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Selbstverständlich ist das Religiöse im Christlich-Sozialen nur die eine Seite. Das Wirtschaftliche muß aber in Harmonie zu ihm stehen. Wie gelangen wir zu einer christlich-sozialen Wirtschaftsauffassung? […] Der erste Weg, den man uns empfiehlt, ist der, daß wir uns im allgemeinen auf einen konservativen Standpunkt stellen und von da aus in der Richtung der Sozialdemokratie einige Konzessionen machen, daß wir das „Berechtigte“ anerkennen sollen. Was aber das Berechtigte an der Sozialdemokratie ist, bleibt bei diesem Verfahren eine ganz unklare Sache. Wichtiger jedoch ist folgender Einwand: das konservative Programm enthält keinen einzigen Satz für Angestellte, Abhängige, Gehilfen, Lohnarbeiter und Tagelöhner. Es ist ein Programm für Herren. Mitten in der sozial bewegten Zeit wird auf dem großen Tage von Tivoli mit keiner Silbe an die bedrängte Masse gedacht. Eine Partei, die so wenig an Arbeitslose, Mühselige und Beladene denkt, darf für eine Volksarbeit im Geiste Jesu nicht der Ausgangspunkt bleiben. Daran kann auch der Umstand nichts ändern, daß bei den Konservativen im allgemeinen das meiste kirchliche Verständnis angetroffen wird. Nicht Kirchlichkeit ist es, wonach wir dürsten, sondern Brüderlichkeit. Und weil nun die Zeit, wo die Christlich-Sozialen Zweige am konservativen Baume waren, für uns unwiederbringlich vorüber zu sein scheint, so liegt es nahe, das Wirtschaftsprogramm aus freier Luft, das heißt aus gewissen allgemeinen sittlichen Obersätzen entwickeln zu wollen. Man nimmt die Begriffe „Brüderlichkeit“, „Gerechtigkeit“, „Wert der Einzelperson“, „Reich Gottes“, „Eigentum“, „Familie“, „Arbeit“, klärt sie, definiert sie und zieht aus ihnen schließlich ein möglichst greifbares Fazit. Diese Methode ist nicht ohne weiteres als wertlose Spekulation zu verwerfen. Eine derartige Gedankenarbeit ist nötig als Begleiterin unseres Fortschreitens. Die Wissenschaft der Ethik muß für die Christlich-Sozialen eine Fundgrube ihrer Ideen sein, aber man darf nicht in den Fehler einer unhistorischen Epoche verfallen und alles im Himmel und auf Erden durch Logik und Ethik konstruieren wollen. Wenn wir das täten, so würden wir das abstrakte System der Sozialdemokratie nur mit einem anderen ähnlichen Gedankengebäude vertauschen, und zwar wahrscheinlich, da der Ausgangspunkt idealistisch sein würde, mit einem Gedankengebäude, das noch weniger greifbaren Gehalt hätte, als die materialistische Konstruktion. Unsere Aufgabe ist es gerade, aus der sozialistischen Abstraktion hinaus, unter Anleitung der christlichen Ethik, auf den Boden der Wirklichkeit zu gelangen. In diesem Sinne sage ich im ersten Abschnitt: Wir müssen die wirtschaftlichen Gedanken genau an den Punkten weiterdenken, wo die Sozialdemokratie aufhört. Wir müssen von ihr die Fragestellung übernehmen: Was geschieht für die unterste Schicht des Volkes? Auf jedem Punkt müssen wir uns mit der Sozialdemokratie innerlich auseinandersetzen, um aus ihr herauszuwachsen, wie sie aus dem wirtschaftlichen Liberalismus herauswuchs. Schon in diesen Worten liegt, daß wir heute kein fertiges Programm haben können. Wenn wir es hätten, so wären wir nicht eine Richtung für die Zukunft, sondern im besten Falle nur eine für heute.
Ich habe öfter die Frage zu beantworten: Was sollen wir studieren, um in Ihrem Sinne arbeiten zu können? Wo diese Frage von jemand gestellt wird, der bereit ist, etliche Jahre seines Lebens an das Studium und sein ganzes Leben an das Resultat dieses Studiums zu wagen, da gebe ich im Grunde keine andere Antwort als „Marx und Christus“. Man hat mir das verdacht und gesagt, ich solle in erster Linie Roscher, Wagner, Brentano nennen. Wie wertvoll mir die bürgerliche Nationalökonomie ist, werde ich später auszusprechen Gelegenheit haben, aber an dieser Stelle möchte ich es als Erfahrungssatz hinstellen, daß man von der bürgerlichen Wirtschaftslehre aus nur schwer den prinzipiellen Standpunkt findet, der alles im Sinne Jesu, im Sinne der armen Brüder betrachtet. Diejenigen Fragesteller, die sich an mich wenden, sind ja keine Aspiranten für rein akademische Volkswirtschaftslehre, sondern es sind junge Männer, die praktische Christlich-Soziale werden wollen. Ein Christlich-Sozialer aber, der nicht Professor werden will, braucht nicht über alles Detail im reinen zu sein, er muß aber etwas von dem an sich erfahren haben, was die Leineweber und Maurer von uns an ihrem Geiste erlebten. Es ist auch, wie ich zugebe, der Weg nicht ganz ungefährlich. Es ist nicht ausgeschlossen, daß da und dort ein junger Freund von Marx so umsponnen wird, daß er Christum aus den Augen verliert. Aber wo etwas geleistet werden soll, ist immer Gefahr. Wer den jungen Leuten zuruft: Schließt eure Augen, wenn ihr Marx vorübergehen seht! der kann recht liebe Menschen erziehen, aber keine Männer, die hart genug sind für den Kampf, der uns bevorgeht. Wen wollen wir denn schließlich gewinnen? Doch gerade das Volk, das heute schon sozialdemokratisch ist oder es morgen wird. Wie aber sollen wir das können, wenn wir eben dieses Volk und seine Zeitungen, Broschüren, Versammlungen nicht an uns selbst erlebt haben? […]
Wir glauben, daß die „soziale Frage“, wenn sie sich weiter entwickelt, zunächst in zwei große Fragen zerfallen wird: die Kapitalfrage und die Organisationsfrage. In der Organisationsfrage hat auf dem Gebiete der Industriearbeiter die Sozialdemokratie Großes geleistet. Die Gewerkschaften und Fachvereine sind auch in unseren Augen wertvolle Bausteine der Zukunft. Auch scheint die organisierende Kraft der Sozialdemokratie keineswegs erschöpft zu sein. Wir trauen ihr zu, daß sie auch die Organisation der Handelsangestellten fertig bringen wird. Ob es die Sozialdemokratie sein wird, welche die Landleute organisiert, oder ob das zunächst von den Antisemiten geschehen wird, wissen wir nicht. Daß man auf die Formel des Antisemitismus hin nicht ganze Volksteile dauernd organisieren kann, ist wohl klar; aber immerhin läßt sich eine Mischung von konservativen, marxistischen und antisemitischen Gedanken denken, welche längere Zeit hindurch eine Volksgruppe beschäftigt, die bisher unter konservativen Fittichen geschlafen hat. Sicher ist, daß die Christlich Sozialen der Organisationsbewegung an sich die größte Aufmerksamkeit schenken müssen, mag sie geleitet sein, von wem sie wolle.
Während nun die Organisationsfrage Spezialisierung des Studiums und der Agitation fordert, bleibt ein Komplex von Problemen, der alle Volksteile gleichmäßig angeht und der darum in allen Einzelorganisationen möglichst gleichmäßig behandelt werden muß. Diesen Komplex von Problemen nennen wir die Kapitalfrage. Hier ist es, wo wir der Sozialdemokratie fatalistischen Optimismus vorwerfen. Der bürgerliche Liberalismus hatte bekanntlich den Grundsatz des laissez aller, laisser passer. Diesen Grundsatz erbte die Sozialdemokratie und formulierte ihn etwa so: je mehr man der Konzentration des Kapitals freien Spielraum läßt, desto schneller wirtschaftet das kapitalistische System ab, darum sind wir prinzipielle Freihändler und stören Rothschild und Genossen nicht bei ihrem Werke, das durch Gunst des Fatums (wir wissen nicht warum, aber es muß so sein) im Grunde unseren Wünschen dienen muß. In diesem Wachsenlassen des Kapitals liegt einesteils die Kraft und anderenteils die Schwäche der Sozialdemokratie; die Kraft: weil jeder große Optimismus Menschen heranzieht, weil diese Lehre eine Stimmung zu erzeugen imstande ist, die der Stimmung mancher religiösen Sekten ähnlich ist, welche alle Hoffnung auf einen großen Tag des Zorns und der Wonne setzen und sich mutig durch die Alltäglichkeit winden, da ja schon die Morgensterne des tausendjährigen Reiches am Himmel stehen; die Schwäche: weil eine solche Stimmung nicht länger als ein Menschenalter dauern kann. Die bürgerliche Welt ist nicht so gebrechlich, wie man es ihr nachsagt, die Expropriation der Expropriateure vollzieht, die Konzentration der Betriebe entwickelt sich nicht mit der schnellen Sicherheit eines mathematischen Prozesses, kurz, die Sozialdemokratie kommt, je länger desto mehr, in Schwierigkeiten, wenn sie an ihrer Auffassung der Kapitalfrage festhält. Diese Schwierigkeiten werden nun in doppelter Weise brennend. Zunächst sind es Gesetzesanträge von konservativ-antisemitischem Standpunkt aus, die dem Kapitalismus, wenn auch vorläufig in sehr schwächlicher Weise, zu Leibe gehen wollen. Der einfache Menschenverstand stimmt, nach dem Sprichwort, daß der Sperling in der Hand besser ist als die Taube auf dem Dache, für Wuchergesetz und Börsensteuer. Wenn die Sozialdemokratie treu bei ihrer Lehre bleibt, muß sie beide Arten von Gesetzen a limine verwerfen, sie muß alle diese „Palliativmittelchen“ stolz verachten […]
[…] Dazu kommt das zweite Moment, Arbeitslosigkeit und Kapitalkonzentration stehen in einem bestimmten Verwandtschaftsverhältnis. Die Zahl der Arbeitslosen wächst mit dem Großgelde, d. h. mit der Höhe der nicht konsumierten Jahreseinnahmen. Nun ist es ja möglich, daß auch die Arbeitslosigkeit als notwendige Schattenseite der korrekten Entwicklung der Dinge in das System eingeordnet wird, aber weniger möglich ist es für eine Partei, die den Elendesten dienen will, auf Jahrzehnte hinaus die Arbeitslosen mit dem System zu trösten. Die Hunderttausende der Arbeitslosen werden mit steigender Deutlichkeit gegenwärtigen praktischen Antikapitalismus verlangen, damit sie leben können. Wenn dieser Antikapitalismus sich nicht in Gestalt einer politischen Partei bietet, muß bei ihnen praktischer Anarchismus eintreten.
Ob die Sozialdemokratie als Partei so entwicklungsfähig ist, daß sie sich auf dem Boden dieses Antikapitalismus stellt, ist uns sehr zweifelhaft. Dazu ist sie zu stark durch ihre Vergangenheit gebunden. Hier aber liegt die Aufgabe der Christlich-Sozialen. Hier arbeitet mit uns die Stimme des Evangeliums. Was Jesus über den Mammon sagt, wird lebendig. Hier hilft vor allem die große Lehrmeisterin: die Not. Es handelt sich nur darum, de richtige Formel für die antimammonistische Stimmung zu finden. Sie scheint uns in folgendem Satz zu liegen: „Wir erkennen die Konzentration der Betriebe als notwendig an, verwerfen aber die Konzentration des Kapitals“. Dieser Satz ist, wie jeder kurze Ausspruch, der Mißdeutung fähig, man kann sagen: Kapital ist ja im Grunde nichts anderes als eben Felder, Häuser, Bergwerke, Fabriken; wie wollt ihr da den Betrieb konzentrieren und nicht zugleich das Kapital? Dieser Einwand ist aber nur so lange richtig, als man eben von vornherein Kapital und Produktionsmittel gleichstellt. Wir brauchen das Wort Kapital im Sinne des Rechtsanspruches auf einen Teil der Produktion, wir verstehen unter Kapital das papierne Abbild der wirklichen Dinge, die Hypotheken, Pfandbriefe, Aktien, Schuldscheine usw., kurz das Privileg, Zinsen irgendwelcher Art zu genießen. Kapitalkonzentration heißt soviel wie Rothschild, Bleichröder und Genossen. Da nun die Konzentration nur da, wo sie in den Händen großer Unternehmer liegt (Krupp, Stumm), zugleich Betriebskonzentration ist, aber überall da, wo sie durch Bodenrente (Hypothekenzins, Mietzins) entsteht, nicht mit Betriebskonzentration verbunden ist, so ist der Kampf gegen die private Ausnutzung der Bodenrente in unseren Augen der nächste und beste Weg für den praktischen Antikapitalismus der Christlich-Sozialen. Ohne von allgemeinen „Naturrechten“ auf Grund und Boden zu schwärmen, berühren wir uns hier mit den Vorschlägen der Bodenreformer. Was uns von den Konservativen und Antisemiten trennt, ist unser Eintreten für weitere Betriebskonzentration, was uns von den Sozialdemokraten und den bürgerlich Liberalen trennt, ist unsere Verwerfung der Kapitalkonzentration. […]
In den beiden Worten: Volksorganisation und Antikapitalismus liegt unendlicher Arbeitsstoff. Eine christlich-soziale Bewegung, wie wir sie im Sinne haben, wird nicht ins Blaue hinein konstruieren, aber auch nicht nur ein paar Forderungen aufstellen, die sich in zehn Jahren erledigen lassen. Das ist ganz verkehrt: man stellt etliche sanfte Forderungen auf, die den Beifall aller Verständigen oben und unten schon haben oder bald haben werden, und dann wundert man sich, wenn diese Selbstverständlichkeiten — wie ein wenig Arbeiterschutz und ein Tropfen Steuerreform — die Menschen nicht fesseln. Für kleine Ziele springt niemand ins Feuer. Die Hauptgefahr der Christlich-Sozialen ist: klein und eng und vorsichtig zu sein. Unsere Losung muß werden: praktisch und weit.
Quelle: Friedrich Naumann, Was heißt Christlich-Sozial? Gesammelte Aufsätze, Heft 1 und 2, Leipzig 1894 und 1896. Online verfügbar unter https://digital.slub-dresden.de/werkansicht/dlf/65174/3