Quelle
In dem deutschen Charakter liegt ein tiefer Zug von Humanität, ein hoher Idealismus; zugleich damit vielleicht auch die Neigung, praktische Rücksichten außer Ansatz zu lassen. Nur so erklärt es sich, daß man fortgesetzt die humanen Bestrebungen zur Besserung der Lage der arbeitenden Klasse, daß man fortgesetzt alle Bestrebungen zur Lösung der sogenannten sozialen Fragen, für die wir alle ein Interesse haben, verwechseln kann mit der deutschen Sozialdemokratie, mit dem internationalen Kommunistenbund; das sind doch durchaus grundverschiedene Dinge. Ist denn etwa diese Agitation in Deutschland hervorgegangen und angeregt worden von Leuten, die in mühevoller Arbeit für das Wohl des Volkes ihr Leben verbracht haben? Nein! Ich sage ganz offen, an der Wiege der deutschen Sozialdemokratie hat der unbefriedigte Ehrgeiz und der Haß der Demagogen gestanden. (Sehr richtig!) Von allen Ausführungen, die der Herr Vorredner gebracht hat, hat gewiß eine mich und meine Freunde auf das allerwärmste berührt; das ist nämlich die, daß schließlich die Überwindung der Sozialdemokratie nur auf dem Boden der Religion möglich sei. Ich möchte aber auch sagen, es ist dies fast die einzige sachliche Ausführung gewesen, der ich mich anschließen kann. Ich bin wie er überzeugt, daß nur die religiöse Auffassung von Beruf und Arbeit, nur die christliche Humanität die Sozialdemokratie innerlich überwinden kann; aber daraus die Folgerung zu ziehen, daß ein Präventivgesetz, wie wir es wollen, unwirksam und unmöglich sei, ist meines Erachtens nicht richtig. Alle erziehenden Mittel können nur wirken, wenn die verwildernde Agitation vorher beseitigt ist, und das ist der Endzweck und die ganz präzis gestellte Aufgabe dieses Gesetzes. Freilich, meine Herren, müssen wir uns sagen, zur Beseitigung dieser Verwilderung gehören noch verschiedene Forderungen auf anderem Gebiete; da liegen noch große Aufgaben vor uns: ich erinnere nur an die Fragen der Sittenpolizei, an das Schankwesen, an die Skandaltheater, jene Schmutzpresse, die wirklich den Geist unseres Volkes vergiften; das sind Dinge, die gleichzeitig mit angegriffen werden müssen. (Hört!) Wir dürfen ferner nicht außer acht lassen, daß der Klassenhaß, auf den die Sozialdemokratie wesentlich ihre Hoffnung baut, daß die ganze feindliche Stellung der Gesellschaftsklassen, die sich innerhalb der Nation entwickelt hat, auch ihren materiellen Hintergrund und materielle Ursachen hat. Wer kann es leugnen, daß ein gewisses einseitiges Bestreben seit langen Zeiten die Geister beherrscht hat, eine einseitige Begünstigung der Individualisierung auf geistigem wie auf materiellem Gebiet? Wir dürfen uns nicht wundern, daß jetzt die Zeit gekommen ist, wo, im Gegensatz zu jener Einseitigkeit der Bestrebungen, die Notwendigkeit hervortritt, das Interesse der Gesamtheit in gerechtem Maße wieder geltend zu machen. Im tiefsten innern Zusammenhang mit der ganzen Frage steht unsere Steuer- und Handelspolitik. Die Unzufriedenheit werden Sie nur tilgen, wenn Sie wieder gesunde wirtschaftliche Zustände herbeigeführt haben. (Bravo! rechts.) Und mehr noch als das, meine Herren, wir müssen vor allem das Gebiet kultivieren, was ich das Gebiet der Sozialpolitik nennen möchte. Sie haben bei den Debatten der Gewerbeordnung es gehört, es ist wiederholt ausgesprochen worden: die große Aufgabe der Zeit ist wieder die vernünftige Organisation der Arbeit, die Organisation der Arbeit für die zwei Drittel unserer deutschen Gewerbetreibenden, die dem Kleinbetrieb angehören, in denen wesentlich die Masse der Gewerbetreibenden erzogen wird.
Quelle: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstags, 4. Legislaturperiode, 4. Sitzung (16. September 1878), Bd. 1. Berlin, 1878, S. 36–37. Online verfügbar unter: https://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt3_k4_bsb00018398_00057.html. Abgedruckt in Hans Fenske, Im Bismarckschen Reich 1871–1890. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1978, S. 200–2.