Kurzbeschreibung

Adam Czerniaków (1880–1942), ein polnischer Jude, war Vorsitzender des Judenrates im Warschauer Ghetto. Diese Auszüge stammen aus seinem Tagebuch, das er wenige Tage nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Polen bis zu seinem Tod führte. Das Tagebuch wurde erstmals 1979 veröffentlicht. Als Vorsitzender des Judenrats fungierte Czerniaków häufig als Vermittler zwischen den deutschen Behörden und der jüdischen Bevölkerung in Warschau. In diesen Auszügen schreibt Czerniaków über die Gerüchte über bevorstehende Deportationen. Die Panik der Situation wird deutlich, wenn er den Wettlauf zwischen den deutschen Behörden und seinen Mitmenschen in Warschau beschreibt, die versuchen, die wahre Natur dieser Gerüchte zu verstehen. Czerniaków sieht sich mit dem moralischen Dilemma konfrontiert, eine kooperative Beziehung zu den deutschen Behörden aufrechtzuerhalten und gleichzeitig den Respekt und das Vertrauen seiner Landsleute zu erhalten. In seinem Versuch, die jüdische Gemeinde angesichts der erwarteten Deportationen zu beruhigen, schreibt er traurig: „Ich gebe mir Mühe, daß ein Lächeln nie mein Gesicht verläßt“. Als sich die Gerüchte im Juli 1942 bewahrheiteten, versuchte Czerniaków, mit den Deutschen zu verhandeln, um das Leben der Warschauer Waisenkinder zu retten. Als seine Versuche scheiterten, beschloss er, eine Zyankalikapsel zu nehmen. Er starb inmitten der Deportationen am 23. Juli 1942, kurz nachdem er den letzten Eintrag in seinem Tagebuch geschrieben hatte.

Auszüge aus dem Tagebuch Adam Czerniakóws, Vorsitzender des Judenrates im Warschauer Ghetto (1942)

Quelle

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17. VII. 42 – Morgens um 7 wurde mir eine Aufstellung der Häftlinge, Verurteilten usw. für die Gespräche mit Schmiedt nach Hause gebracht.

Morgens Gemeinde. Frl. Glass vom Kommissar ruft an, die Synagoge sei heute von Flüchtlingen zu räumen. Das Gebäude wird der SS zur Verfügung gestellt. Ich habe First deswegen zum Palais Brühl geschickt. Der Tag fängt nicht gut an. Zum Glück stellte sich heraus, daß die Synagoge für ausländische Juden sein soll. Ich muß sie heute räumen, um Emigranten nach Amerika usw. dort unterzubringen.

Um 11 waren zwei Deutsche da, die ein Kompensationsgeschäft + Freilassung eines Teils der Häftlinge und eine ev[entuelle] Erlaubnis zum freien Einkauf von Roggenmehl gegen eine Lieferung von Schuhen usw. vorschlagen.

Auf einer Konferenz wurden in Anwesenheit von Gepner, Sztolcman, Rechthand und Altberg allgemeine Richtlinien festgesetzt. Am Montag wird die Sache ev[entuell] endgültig zum Abschluß gebracht. Morgen verabrede ich mich mit dem Kommissar. Die Aussiedlung der 1700 deut[schen] Juden aus der Leszno- Str. 109 verlief geordnet. Hierzu wurden mehrere Dutzend Wohnungen beansprucht.

18. VII. 42 – Morgens mit Lejkin bei Brandt und Mende. Ein Tag voller böser Vorahnungen. Gerüchte, wonach am Montag abend die Aussiedlung (aller!?) beginnt. Ich fragte den Kommissar, ob er etwas davon wisse. Nein, antwortete er, und er glaube nicht daran. Im Wohnbezirk unterdessen Panik, die einen sprechen von einer Aussiedlung, die anderen von einem Pogrom. Heute und morgen sollen wir die Synagoge leerräumen, in die ausländische Juden hineinkommen. Als ich bei Mende saß, kam ein polnisches junges Mädchen von 16-18 Jahren herein und erklärte, in ihrem Haus wohne eine getaufte Jüdin.

19. VII. 42 – Morgens Gemeinde. Eine noch nie dagewesene Panik in der Stadt. Kon, Heller und Ehrlich streuen wilde Gerüchte aus. Es macht den Eindruck irgendeiner künstlichen Propaganda. Gebe Gott, daß es so ist. Andererseits spricht man von 40 bereitgestellten Waggons. Es stellte sich heraus, daß es 20 sind und daß die SS sie bereitstellen ließ, weil morgen 720 Arbeiter ins Lager abfahren sollen.

Kon behauptet, daß morgen abend um 8 die Aussiedlung von 3000 Juden aus dem kleinen Getto (Sliska-Str. ?) beginnen soll, und hat sich selbst mit seiner Familie nach Otwock abgesetzt. Andere taten das gleiche.

Ein gewisser Czerniaków, angeblich ein Verwandter von mir, ist ein Geschäftemacher beim Arbeitsamt, bei dem er längere Zeit gearbeitet hat. Ich ließ ihn ins Gefängnis sperren. Wegen der Panik bin ich heute im Auto den ganzen Wohnbezirk abgefahren. Ich war in 3 Gärten. Ich weiß nicht, ob es mir gelungen ist, die Bevölkerung zu beruhigen. Das Meinige habe ich jedoch getan. Ich versuche, den Abordnungen, die zu mir kommen, Mut zuzusprechen. Was mich das kostet, sehen sie nicht. Heute habe ich 2 Kopfschmerzpulver, 1 Cybalgin und Baldriantropfen eingenommen. Trotzdem will mir der Kopf zerspringen. Ich gebe mir Mühe, daß ein Lächeln nie mein Gesicht verläßt.

20. VII. 42 – Morgens 7:30 bei der Gestapo. Ich fragte Mende, wieviel Wahrheit an den Gerüchten ist. Er entgegnete, er habe nichts davon gehört. Als nächstes wandte ich mich an Brandt, er antwortete, ihm sei nichts darüber bekannt. Auf die Frage, ob das dennoch passieren könne, erwiderte er, er wisse gar nichts. Unsicher ging ich von ihm weg. Ich wandte mich an seinen Chef, Kommissar Boehm. Der erwiderte, daß das nicht seine Abteilung sei, daß Hohenmann eventuell im Zusammenhang mit den Gerüchten etwas mitteilen könnte. Ich bemerkte, den ausgestreuten Gerüchten zufolge solle die Aussiedlung heute um 19:30 beginnen. Darauf antwortete er, daß er wohl etwas wüßte, wenn dies geschehen solle. Da ich keinen anderen Ausweg hatte, begab ich mich zum stellvertretenden Leiter der Abteilung III, Scherer. Er gab seiner Verwunderung über das Gerücht Ausdruck und erklärte, er wisse auch nichts darüber. Schließlich fragte ich, ob ich der Bevölkerung erklären könne, daß kein Anlaß zu Befürchtungen besteht. Er antwortete, das könne ich, alles, was die Leute reden, sei Quatsch und Unsinn.

Ich beauftragte Lejkin, über die Bezirke die Bevölkerung davon zu unterrichten. Ich fuhr zu Auerswald. Er erklärte, er habe dem SS-Polizeioberführer von allem berichtet. First war inzwischen bei Jesuiter und Schleterer, die empört waren über die ausgestreuten Gerüchte und eine Ermittlung in dieser Angelegenheit ankündigten. Ich kehrte in die Gemeinde zurück. Ich fand Dr. Schmiedt vor. Das Kompensationsgeschäft Schuhe usw. gegen Getreide (1250000) wird abgeschlossen.

Mit dem Kommissar besprach ich heute die Frage der Kinder im Arrestlokal. Er ordnete an, ihm wegen der Freilassung einen Brief zu schreiben, mit der Einschränkung, daß die Kinder in Besserungsheimen untergebracht werden und daß gewährleistet ist, daß sie nicht davonlaufen. Ich schlug vor, die Erziehung der Gefangenenhilfsorganisation zu übertragen. Der Kommissar verlangte eine für die Beaufsichtigung der Kinder verantwortliche Person. Das soll jemand vom Ordnungsdienst sein.

Ich hatte eine Unterredung mit Kaczka, dem Kurator des Durchgangslagers in der Dzika-Str. Es geht um die Unterbringung von Kindern auch in diesem Lager. Ich habe vor, ein Haus in der Ceglana-Str. (Mikwe) auszubauen, um in diesem Gebäude Kinder unterzubringen. Es ist

anzunehmen, daß ungefähr 2000 Kinder sich für die Besserungsheime eignen.

21. VII. 42 – Morgens Gemeinde. Vor 12 erschienen Funktionäre der S[icherheits-] P[olizei?] und ordneten an, die im Haus anwesenden Räte in meinem Büro festzuhalten. Kurz darauf wurden die Räte in meinem Zimmer gruppenweise verhaftet. Zur gleichen Zeit wurde die Leitung der V[ersorgungs-]A[nstalt] mit Gepner an der Spitze verhaftet. Ich wollte gemeinsam mit den Festgenommenen hinausgehen. Man erklärte mir, ich solle im Büro bleiben. In der Zwischenzeit fuhren wieder andere auf der Suche nach meiner Frau zu meiner Wohnung. Man sagte ihnen, daß sie im Kinderheim in der Wolność-Str. ist. Sie fuhren los und kamen mit dem Befehl zu meiner Wohnung zurück, meine Frau solle um 3 zu Hause sein. Ein Teil der Räte ist heute freigelassen worden.

Ich wandte mich an Brandt, der erklärte, morgen oder übermorgen würden sie auf freien Fuß gesetzt. Ich intervenierte bei Auerswald wegen Gepner und seiner Kollegen von der V[ersorgungs-]- A[nstalt]. Er antwortete, er werde das morgen erledigen. Er fragte wer eigentlich im Spiel sei. Ich hatte den Eindruck, daß er in bezug auf Gepner unschlüssig ist. Deswegen betonte ich, daß Gepner die Seele der V[ersorgungs]-A[nstalt] ist.

Nachdem ich meine Frau in die Gemeinde gebracht hatte, blieb ich dort bis 6. Am Abend ruhig. In der Nacht Todesfälle.

22. VII. 42 – Morgens um 7:30 in der Gemeinde. Die Grenzen des kleinen Gettos sind außer der normalen von einer Spezialeinheit umstellt.

Um 10 Uhr erschien Sturmbannführer Hoefle mit Begleitern. Wir stellten die Telephone ab. Aus dem gegenüberliegenden Garten wurden die Kinder weggebracht.

Man eröffnete uns, daß – mit gewissen Ausnahmen – die Juden ohne Unterschied des Geschlechts und des Alters in den Osten ausgesiedelt werden sollen. Bis heute n.m. um 4 Uhr müssen 6000 Menschen bereitgestellt werden. Und so (mindestens) wird es jeden Tag sein.

Man wies an, das Haus Zelazna-Str. 103 für die deutschen Funktionäre, die die Aussiedlung durchführen, zu räumen. Die Möbel wurden dabehalten. Da die Ratsangestellten mit ihren Frauen und Kindern von der Deportation befreit sind, bat ich darum, die Angestellten der JSS, des Handwerksverbands, die Müllkutscher usw, ebenfalls davon auszunehmen, was bewilligt wurde.

Ich bat um die Freilassung von Gepner, Rozen, Sztolcman, Drybinski, Winter und Kobryner, was zugesagt wurde. Um 3:45 sind mit Ausnahme von Rozen alle bereits im Getto.

Lejkin ließ mir nach Mittag mitteilen, daß angeblich mit Glas nach einem Polizeiauto geworfen worden sein soll. Man droht uns mit der Erschießung unserer Geiseln, falls sich das noch einmal wiederholt. Das tragischste Problem ist das der Kinder in den Waisenhäusern usw. Ich habe es zur Sprache gebracht – vielleicht läßt sich etwas machen.

Um 5: 30 fuhr einer der Beamten von Forwort (?) [Worthoff] vor und verlangte, daß Józef Ehrlich Lejkins Stellvertreter wird. Er hat schon 3 Sterne.

Sturmbannführer Hoefle (Beauftragter für die Aussiedlung) bat mich in sein Büro und erklärte, meine Frau sei vorläufig noch in Freiheit, doch wenn die Aussiedlung nicht wunschgemäß verlaufe, werde sie als erste Geisel erschossen.

23. VII. 1942 – Morgens Gemeinde. Worthoff vom Umsiedlungsstab erschien, mit dem ich eine Reihe von Fragen besprach. Er hat die Schüler der Gewerbeschulen von der Umsiedlung befreit. Die Ehemänner arbeitender Frauen ebenfalls. Im Hinblick auf die Waisen ordnete er an, mit Hoefle Rücksprache zu halten. Wegen der Handwerker soll ich ebenfalls Rücksprache halten. Auf die Frage, wieviele Tage in der Woche die Aktion in Gang sein wird, antwortete man, 7 Tage in der Woche.

In der Stadt drängt sich alles, Werkstätten zu eröffnen. Eine Nähmaschine kann das Leben retten.

3 Uhr. Bis jetzt sind 4000 abfahrtsbereit. Bis 4 haben es laut Befehl 9000 zu sein.

Auf der Post tauchten irgendwelche Funktionäre auf und wiesen an, eingehende Briefe und Pakete zum Pawiak weiterzuleiten.

Quelle der deutschen Übersetzung: Adam Czerniakow: Im Warschauer Getto. Das Tagebuch des Adam Czerniakow 19391942. Übersetzt aus dem Polnischen von Silke Lent. München: Verlag C. H.Beck, 2013. S. 281–85

Auszüge aus dem Tagebuch Adam Czerniakóws, Vorsitzender des Judenrates im Warschauer Ghetto (1942), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/deutschland-nationalsozialismus-1933-1945/ghdi:document-5194> [10.05.2024].