Kurzbeschreibung

Dem explosionsartigen Wachstum der Städte entsprach eine rasante Entvölkerung der ländlichen Gebiete. Der Wunsch nach einem höheren Lebensstandard führte dazu, dass viele Menschen das harte und oft prekäre Leben eines Bauern hinter sich ließen. Der Autor dieses Textes mahnt eine Verbesserung der ländlichen Lebensbedingungen an, um die Verelendung des agrarischen Sektors zu verhindern. Nicht nur in den Städten, sondern auch auf dem Land gab es Reformbewegungen, die den Lebensalltag der Durchschnittsbevölkerung verbessern wollten.

Landflucht (1900)

  • Adolf Damaschke

Quelle

Auch in der Stadt ist keine soziale Reform von Dauer möglich, wenn nicht in der Landwirtschaft gesunde Verhältnisse herrschen. Nach dem auch in der Volkswirtschaft geltenden Gesetze vom niederen Druck strömen die frei beweglichen Menschenmassen stets dorthin, wo sie die günstigsten Lebensbedingungen zu finden hoffen.

Jede einseitige Verbesserung der Lebenshaltung in der städtischen Bevölkerung müßte deshalb eine noch stärkere Abwanderung der Landbevölkerung in die Städte herbeiführen. Das aber würde für die Masse ihrer Bewohner nichts anderes bedeuten, als eine erhöhte Nachfrage nach Wohnungen, d. h. Verteuerung des Bodens und Mietssteigerungen, die Entstehung oder Vergrößerung der „industriellen Reservearmee“, die jeden dauernden Aufstieg in der Lebenshaltung der großen Masse unserer Bevölkerung erschwert, wenn nicht unmöglich macht.

Der vielfach behauptete Interessengegensatz zwischen Stadt und Land ist ungerechtfertigt. Das alte Bibelwort: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“, kann in die moderne Volkswirtschaft übersetzt werden: „Du sollst deines Nächsten Stand lieben, wie du deinen eigenen Stand liebst.“ Nur wenn es allen erwerbenden Ständen gut geht, kann dauernde Besserung auch in dem eigenen erzielt und aufrecht erhalten werden. Nur wenn es unserer ländlichen Bevölkerung so gut geht, daß eine übermäßige Abwanderung in die Industrieorte nicht erfolgt, ist auch eine hohe Lebenshaltung der städtischen Bevölkerung und damit ein hochstehendes Wirtschaftsleben des ganzen Volkes möglich.

Dazu kommt die ganz besondere nationale Bedeutung einer gesunden Landbevölkerung. Sie ist der Jungbrunnen des Volkes. Noch heute leben in Deutschland rund 26 Millionen Menschen auf dem Lande, und daß hier Kraft und Zucht in höherem Maße vertreten sind als in dem lauten, aufreibenden Getriebe unserer Industrieorte, ist trotz vereinzelter Versuche niemals ernstlich bestritten worden.

Während in weiten Gebieten der Industrie die Schichten der wirtschaftlich Selbständigen abnehmen und sich immer mehr Riesenbetriebe in wenigen Händen vereinen, zeigt sich in der Landwirtschaft der Mittel- und Kleinbetrieb dem Großbetrieb nicht nur ebenbürtig, sondern in mancher Beziehung sogar überlegen. Die Entwicklungstendenzen in der Industrie finden also in denen der Landwirtschaft ein Gegengewicht, das vom nationalen und sozialen Standpunkt gleich bedeutsam erscheint, da es unserem Volke eine starke wirtschaftlich selbständige Mittelschicht sichert.

Und noch ein Gesichtspunkt sei hervorgehoben. Jedes Volk hat nur einen Bauernstand. Man kann aus Landarbeitern Fabrikarbeiter machen. Aber man kann nur sehr schwer aus Fabrikarbeitern eine neue Landbevölkerung schaffen. Es ist ein verhängnisvoller Irrtum, der aus dem Worte spricht, das mir ein bekannter liberaler Parlamentarier einmal sagte: „Lassen Sie uns nur erst diese Landbevölkerung, die sich mit den Junkern verbündet, niederzwingen; dann setzen wir natürlich neues agrarisches Volk an.“

In Italien war nach dem Untergange der beiden letzten großen Bodenreformer Roms, der beiden Gracchen[1], dem italischen [sic] Bauernstande das Todesurteil gesprochen. Bis jetzt, d. h. im Laufe von mehr als 2000 Jahren, ist es nicht möglich gewesen, einen neuen freien Bauernstand in Italien heranzubilden, und das gesamte volkswirtschaftliche Leben des von der Natur so reich gesegneten Landes leidet aufs schwerste unter diesem Mangel.

Wie will nun die deutsche Bodenreform-Bewegung in der Landwirtschaft gesunde Zustände herbeiführen und sichern? Ihr Programm fordert, daß „der deutsche Boden unter ein Recht gestellt werde, daß seinen Gebrauch als Werk- und Wohnstätte fördert und jeden Mißbrauch mit ihm ausschließt. []

Anmerkungen

[1] Die Volkstribunen Tiberius Sempronius Gracchus (162-163 v. Chr.) und Gajus Sempronius Gracchus (153-121 v. Chr.) versuchten, dem Rückgang des römischen Bauerntums dadurch zu begegnen, daß staatlicher Grundbesitz, der sich jedoch meistens in den Händen des Adels befand, neu verteilt wurde. Die großzügig angelegten Versuche scheiterten aber an der Vormachtstellung der aristokratischen Schichten im Staate. [Information aus: Ernst Schraepler, Hg., Quellen zur Geschichte der sozialen Frage in Deutschland. 1871 bis zur Gegenwart, dritte verbesserte Auflage. Göttingen und Zürich: Muster-Schmidt, 1996, S. 99.]

Quelle: Adolf Damaschke, Die Bodenreform. Grundsätzliches und Geschichtliches zur Erkenntnis und Überwindung der sozialen Not. Jena, 1900. Auszug aus dem III. Teil, „Bodenreform und Agrarproblem“; abgedruckt in Ernst Schraepler, Hrsg., Quellen zur Geschichte der sozialen Frage in Deutschland. 1871 bis zur Gegenwart, 3. neuerarbeitete und erweiterte Auflage. Göttingen, 1996, S. 97–99.

Landflucht (1900), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/das-wilhelminische-kaiserreich-und-der-erste-weltkrieg-1890-1918/ghdi:document-647> [26.09.2025].