Quelle
Die Entwicklung unserer kulturellen und sozialen Zustände hatte den Arbeiter in dem Lande des gleichen Wahlrechts, der Schul- und Militärpflicht dahin geführt, daß er nicht mehr der nur Geleitete und Gehorchende sein wollte, daß er bei der Gestaltung der Arbeitsbedingungen, die für ihn die Gestaltung der Lebensbedingungen bedeutet, mitreden wollte, daß er die Gleichberechtigung in Anspruch nahm, von welcher der Kaiserliche Erlaß vom 4. Februar 1890 redet. Wer kann auch nur mit einem Schein von Gerechtigkeit dieses Streben mißbilligen? Mit welchem Recht will man dem Arbeiter verweigern, was man allen anderen Klassen von Staatsbürgern gestattet, sich zu vereinigen, um den Preis ihrer Ware, hier der Ware „Arbeit“, zu halten oder zu heben, um die Arbeitsbedingungen und damit ihre Lebenslage zu verbessern? Dasselbe zu tun, was die Unternehmer in ungezählten Kartellen und Trusts, in Zentralverbänden und Vereinigungen aller Art ungehindert tun? Wer hat davon gehört, daß man diesen und besitzenden Klassen Schwierigkeiten bereitet, hergeleitet aus dem politischen Vereinsgesetz, weil sie, die gegründet sind zur Wahrung ihrer Berufsinteressen, die Gesetzgebung des Staats für ihre Zwecke in Anspruch nehmen?
Und doch geschieht das den Arbeitervereinen, den Gewerkschaften gegenüber fortgesetzt in Deutschland […]; fortgesetzt wird in den Arbeitern durch Urteile der Gerichte und Handlungen der Verwaltungsbehörden das bittere Gefühl erzeugt, daß die ihnen gebührende und ausdrücklich zugesagte Gleichberechtigung nicht gewahrt wird, daß sie mit anderem Maße gemessen werden als die anderen deutschen Staatsbürger.
Auf die Frage, mit welchem Recht denn man diese unterschiedliche Behandlung macht, ist noch nie eine rechtfertigende Antwort erteilt worden, noch nie hat man behauptet, daß sie in den bestehenden Gesetzen eine Begründung finde, noch nie hat man bestritten, daß durch die Handhabung des politischen Vereinsrechts den Arbeiter- und Berufsvereinen Hindernisse bereitet und Fesseln angelegt werden, von denen die Vereine anderer Berufsklassen verschont werden. Man kann das nicht bestreiten, ja vielfach will man das gar nicht bestreiten und man bringt auch einen Grund für diese offensichtliche Ungerechtigkeit vor, den Grund nämlich: daß, da die Gewerkschaften vorwiegend oder ausschließlich aus sozialdemokratischen Mitgliedern beständen, da sie tatsächlich Organisationen der politischen Sozialdemokratie seien, wenn auch ihre Statuten lediglich die Verfolgung von Berufsinteressen bezwecken, durch die ungestörte Entfaltung der Vereinstätigkeit der Gewerkschaften nur eine Stärkung der Sozialdemokratie erreicht werden würde. […]
Und nun frage ich: gibt es wohl ein besseres Mittel, denen das Geschäft zu erleichtern, die den Lohnarbeitern wieder und wieder predigen, daß sie bei der bürgerlichen Gesellschaft, den Regierungen, keine Hilfe, keine Gerechtigkeit fänden, daß sie alle miteinander die eine reaktionäre Masse bildeten, die trachte, sich auf Kosten der Arbeiter zu bereichern, — als wenn man den Arbeitern den Weg der Selbsthilfe verschränkt, den einzigen Weg, auf dem sie zu einer dem Unternehmertum gleichberechtigten Stellung in dem wirtschaftlichen Kampf um die Arbeitsbedingungen gelangen können? Als wenn man auf die Koalitionen und die Arbeiterberufsvereine eine Gesetzgebung anwendet, die bei den Betroffenen notwendigerweise das Gefühl ungerechter Behandlung wachrufen muß? Ich kenne kein wirksameres Mittel, die Sozialdemokratie zu stärken, als dies Verfahren, es sei denn das der Anwendung von polizeilicher, gewaltsamer Unterdrückung. Wer heute noch nicht begriffen hat, daß für absehbare Zeit mit der Sozialdemokratie als der Vertreterin des größten Teils der industriellen Arbeiterschaft gerechnet werden muß, wer heute noch sich einbildet, die Herrschaft der Sozialdemokratie über die Arbeiterschaft brechen zu können durch Gewalt oder durch kleinliche polizeiliche Mittel, der ist nicht nur mit Blindheit geschlagen, sondern, wenn er Einfluß auf die Leitung der Politik im Staatsleben hat, auch in hohem Grade gefährlich, weil er auf Grund einer falschen Diagnose zu falschen Mitteln greifen wird.
Nicht die Sozialdemokratie zu beseitigen, kann die Aufgabe umsichtiger Politiker sein, weil sie hieran umsonst arbeiten würden, sondern die Hindernisse zu beseitigen, die der Umwandlung der Sozialdemokratie, wie sie jetzt ist, in eine Arbeiterpartei entgegenstehen, die ohne Klassenhaß und ohne Vernichtungskrieg gegen das Bestehende, im Wege der Reform und der Entwicklung den Arbeitern den Platz an der Sonne zu erkämpfen sucht, auf den sie Anspruch haben wie jeder andere Staatsbürger. Und eins der schwerwiegendsten Hindernisse dieser Umwandlung ist die Versagung der Gleichberechtigung in dem wirtschaftlichen Kampfe um die Arbeitsbedingungen, und darum ist eine Sozialreform, welche nicht die „Förderung der Bestrebungen der Arbeiter, in Berufsvereinen und Gewerkschaften ihre Lage zu verbessern“, nicht die Gleichberechtigung der Arbeiter im Sinne der Kabinettsordre vom 4. Februar 1890, nicht die Befreiung der Koalitionsrechte und des Rechts der Arbeiterbauvereine von den Fesseln des politischen Vereinsrechts umfaßt, überhaupt keine Sozialreform.
Ich weiß es wohl, daß gegen die Arbeiterorganisationen mancherlei schwere Vorwürfe erhoben werden. Man beschuldigt sie des Terrorismus gegen nicht sozialdemokratisch gesinnte Arbeiter, des Mißbrauchs der Macht […], hier wie überall halte ich die Anwendung von Gewalt gegen die Schwächeren, den dauernd oder nur zeitweise Schwächeren, zum Zweck der Erreichung von materiellen Vorteilen für eine der widerwärtigsten Erscheinungen im sozialen Leben. Aber, machen sich denn nur die Arbeitervereine in dieser Beziehung schuldig? Weiß man nicht, mit welchen Mitteln z. B. der Petroleumring unbequeme Konkurrenten aus dem Wege geräumt hat, wie er bis zum kleinsten Detaillisten hinab sich die Händler aller Weltteile untertänig gemacht hat? Soll man nicht, gegenüber den Klagen über Streik und Terrorismus, sich erinnern an Aussperrungen und schwarze Listen? — an die nicht seltene Weigerung der Unternehmer, zum Austrag oder zur Verhütung von Streitigkeiten das Gewerbegericht anzurufen? […]
Die Arbeiterschaft ist in ihrer Gesamtheit unzufrieden mit dieser Lage, sie strebt, sie zu verbessern durch Einflußnahme auf die Gestaltung der Arbeitsbedingungen und durch die Forderung staatlichen Eingreifens. Weil ihrer Meinung nach ihr die beanspruchte Hilfe in der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung nicht nur nicht gewährt wird, sondern auch der verlangten Gleichberechtigung im wirtschaftlichen Kampfe Hindernisse bereitet werden, so stellt sich ein großer Teil der Lohnarbeiter dieser Ordnung und ihren Trägern feindlich gegenüber. Er sondert sich ab als Klasse von allen anderen sozialen Gruppen im Staat und führt den Klassenkampf in der Behauptung, daß eine Besserung seiner Lage nur durch die Arbeiterschaft selbst und nur durch sie allein herbeigeführt werden könne. Zwischen diesem Teil der Lohnarbeiterschaft und den übrigen Bevölkerungsteilen unseres Vaterlandes ist eine tiefe Kluft entstanden, die ein gegenseitiges Verstehen fast unmöglich macht, und erst im letzten Jahrzehnt sind hin und wieder einige Brücken geschlagen worden, auf denen eine Wiederannäherung möglich wird. Kein Zweifel, der innere Friede in unserem Vaterlande ist auf das ernsteste erschüttert und gefährdet.
Wir, die wir uns in der Gesellschaft für Soziale Reform zusammengefunden haben, stellen uns demgegenüber die doppelte Aufgabe:
Erstens auf eine Besserung der ungenügenden Lage der Lohnarbeiter in überlegter, aber konsequenter und energischer Weise hinzuwirken, das Elend aus den Kreisen der Arbeiterschaft zu verbannen, in fortschreitender Progression die Zahl derer zu vermehren, deren Leben nicht nur durch den Kampf um die Existenz ausgefüllt wird, und so
Zweitens durch Beseitigung der Ursachen der Unzufriedenheit diese selbst zu beseitigen, der Arbeiterschaft die Überzeugung zu geben, daß sie in dem Ringen um eine bessere Existenz nicht allein steht wider alle anderen sozialen Klassen, kurz dem Vaterlande den inneren Frieden wieder zu bringen.
Wir lehnen alle Mittel der Gewalt und des Zwanges gegenüber der Arbeiterbewegung, soweit sie nicht gegen das bestehende Strafgesetz verstößt, ab und wollen sie unter das gemeine Recht gestellt wissen in der Überzeugung, die durch die Erfahrung, die wir in Deutschland selbst mit dem sogenannten Sozialistengesetz gemacht haben, gestützt wird, daß man mit Zwang und Gewalt wohl vorübergehende Erfolge erreichen, wohl äußere Symptome treffen, niemals aber Gesinnungen ändern kann. […]
Quelle: Hans Hermann Freiherr von Berlepsch, „Warum betreiben wir die soziale Reform?“ Schriften der Gesellschaft für Soziale Reform 11 (1903); abgedruckt in Ernst Schraepler, Hrsg., Quellen zur Geschichte der sozialen Frage in Deutschland. 1871 bis zur Gegenwart, dritte verbesserte Auflage. Göttingen, 1996, S. 54–57.