Kurzbeschreibung

Alfred von Tirpitz (1849–1930) blickt in seinen Memoiren auf das Flottenwettrüsten bis zum Ersten Weltkrieg zurück. Er schrieb die Verantwortung für die Eskalation des Konflikts zwischen den beiden Industriemächten sowohl der deutschen Diplomatie als auch den feindseligen Absichten Großbritanniens zu. Für Tirpitz stellte die Marokko-Krise von 1911 die einzige wirklich brenzlige Situation in den deutsch-englischen Beziehungen dar.

England und die deutsche Flotte: Alfred von Tirpitz blickt zurück auf das Flottenwettrüsten (1920)

  • Alfred von Tirpitz

Quelle

1.

In den ersten Jahren der Einkreisungspolitik nahm England den deutschen Flottenbau noch nicht ernst. Man war überzeugt, daß mit den geringen ausgeworfenen Summen keine erstklassige Flotte gebaut werden könnte. Man hielt unsere Technik für zu unentwickelt, unseren Mangel an organisatorischer Erfahrung für zu groß und war daran gewöhnt, daß schon zahlreiche preußische und deutsche Flottenpläne ein Stück Papier geblieben waren. Mit anderen Augen wurde unser Flottenprogramm zuerst angesehen im Jahr 1904. Damals führte man, mir unerwünscht, Eduard VII. alles, was wir an Schiffen überhaupt besaßen, bei der Kieler Woche vor, und der Kaiser feierte in seinem Trinkspruch „die wiedererstarkende Seegeltung des neugeschaffenen Deutschen Reiches“. König Eduard antwortete kühl und wechselte bei der Besichtigung unserer Schiffe mit dem Ersten Lord der Admiralität Selborne bedeutungsvolle Blicke und Worte, die mir unangenehm auffielen. Es wurde den Engländern unheimlich, daß wir mit geringen Mitteln so viel schufen und eine organische Entwicklung innehielten, deren Planmäßigkeit ihre eigene übertraf. Das geduldige „Stein-auf-Stein-Tragen“ der deutschen Arbeitsweise trat ihnen auch hier als gefährlich entgegen.

Die gegen uns gerichtete Konzentrierung britischer Geschwader, die Lord Fisher darauf folgen ließ, wurde im Februar 1905 unterstrichen durch eine Rede des Zivillords der Admiralität Lee, der ohne jeden greifbaren Anlaß erklärte, die britische Flotte würde gegebenenfalls den ersten Schlag zu führen wissen, noch ehe man auf der anderen Seite der Nordsee Zeit gehabt hätte, die Kriegserklärung in der Zeitung zu lesen. Das Verhalten Englands 1904/05 bewies, daß England damals starke Neigung hatte, mit einem kriegerischen Schlag der ganzen Weltstellung Deutschlands den Garaus zu machen. Die damalige Geneigtheit zum Kriege wird dadurch begreiflich, daß derselbe für England noch gar kein Risiko in sich schloß. Unser in den Anfängen stehendes Flottenunternehmen aber hoffte die Admiralität dadurch zu entwerten, daß sie 1905 zum Bau der Dreadnoughtklasse überging, in der Annahme, daß die deutsche Marine ähnliche Riesenschiffe nicht durch den Nordostseekanal würde schleusen können.

Diese Kette politischer und maritimer Drohungen, denen eine wilde Aufhetzung der öffentlichen Meinung zur Seite ging, erzeugte in weiten Kreisen Deutschlands berechtigtes Befremden. Einerseits lag in den maritimen Maßnahmen Englands zwar die Anerkennung, daß unser Flottenbau ernst genommen würde. Auf der anderen Seite aber war das nun schon fast ein Jahrzehnt währende Verlangen nach unserer politischen Niederbeugung bekannt und der damalige Stand unserer Flotte zu klein, als daß er Maßnahmen, wie die Ansammlung britischer Geschwader in der Nordsee, erklären konnte. Es lag vielmehr klar die Absicht zugrunde, uns bange zu machen und, wenn möglich, unsern Trieb zu weltpolitischer Selbständigkeit im Keim zu ersticken.

Ich wurde infolgedessen in den Jahren 1905/06 von den verschiedensten Seiten bestürmt, eine starke Erhöhung der deutschen Flottenmacht durchzuführen, um uns gegen die britische Kriegsdrohung besser zu rüsten und den Engländern damit politisch eine Lehre zu erteilen. Auch der Kaiser stand stark unter dem Eindruck eines dahinzielenden Werbefeldzuges des Flottenvereins und wünschte von mir, ich sollte im Reichstag fordern, daß das Lebensalter unserer großen Schiffe herabgesetzt würde. Dieses Lebensalter war, und zwar nur infolge eines parlamentarischen Mißverständnisses, im Flottengesetz mit 25 Jahren höher angenommen als bei den fremden Marinen und führte zu einer beträchtlichen Überalterung unserer Schiffe.

Trotzdem habe ich mich der Einbringung einer solchen Novelle zu diesem Zeitpunkt aus verschiedenen Gründen widersetzt und Anfang 1906 in diesem Zusammenhang auch ein Abschiedsgesuch eingereicht. Die Novelle, die ich 1906 einbrachte und die vom Reichstag glatt angenommen wurde, enthielt nur die sechs großen Kreuzer, die 1900 vom Reichstag gestrichen, aber sofort von mir als Nachforderung für 1906 angekündigt worden waren. Ferner konnte ich nicht umhin, vom Reichstag die erhöhten Mittel zu fordern, welche der Übergang zum Dreadnoughtbau verursachte, zu dem uns, wie alle anderen Marinen der Welt, die Engländer zwangen. Und endlich mußten die Mittel für die durch diese Größensteigerung der Schiffe notwendig gewordene Erweiterung des Nordostseekanals bewilligt werden.

Meine Zurückhaltung gegenüber dem auf mich ausgeübten Druck, mehr zu fordern, wirkte außenpolitisch beruhigend und verstärkte das Vertrauen des Reichstags. Jene Mehrforderungen hätten 1904/05 nach Lage der Verhältnisse sehr wahrscheinlich eine unmittelbare Kriegsgefahr heraufbeschworen, uns dagegen keinen sofortigen Gewinn gebracht und obendrein die damalige Verdauungskraft der Marine überstiegen.

Der Zeitpunkt, an welchem wir aus mancherlei Gründen die Herabsetzung der Lebensdauer der Schiffe fordern mußten, war das Etatsjahr 1908. Nachdem sich im Sommer 1907, schon bevor wir uns im Reichsmarineamt über die Novelle schlüssig geworden, ein wahrer Wettlauf zwischen den Parteien des Zentrums und des Freisinns für die Bewilligung einer Marinenovelle erhoben hatte, ging unsere Forderung ohne jede Schwierigkeit über die Bahn. Zum erstenmal stimmte der Freisinn jetzt nicht nur für die Schiffe als solche, sondern auch für den Grundsatz der gesetzlichen Bindung.

Diese Novelle brachte keine Vermehrung der nach dem Flottengesetz verfügbaren Schiffszahl, aber eine erhebliche Verjüngung und damit Erhöhung der Kampfkraft. Der Schiffsersatz beschleunigte auch den Dreadnoughtbau, der das Vertrauen zu den älteren Schiffsklassen erschüttert hatte.

2.

Die einzige wirkliche Krisis der deutsch-englischen Beziehungen zwischen 1904 und 1914 trat im Sommer 1911 ein infolge der Art, wie die politische Reichsleitung versuchte, den zwischen uns und den Franzosen schwebenden Marokkostreit zu liquidieren. Der damalige Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, v. Kiderlen-Wächter, dem, wie so vielen deutschen Diplomaten, das Organ gerade für England abging, hat zwar nicht durch Nachlaufen, aber durch saloppe Geschäftsbehandlung Schaden gestiftet. Auf seine Anregung entsandte am 1. Juli 1911 der Reichskanzler das Kanonenboot „Panther“ nach der marokkanischen Hafenstadt Agadir und ließ die britische Regierung, welche nach dem Zweck fragte, mehrere Wochen lang ohne Antwort und im unklaren. Die Folge war, daß am 21. Juli Lloyd George eine im englischen Kabinett festgelegte Rede ablas, worin er Deutschland warnte, es würde im Fall einer Herausforderung die britische Macht an Frankreichs Seite finden.

Ich hatte von der Entsendung des „Panther“ im Augenblick der Abreise in die Sommerfrische außerdienstlich Kenntnis erlangt. War es schon Anzeichen einer gewissen Desorganisation der Reichsleitung, daß der Staatssekretär der Marine vor einer weltpolitisch so schwerwiegenden Schiffsbewegung nicht gehört wurde, so war ich mir andererseits der Fehlerhaftigkeit dieser Demonstration auf dem Atlantik von demselben Augenblick an bewußt, in dem ich erfuhr, daß wir England nicht vorher verständigt hätten. Glaubte Kiderlen, nicht ohne eine militärische Geste auskommen zu können, so mußte diese zu Land und ausschließlich gegen die Franzosen gerichtet erfolgen. Ich wäre zwar grundsätzlich gegen eine solche Geste gewesen. Ein Fähnlein ist leicht an die Stange gebunden, aber es kostet oft viel, es mit Ehren wieder niederzuholen. Einen Krieg wollten wir ja nicht machen. Die gröbste Fehlrechnung aber beging die Reichsleitung darin, daß sie sich in den ersten Juliwochen über ihre Absichten in Dunkel hüllte. Kiderlen hat nachträglich versichert, daß der Kanzler niemals daran gedacht habe, marokkanisches Gebiet zu fordern. Nach Lloyd Georges Drohrede aber sah es so aus, als ob er nur vor dem erhobenen Schwert Englands zurückgewichen wäre. Unser Ansehen erlitt in der ganzen Welt einen Stoß, und auch die deutsche öffentliche Meinung stand unter dem Eindruck der Schlappe. „England stopped Germany“, war das Schlagwort der Weltpresse.

Es war seit Übernahme der politischen Leitung durch Bismarck die erste schwere diplomatische Niederlage, die uns um so härter traf, als das tönerne Gebilde unserer damaligen Weltstellung noch nicht sowohl auf Macht, als großenteils auf Prestige ruhte. Bei Delcassés Entfernung (1905) hatte es sich noch als wirksam erwiesen; jetzt aber empfingen wir den Beweis, wieviel davon schon verbraucht war. Wenn wir die Ohrfeige einfach einsteckten, steigerten wir die Kriegsfreudigkeit Frankreichs, seinen „neuen Geist“, bedenklich und setzten uns bei der nächsten Gelegenheit einer noch tieferen Demütigung aus. Es war also nicht richtig, die erlittene Abfuhr zu verschleiern, wie die Reichsleitung wünschte, sondern sie offen anzuerkennen und unsere Folgerungen daraus zu ziehen. Für einen Staat, der sich bewußt ist, daß die Wohlfahrt seiner Bürger nicht auf Beschönigungen, sondern auf Macht und Prestige beruht, gibt es in solchen Lagen, wenn er den Krieg vermeiden will, nur ein Mittel, sein Ansehen wiederherzustellen: das ist, zu zeigen, daß er sich nicht fürchtet, und zugleich für die nähergerückte Möglichkeit des Ernstfalles den Schutz vor einer Niederlage zu verstärken. Wir mußten das tun, was Bismarck in ähnlichen Fällen getan hatte, nämlich in aller Ruhe und ohne aufreizendes Beiwerk eine Wehrvorlage einbringen.

Mit diesen Gedanken fuhr ich im Herbst nach Berlin und stellte dem Kanzler vor, daß wir einen diplomatischen Echec erlitten hätten und ihn durch eine Flottennovelle heilen müßten. Der Kanzler bestritt den Echec, über welchen Ausdruck er sich zum Marinekabinettschef sehr gekränkt aussprach, und fürchtete von einer Novelle den Krieg mit England.

Die von mir erwogene Novelle ging nicht auf eine eigentliche Vermehrung unserer Flotte aus, sondern auf die Erhöhung ihrer Kriegsbereitschaft. Ein wunder Punkt unserer Wehrkraft zur See lag in dem allherbstlichen Rekrutenwechsel, der bei unserer kurzen Dienstpflicht die Schlagfertigkeit der Flotte für eine bestimmte Jahresperiode lähmte. Den Weg, um ohne wesentliche Vermehrung der Schiffszahl die Kriegsbereitschaft zu erhöhen, fanden wir in der Aktivierung eines Reservegeschwaders, so daß wir künftig über drei statt zwei stets in Dienst gehaltene Geschwader verfügten.

Durch die hierdurch gewonnene Möglichkeit, die Mannschaften während ihrer Dienstzeit nahezu geschlossen auf demselben Schiff zu belassen, vereinfachten wir nebenbei den mächtig überanstrengten Betrieb der bloßen Bordausbildung und machten das Offizierkorps freier für die zurückgedrängten höheren Aufgaben und für die große Seefahrt. Eine stärkere Schonung der Personalkräfte, die sich vorzeitig in einseitigem Dienst aufrieben, erwies sich insbesondere nötig, um den in höhere Stellen aufrückenden Männern die erforderliche Frische zu bewahren. Diese organisatorische Reform machte baupolitisch ein Mehr von nur drei großen Schiffen binnen zwanzig Jahren notwendig und erzielte mit einer verschwindenden Geldsumme eine Qualitätsverbesserung der Marine.

Kein Kenner der britischen Politik konnte glauben, daß England durch ein Mehr von drei Schiffen in zwanzig Jahren zum Krieg gereizt werden könnte, wenn es nicht ohnehin dazu entschlossen war. Auch unser Botschafter Graf Metternich sah hierin selbstverständlich keine Kriegsgefahr. Trotzdem ist nach langen Verhandlungen mit dem ewig schwankenden Kanzler, in die der Berliner Besuch des englischen Kriegsministers Haldane hereinspielte, aus dem Wunsche der Reichsleitung heraus, der britischen Regierung Entgegenkommen zu zeigen, die Forderung der Novelle von drei auf zwei Schiffe herabgesetzt worden.

Es war nach menschlichem Ermessen die letzte, zugleich die einzige, und zwar höchst unbeträchtliche Erweiterung des Schiffsbestands gegenüber dem Flottenplan von 1900. Denn, wie ich schon bemerkte, hatten wir 1906 nur die Vorlage von 1900 wiederhergestellt und 1908 überhaupt die Schiffszahl nicht vermehrt.

3.

Manche meinen, das Deutsche Reich hätte zu unserer Zeit ein aufrichtiges Freundschaftsverhältnis mit England erlangen können, und nur Versäumnis der deutschen Staatskunst, insbesondere aber unser Flottenbau, habe die Aussicht verscherzt. Sollte sich dieses Bild in deutschen Köpfen festsetzen, so könnte man darin zunächst die Regel bestätigt finden, daß der Sieger die Geschichte schreibt; und der Besiegte würde sie in diesem Falle fälschen, um der angelsächsischen Weltherrschaft in seinem historischen Gewissen huldigen zu können.

Nun bestreiten aber die Engländer, den Krieg gegen uns gewollt zu haben. Wer also in Deutschland den Flottenbau für den Krieg verantwortlich macht, kann für diese Schuld nicht einmal den Gegner ins Feld führen. Die Selbstbezichtigung folgt einer falschen Spur: die geschichtliche Wahrheit liegt vielmehr in einer der letzten Kundgebungen Bismarcks aus dem Jahre 1898, zu einer Zeit, da wir noch keine Flotte besaßen: „Er bedauere, daß die Beziehungen zwischen Deutschland und England nicht besser seien, als sie eben sind. Bedauerlicherweise wisse er kein Mittel dagegen, da das einzige ihm bekannte, das darin besteht, daß wir unserer deutschen Industrie einen Zaum anlegen, nicht gut verwendbar sei.“

Ohne auf den Stand eines armen Ackerbaulandes zurückzusinken, konnten wir England nicht zum Freund und Gönner gewinnen. Aber ein Mittel zu wesentlicher Verbesserung der Beziehungen bestand in der Schaffung einer deutschen Flotte, welche den Angriff auf den deutschen Handel für England zu einem gewagteren Gedanken machte, als er dies zur Zeit jener Bismarckschen Äußerung war. In diesem Sinn hat die deutsche Flotte trotz verschiedentlichem Versagen der deutschen Politik ihre Aufgabe bis in den Juli 1914 gelöst, und es ist nicht ihre Schuld, daß sie ihren friedebewahrenden Zweck nicht noch besser und länger erfüllen konnte. Es ist für mich schwer verständlich, daß Herr v. Bethmann Hollweg die „sogenannte Flottenpolitik“, die er selbst acht Jahre als Kanzler gegengezeichnet hat, auch jetzt noch beschuldigt. Um so schwerer verständlich, als er selbst wie Lichnowsky und andere Sachverständige des Auswärtigen Amtes in den dem Krieg vorangehenden Jahren eine fühlbare Entspannung der deutsch-englischen Beziehungen festgestellt und anerkannt haben, daß der deutsche Flottenbau, je mehr er sich seiner Vollendung näherte, die Verbesserung unseres Verhältnisses zu England mindestens nicht verhindert hat. Der Ausbruch des Krieges aber entsprang nicht einer Verschlechterung der deutsch-englischen Beziehungen; man kann sogar eine besonders tragische Verknüpfung darin sehen, daß Deutschland und England 1914 einander nähergerückt waren, als zur Zeit der deutschen Flottenlosigkeit 1896 oder der deutschen Flottenschwäche 1904, als es Fürst Bülow gelang, die gefährliche Zone zu überbrücken. Die deutsche Flotte hat ihrer Zweckbestimmung gemäß den Frieden beschützt. An dieser klaren Tatsache rütteln heute Interessenten; dazu kommt jener Zug der Selbstvernichtung im deutschen Wesen, der immer gern das Ungünstige glaubt und froh ist, heute als unvernünftig schelten zu können, was gestern vernünftig schien.

Bethmann Hollweg schien mit mir vor dem Kriege darin einig, daß das Flottengesetz, die Grundlage unserer gesamten weltpolitischen Aussichten, unangetastet aufrechterhalten werden müsse. Ich meinerseits war mit dem Kanzler darin einig, daß von unserer Seite alles getan werden müßte, um eine Verbesserung der Beziehungen zu England anzustreben. Ich habe den Kanzler von den ersten Tagen seiner Amtsführung an darin unterstützt, den Engländern in den von ihnen angeregten Einzelfragen entgegenzukommen. Insbesondere habe ich den Kaiser in diesem Sinne beeinflußt und meinerseits nichts unterlassen, um die seit 1908 angeregten Verhandlungen über eine Flottenverständigung im Gang zu erhalten.

Bei diesen zuerst durch private Unterhändler gepflogenen und von englischer Seite mehrfach stark verschleppten Unterhandlungen gewann ich je länger, desto bestimmter den Eindruck, daß es der englischen Regierung mit einer wirklichen Flottenverständigung nicht ernst war, sondern daß es ihr nur darauf ankam, unser Auswärtiges Amt immer tiefer in die Legende einzuwickeln, daß die deutsche Flotte an allem schuld und ohne sie den Deutschen das Paradies auf Erden sicher wäre. Sie arbeitete hierin mit unleugbarem Geschick, wie jeder bezeugen wird, der die Denkungsart unseres damaligen Auswärtigen Amtes und die Verkennung der politischen Psyche Englands von seiten des Kanzlers erfahren hat. Eine Hauptsäule der Anschauung, daß einer deutschen Weltpolitik Arm in Arm mit England nur die entsetzliche deutsche Flotte im Wege stünde, wurde der deutsche Botschaftsrat in London, v. Kühlmann.

Daß es der englischen Regierung mit einer zweiseitigen Flottenverständigung nicht ernst war, ging einmal daraus hervor, daß unsere Zustimmung zu ihren Einzelforderungen gar keine spürbaren Folgen zurückließ, sodann vor allem daraus, daß der Kernpunkt jeder derartigen Verständigung, die beiderseitige Flottenbegrenzung durch eine bestimmte Verhältniszahl, von ihnen erst 1913 anerkannt worden ist, obwohl Lloyd George schon 1908 mit dieser Aussicht gewinkt hatte. Trotzdem war zu spüren und ist von allen Beteiligten angenommen und ausgesprochen worden, daß wegen unseres Flottenbaues ein Krieg mit England nicht zu befürchten war und die Kriegsgefahr mit jedem Jahr unwahrscheinlicher wurde, im selben Maße, wie der Respekt vor der deutschen Flotte wuchs und damit der Krieg auch für den Jingoteil des englischen Volkes immer unprofitabler wurde. Rücksichtslose Stimmen, wie die der Saturday Review und des Zivillords Lee, wurden immer weniger vernehmbar. So stieg in London namentlich seit 1912 die Neigung zu einer mehr geschäftlichen Behandlung des deutschenglischen Verhältnisses, wovon das 1914 zur Unterzeichnung fertige englisch-deutsche Kolonialabkommen nur einen Beleg unter anderen darzustellen scheint. Wenigstens ist es von seinen deutschen Vätern als ein ernsthaftes Geschäft aufgefaßt worden.

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Quelle: Alfred von Tirpitz, Erinnerungen. Leipzig, 1920, S. 93–100.