Truppen waren unter Verletzung des Völkerrechts in die neutralen Staaten Luxemburg und Belgien einmarschiert, um den Schlieffen-Plan umzusetzen. Zu diesem Zeitpunkt hoffte die deutsche Regierung noch, dass Großbritannien neutral bleiben würde, doch am späten Abend des 4. August, wenige Stunden nach der Reichstagssitzung, in der Kaempf diese Rede hielt, erklärte Großbritannien Deutschland den Krieg.

Diese Tonaufnahme wurde jedoch nicht an jenem Tag im Reichstag gemacht (da dies 1914 technisch noch nicht möglich war), sondern vier Jahre später, am 22. Januar 1918, von der Preußischen Staatsbibliothek. Im Jahr 1917 begann die Lautabteilung der Staatsbibliothek, wichtige Reden von führenden Politikern und anderen prominenten Persönlichkeiten für ihre Sammlung im Studio aufzunehmen. In seiner ursprünglichen Rede von 1914, die Kaempf 1918 für diese Aufnahme erneut verlas, behauptete er, dass Deutschland in den Krieg gezwungen worden sei und es sich daher um einen Verteidigungskrieg (gegen Russland und Frankreich) handele – eine Interpretation der Ereignisse, die von den meisten deutschen Politikern und der öffentlichen Meinung geteilt wurde. Wie Kaempf feststellt, hatten sogar die SPD-Abgeordneten, die im Allgemeinen eine antimilitaristische und internationalistische Friedenspolitik verfolgten, beschlossen, die Kriegsanstrengungen Deutschlands zu unterstützen und die notwendigen Kriegskredite zu bewilligen, da auch sie zu der Überzeugung gelangt waren, dass sie damit einen Krieg zur Verteidigung des Landes unterstützten. In der Rede selbst charakterisiert Kaempf den Krieg mehrfach als defensiv, nennt ihn aber auch einen „Kampf um geistige Güter”. Er verweist auf die „Begeisterung” und „Einmütigkeit” des deutschen Volkes und verwendet Formulierungen, die an ältere patriotische Lieder wie Die Wacht am Rhein erinnern.

Reichstagspräsident Johannes Kaempf, Ansprache zum Kriegsbeginn (4. August 1914)

Quelle

Meine Herren, der Ernst der Lage, über den niemand unter uns sich  mehr hat täuschen können, ist in seinem vollsten Umfange und in seiner ganzen Schwere in den Worten des Herrn Reichskanzlers zum Ausdruck gekommen.

Wir befinden uns mächtigen Gegnern gegenüber, die uns von rechts und links bedrohen, die ohne Kriegserklärung über unsere Grenzen hereingebrochen sind und uns den Kampf zur Verteidigung unseres Vaterlandes aufgezwungen haben. Wir sind uns bewusst, dass der Krieg in den zu ziehen wir gezwungen sind, ein Kampf der Abwehr ist, gleichzeitig aber auch für Deutschland einen Kampf um die höchsten geistigen und materiellen Güter der Nation, einen Kampf auf Leben und Tod, einen Kampf um unsere Existenz bedeutet.

Der Augenblick, in dem der Reichstag sich anschickt, angesichts des Ausbruchs des Krieges die Gesetze zu votieren, die für den Krieg und für das wirtschaftliche Leben der Nation während des Krieges die sichere Grundlage zu bieten bestimmt sind, ist ein feierlicher und tief ernster, aber zu gleicher Zeit ein unendlich großer und erhebender.

Schwere Lasten müssen dem ganzen Volke auferlegt, schwere Opfer von jedem Einzelnen gefordert werden. Aber es gibt niemanden im ganzen deutschen Reiche, der nicht ein volles Verständnis für das hätte, was auf dem Spiele steht und freudig diese Lasten zu übernehmen und diese Opfer dem Vaterlande darzubringen bereit ist. 

Die Begeisterung, die wie ein Sturm durch das ganze Land braust, ist uns Zeuge davon, dass das gesamte deutsche Volk Gut und Blut zu Opfern gewillt ist für die Ehre des deutschen Namens.

Niemals hat das ganze Volk einmütiger zusammengestanden als heute. Auch diejenigen, die sonst sich grundsätzlich als Gegner des Krieges bekennen, eilen zu den Fahnen und ihre Vertreter im Reichstage bewilligen ungesäumt die für die Verteidigung des Reiches erforderlichen Mittel. Die Gesamtheit des deutschen Volkes steht somit fest und brüderlich ein für die Sühne des uns zugefügten Unrechts und für die Abwehr des uns aufgezwungenen Kampfes.

Wir wissen uns hierbei eins mit den verbündeten Regierungen. Wir alle, Regierungen  und Volk, haben nur den einen Gedanken: die Ehre, die Wohlfahrt, und die Größe des deutschen Reiches!

So zieht das Volk in Waffen im Bewusstsein seiner Stärke hinaus in den heiligen Kampf, alt und jung von der gleichen Begeisterung durchdrungen. Aus den Augen unserer Brüder und unserer Söhne blitzt der alte deutsche Kampfesmut.

Besonnen und mit eiserner Tatkraft, aber gerade deswegen siegesfroh und siegesgewiss, sehen wir die Leitung unseres Heeres und unserer Marine an ihrer großen Arbeit.

Alles aber, die Einmütigkeit der ganzen Nation, die Stärke des Volkes in Waffen, die Kaltblütigkeit der Heeres- und Marineleitung, verbürgt uns den Sieg in dem Kampfe, den wir im Bewusstsein der Gerechtigkeit unserer Sache führen, für die Verteidigung der Ehre und der Größe unseres Vaterlandes.

Quelle: Johannes Kaempf, Reichstagsrede, 4. August 1914. Aufnahmedatum: 22. Januar 1918. Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv

DRA