Quelle
[…] Ohne ein bestimmtes Maß demokratischer Einrichtungen oder Überlieferungen wäre die sozialistische Lehre der Gegenwart überhaupt nicht möglich, gäbe es wohl eine Arbeiterbewegung, aber keine Sozialdemokratie. Die moderne sozialistische Bewegung, welches auch ihre theoretische Erklärung, ist faktisch das Produkt des Einflusses der in der großen französischen Revolution und durch sie zur allgemeinen Geltung gekommenen Rechtsbegriffe auf die Lohn- und Arbeitszeitbewegung der industriellen Arbeiter. Diese würde auch ohne sie bestehen, wie es ohne sie und vor ihnen einen an das Urchristentum anknüpfenden Volkskommunismus[1] gab. Aber dieser Volkskommunismus war sehr unbestimmt und halb mystisch, und die Arbeiterbewegung würde ohne die Grundlage jener Rechtseinrichtung und Rechtsauffassungen, die aber mindestens zu einem großen Teil notwendige Begleiter der kapitalistischen Entwicklung sind, des inneren Zusammenhangs entbehren. Ähnlich wie dies, um ein annähernd entsprechendes Bild zu geben, heute in orientalischen Ländern der Fall ist. Eine politisch rechtlose, in Aberglauben und mit mangelhaftem Unterricht aufgewachsene Arbeiterklasse wird wohl zeitweilig revoltieren und im kleinen konspirieren, aber nie eine sozialistische Bewegung entwickeln. Es bedarf einer gewissen Weite des Blickes und eines ziemlich entwickelten Rechtsbewußtseins, um aus einem Arbeiter, der gelegentlich revoltiert, einen Sozialisten zu machen. Das politische Recht und die Schule stehen denn auch überall an hervorragender Stelle der sozialistischen Aktionsprogramme. […]
Hat […] die Sozialdemokratie als Partei der Arbeiterklasse und des Friedens ein Interesse an der Erhaltung der nationalen Wehrhaftigkeit? Unter verschiedenen Gesichtspunkten liegt die Versuchung nahe, die Frage zu verneinen, zumal wenn man von dem Satz des Kommunistischen Manifests ausgeht: „Der Proletarier hat kein Vaterland“. Indes dieser Satz konnte allenfalls für den rechtlosen, aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossenen Arbeiter der vierziger Jahre zutreffen, hat aber heute, trotz des enorm gestiegenen Verkehrs der Nationen miteinander, seine Wahrheit zum großen Teile schon eingebüßt und wird sie immer mehr einbüßen, je mehr durch den Einfluß der Sozialdemokratie der Arbeiter aus einem Proletarier ein — Bürger wird. Der Arbeiter, der in Staat, Gemeinde usw. gleichberechtigter Wähler und dadurch Mitinhaber am Gemeingut der Nation ist, dessen Kinder die Gemeinschaft ausbildet, dessen Gesundheit sie schützt, den sie gegen Unbilden versichert, wird ein Vaterland haben, ohne darum aufzuhören, Weltbürger zu sein, wie die Nationen sich näher rücken, ohne darum aufzuhören, ein eigenes Leben zu führen. Es mag sehr bequem erscheinen, wenn alle Menschen eines Tages nur eine Sprache sprechen. Aber welch ein Reiz, welch eine Quelle geistigen Genusses ginge damit dem Menschen der Zukunft verloren. Die völlige Auflösung der Nationen ist kein schöner Traum und jedenfalls in menschlicher Zukunft nicht zu erwarten. So wenig es aber wünschenswert ist, daß irgendeine andere der großen Kulturnationen ihre Selbständigkeit verliert, so wenig kann es der Sozialdemokratie gleichgültig sein, ob die deutsche Nation, die ja ihren redlichen Anteil an der Kulturarbeit der Nationen geleistet hat und leistet, im Rate der Völker zurückgedrängt wird.
Man spricht heute viel von Eroberung der politischen Herrschaft durch die Sozialdemokratie, und es ist wenigstens bei der Stärke, welche diese in Deutschland erlangt hat, nicht unmöglich, daß ihr dort durch irgendein politisches Ereignis in näherer Zeit die entscheidende Rolle in die Hand gespielt wird. Gerade dann aber würde sie, da die Nachbarvölker noch nicht so weit sind, gleich den Independenten der englischen und den Jakobinern der französischen Revolution, national sein müssen, wenn sie ihre Herrschaft behaupten soll, d. h. sie würde ihre Befähigung zur leitenden Partei, bzw. Klasse, dadurch zu bekräftigen haben, daß sie sich der Aufgabe gewachsen zeigte, Klasseninteresse und nationales Interesse gleich entschieden wahrzunehmen. […]
In dem Vorhergehenden ist im Prinzip schon der Gesichtspunkt angezeigt, von dem aus die Sozialdemokratie unter den gegenwärtigen Verhältnissen zu den Fragen der auswärtigen Politik Stellung zu nehmen hat. Ist der Arbeiter auch noch kein Vollbürger, so ist er doch nicht mehr in dem Sinne rechtlos, daß ihm die nationalen Interessen gleichgültig sein können. Und ist die Sozialdemokratie auch noch nicht an der Macht, so nimmt sie doch schon eine Machtstellung ein, die ihr gewisse Verpflichtungen auferlegt. Ihr Wort fällt sehr erheblich in die Wagschale. Bei der gegenwärtigen Zusammensetzung des Heeres und der völligen Ungewißheit über die moralische Wirkung der kleinkalibrigen Geschütze wird die Reichsregierung es sich zehnmal überlegen, ehe sie einen Krieg wagte, der die Sozialdemokratie zu entschiedenen Gegnern hat. Auch ohne den berühmten Generalstreik kann die Sozialdemokratie so ein sehr gewichtiges, wenn nicht entscheidendes Wort für den Frieden sprechen und wird dies gemäß der alten Devise der Internationale so oft und so energisch tun, als dies nur immer nötig und möglich ist. Sie wird auch, gemäß ihrem Programm, in solchen Fällen, wo sich Konflikte mit anderen Nationen ergeben und direkte Verständigung nicht möglich ist, für Erledigung der Differenz auf schiedsrichterlichem Wege eintreten. Aber nichts gebietet ihr, dem Verzicht auf Wahrung deutscher Interessen der Gegenwart oder Zukunft das Wort zu reden, wenn oder weil englische, französische oder russische Chauvinisten an den entsprechenden Maßnahmen Anstoß nehmen. Wo es sich auf deutscher Seite nicht bloß um Liebhabereien oder Sonderinteressen einzelner Kreise handelt, die für die Volkswohlfahrt gleichgültig oder gar nachteilig sind, wo in der Tat wichtige Interessen der Nation in Frage stehen, kann die Internationalität kein Grund schwächlicher Nachgiebigkeit gegenüber den Prätensionen ausländischer Interessenten sein. […]
Von größerer Bedeutung als die Frage der Erhöhung der schon auf dem Programm stehenden Forderungen ist heute die Frage der Ergänzung des Parteiprogramms. Hier hat die Praxis eine ganze Reihe von Fragen auf die Tagesordnung gesetzt, die bei Schaffung des Programms teils als in noch zu weiter Ferne liegend betrachtet wurden, als daß die Sozialdemokratie sich speziell mit ihnen zu befassen hätte, teils aber auch in ihrer Tragweite nicht hinreichend erkannt wurden. Hierhin gehören die Agrarfrage, die Fragen der Kommunalpolitik, die Genossenschaftsfrage und verschiedene Fragen des gewerblichen Rechts. Das große Wachstum der Sozialdemokratie in den acht Jahren seit Abfassung des Erfurter Programms, seine Rückwirkung auf die innere Politik Deutschlands, sowie die Erfahrungen anderer Länder, haben die intimere Beschäftigung mit all diesen Fragen unabweisbar gemacht, und dabei sind denn manche Ansichten, die damals hinsichtlich ihrer vorherrschten, wesentlich berichtigt worden.
Was die Agrarfrage anbetrifft, so haben selbst diejenigen, die die bäuerliche Wirtschaft für den Untergang geweiht betrachten, ihre Anschauungen über das Zeitmaß der Vollziehung dieses Untergangs erheblich geändert. Bei den neueren Debatten über die von der Sozialdemokratie zu beobachtende Agrarpolitik haben zwar auch noch große Meinungsverschiedenheiten über diesen Punkt mitgespielt, aber prinzipiell drehten diese sich darum, ob und gegebenenfalls bis zu welcher Grenze die Sozialdemokratie dem Bauern als solchem, d. h. als selbständigem Unternehmer, gegen den Kapitalismus Beistand zu leisten habe. […]
[…] Für mich lassen sich, […] die Hauptaufgaben, welche die Sozialdemokratie heute gegenüber der Landbevölkerung zu erfüllen hat, in drei Gruppen zerlegen. Nämlich
1. Bekämpfung aller noch vorhandenen Reste und Stützen der Grundbesitzerfeudalität und Kampf für die Demokratie in der Gemeinde und dem Distrikt. Also Eintreten für Aufhebung der Fideikommisse, der Gutsbezirke, der Jagdprivilegien usw. […]
2. Schutz und Entlastung der arbeitenden Klassen in der Landwirtschaft. Unter diese Rubrik fällt der Arbeiterschutz im engeren Sinne: Aufhebung der Gesindeordnung, Begrenzung der Arbeitszeit der verschiedenen Kategorien der Lohnarbeiter, Gesundheitspolizei, Unterrichtswesen, sowie solche Maßregeln, welche den Kleinbauern als Steuerzahler entlasten. […]
3. Bekämpfung des Eigentumsabsolutismus und Förderung des Genossenschaftswesens. Hierunter fallen Forderungen wie „Einschränkung der Rechte des Privateigentums am Boden zur Förderung: 1) der Separation, der Aufhebung der Gemenglage, 2) der Landeskultur, 3) der Seuchenverhütung […] Reduzierung übermäßiger Pachtzinsen durch dazu eingesetzte Gerichtshöfe […] Bau gesunder und bequemer Arbeiterwohnungen durch die Gemeinden. Erleichterung des genossenschaftlichen Zusammenschlusses durch die Gesetzgebung […] Berechtigung der Gemeinden, Boden durch Kauf oder Expropriation zu erwerben und an Arbeiter und Arbeitergenossenschaften zu billigem Zins zu verpachten.“
Die letztere Forderung leitet zur Genossenschaftsfrage über. […] Es handelt sich heute nicht mehr darum, ob Genossenschaften sein sollen oder nicht. Sie sind und werden sein, ob die Sozialdemokratie es will oder nicht. Zwar könnte oder kann sie durch das Gewicht ihres Einflusses auf die Arbeiterklasse die Ausbreitung der Arbeitergenossenschaften verlangsamen, aber dadurch würde sie weder sich noch der Arbeiterklasse einen Dienst leisten. Ebenso wenig empfiehlt sich das spröde Manchestertum, das vielfach in der Partei gegenüber der Genossenschaftsbewegung an den Tag gelegt und mit der Erklärung begründet wird, es könne innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft keine sozialistischen Genossenschaften geben. Es gilt vielmehr bestimmte Stellung zu nehmen und sich klar zu werden, welche Genossenschaften die Sozialdemokratie empfehlen und nach Maßgabe ihrer Mittel moralisch unterstützen kann und welche nicht. […]
[…] Die Sozialdemokratie kann der Gründung von Arbeiterkonsumgenossenschaften, wo die wirtschaftlichen und gesetzlichen Vorbedingungen dazu gegeben sind, ohne Bedenken zusehen, und sie wird gut tun, ihnen ihr volles Wohlwollen zu schenken und sie nach Möglichkeit zu fördern. […]
Damit kommen wir schließlich zur Gemeindepolitik der Sozialdemokratie. Auch diese war lange Zeit das oder ein Stiefkind der Sozialistischen Bewegung. […] Was verlangt die Sozialdemokratie für die Gemeinde und was erwartet sie von der Gemeinde? […]
Die Sozialdemokratie wird […] für die Gemeinden neben der Demokratisierung des Wahlrechts Erweiterung ihres, in verschiedenen deutschen Staaten noch sehr beschränkten Expropriationsrechts verlangen müssen, wenn eine sozialistische Gemeindepolitik möglich sein soll. Außerdem volle Unabhängigkeit ihrer Verwaltung, insbesondere der Sicherheitspolizei von der Staatsgewalt. […] Ferner sind heute mit Recht in den Vordergrund gerückt die auf die Ausbildung der kommunalen Eigenbetriebe, bzw. der öffentlichen Dienste und der Arbeiterpolitik der Gemeinden bezüglichen Forderungen. In ersterer Hinsicht wird als prinzipielle Forderung aufzustellen sein, daß alle auf das allgemeine Bedürfnis der Gemeindemitglieder berechneten und Monopolcharakter tragenden Unternehmungen von der Gemeinde in eigener Regie zu betreiben sind und daß im übrigen die Gemeinde danach streben soll, den Kreis der Leistungen für ihre Angehörigen beständig zu erweitern. Hinsichtlich der Arbeiterpolitik muß von den Gemeinden verlangt werden, daß sie als Beschäftiger von Arbeitern, ob es sich nun um Arbeiten in eigener Regie oder um Verdingungsarbeiten handelt, als Mindestbedingung die von den Organisationen der betreffenden Arbeiter anerkannten Lohn- und Arbeitszeitsätze innehalten und das Koalitionsrecht dieser Arbeiter verbürgen. […]
Nun ist die Sozialdemokratie nicht ausschließlich auf das Wahlrecht und die parlamentarische Tätigkeit angewiesen. Es bleibt ihr auch außerhalb der Parlamente ein großes und reiches Arbeitsfeld. Die sozialistische Arbeiterbewegung würde sein, auch wenn ihr die Parlamente verschlossen wären. […] Aber mit ihrem Ausschluß aus den Vertretungskörpern würde die deutsche Arbeiterbewegung in hohem Grade des inneren Zusammenhangs verlustig gehen, der heute ihre verschiedenen Glieder verbindet, sie würde einen chaotischen Charakter erhalten, und an die Stelle des ruhigen unablässigen Vormarsches im festen Schritte würden sprunghafte Vorwärtsbewegungen treten mit den unausbleiblichen Rückschlägen und Ermattungen.
Eine solche Entwicklung liegt weder im Interesse der Arbeiterklasse noch kann sie jenen Gegnern der Sozialdemokratie als wünschenswert erscheinen, die zu der Erkenntnis gelangt sind, daß die gegenwärtige Gesellschaftsordnung nicht für alle Ewigkeiten geschaffen ist, sondern dem Gesetz der Veränderung unterliegt, und daß eine katastrophenmäßige Entwicklung mit all ihren Schrecken und Verheerungen nur dadurch vermieden werden kann, daß den Veränderungen in den Produktions- und Verkehrsverhältnissen und der Klassenentwicklung auch im politischen Recht Rechnung getragen wird. Und die Zahl derer, die das einsehen, ist im steten Wachsen. Ihr Einfluß würde ein viel größerer sein als er heute ist, wenn die Sozialdemokratie den Mut fände, sich von einer Phraseologie zu emanzipieren, die tatsächlich überlebt ist, und das scheinen zu wollen, was sie heute in Wirklichkeit ist: eine demokratisch-sozialistische Reformpartei.
Es handelt sich nicht darum, das sogenannte Recht auf Revolution abzuschwören, dieses rein spekulative Recht, das keine Verfassung paragraphieren und kein Gesetzbuch der Welt prohibieren kann, und das bestehen wird, solange das Naturgesetz uns, wenn wir auf das Recht zu atmen verzichten, zu sterben zwingt. Dieses ungeschriebene und unvorschreibbare Recht wird dadurch, daß man sich auf den Boden der Reform stellt, so wenig berührt, wie das Recht der Notwehr dadurch aufgehoben wird, daß wir Gesetze zur Regelung unserer persönlichen und Eigentumsstreitigkeiten schaffen. […]
Im übrigen wiederhole ich, je mehr die Sozialdemokratie sich entschließt, das scheinen zu wollen, was sie ist, um so mehr werden auch ihre Aussichten wachsen, politische Reformen durchzusetzen. Die Furcht ist gewiß ein großer Faktor in der Politik, aber man täuscht sich, wenn man glaubt, daß Erregung von Furcht alles vermag. Nicht als die Chartistenbewegung sich am revolutionärsten gebärdete, erlangten die englischen Arbeiter das Stimmrecht, sondern als die revolutionären Schlagworte verhallt waren und sie sich mit dem radikalen Bürgertum für die Erkämpfung von Reformen verbündeten. Und wer mir entgegenhält, daß Ähnliches in Deutschland unmöglich sei, den ersuche ich nachzulesen, wie noch vor fünfzehn und zwanzig Jahren die liberale Presse über Gewerkschaftskämpfe und Arbeitergesetzgebung schrieb, und die Vertreter dieser Parteien im Reichstag sprachen und stimmten, wo darauf bezügliche Fragen zu entscheiden waren. Er wird dann vielleicht zugeben, daß die politische Reaktion durchaus nicht die bezeichnendste Erscheinung im bürgerlichen Deutschland ist.
Anmerkungen
Quelle: Eduard Bernstein, Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie. Stuttgart, 1899, Viertes Kapitel, Abschnitt d. S. 144ff.; abgedruckt in Ernst Schraepler, Hrsg., Quellen zur Geschichte der sozialen Frage in Deutschland. 1871 bis zur Gegenwart, 3. Auflage. Göttingen und Zürich, 1996, S. 136–43.