Quelle
Wir haben auf Grund unserer Berichte bis in die letzte Zeit hinein immer wieder feststellen können, daß das deutsche Völk in seiner überwältigenden Mehrheit keinen Krieg wollte. Wenn es schließlich doch den Nazis gelungen war, für den Krieg gegen Polen in weiten Kreisen Stimmung zu machen, so nur deshalb, weil dieser Krieg nicht ernst genommen wurde und die meisten Menschen angesichts der Erfahrungen mit der Tschechoslowakei nicht daran glauben wollten, daß das Vorgehen gegen Polen zwangsläufig die Auseinandersetzung mit den Westmächten zur Folge haben würde. Deshalb auch die weitverbreitete naive Vorstellung, daß es nach dem polnischen Feldzug schnell wieder Frieden geben könnte. (Hitlers „Friedensoffensive“ war mit Rücksicht auf diese Vorstellung weitgehend innenpolitisch motiviert.) Die nachstehenden Berichte lassen übereinstimmend diese Kriegsmüdigkeit erkennen.
Bayern: Ein wesentlicher Teil der Bevölkerung hofft noch immer, daß die Franzosen doch nicht mitmachen werden und die Sache deshalb bald zu Ende gehe. Allerdings sind es meist die Kritiklosen, die noch immer blindlings alles glauben, was in der Zeitung steht oder ihnen von einem Naziredner vorgeschwätzt wird. Die politisch Denkenden rechnen dagegen vielmehr damit, daß England und Frankreich Deutschland niederringen werden, selbst wenn noch Rußland an der Seite Deutschlands in den Krieg eingreifen würde.
Südwestdeutschland, 1. Bericht: Von den Nazikreisen, insbesondere von der SS und SA werden ganz systematisch und offenbar auf Anweisung der Parteileitung immer wieder Gerüchte darüber verbreitet, daß die Franzosen angeblich nicht kämpfen wollen. Deshalb lasse auch die französische Regierung am Westwall nicht richtig angreifen. Bei Weil a. Rhein hätten die Franzosen ein großes Transparent aufgestellt, auf dem stände: „Deutsche Brüder schießt nicht, wir schießen auch nicht für England.“ Oder ein anderes Märchen: Es kämen Franzosen bis in die Mitte des Rheines geschwommen. Dort unterhielten sie sich dann mit den badenden deutschen Soldaten und sagten ihnen, sie würden eher auf die Engländer schießen als auf die Deutschen. Die französische Regierung sei gezwungen gewesen, die französischen Truppen vom Rhein zurückzuziehen, und jetzt wären dort nur noch Schwarze aufgestellt.
2. Bericht: Die ständig angeordnete Verdunkelung macht sehr böses Blut, da sie als Schikane angesehen wird. Früher lasen die Leute in den Zeitungen, daß ankommende Flieger so frühzeitig gehört würden, daß genügend Zeit für den Alarm übrig bleibt, und nun müssen sie Abend für Abend verdunkeln. Dabei wird streng kontrolliert und in jedem Polizeibericht kann man eine oder mehrere Anzeigen wegen nicht genügend durchgeführter Verdunkelung lesen. Am Sonntag, den 24. September wurde das erste Mal bei uns Fliegeralarm gegeben, als französische Flieger Friedrichshafen angriffen. Dabei herrschte in der Kreisstadt X. ein ganz fürchterliches Durcheinander. Das gleiche wird übrigens auch aus den anderen Orten gemeldet. Viele Einwohner weigerten sich, in die Keller zu gehen, und die Polizei und Hilfspolizei raste förmlich in der Stadt herum, manchmal wie wahnsinnig, um die Leute in den Keller zu zwingen. Die Leute sagten, es fallt uns gar nicht ein, dieses Affentheater dauernd mitzumachen. Sogar Beamte weigerten sich, in die Keller zu gehen. Die Dümmsten und die Folgsamsten waren natürlich wieder die Proleten. Die befolgen alles treuherzig. Viele legten sich einfach ins Bett, so daß in verschiedenen Häusern die Blockwarte mit der Anzeige bei der Polizei drohen mußten. Am aufgeregtesten waren die sogenannten Hilfspolizisten, von denen es eine Unmenge gibt. Es sind meistens ältere Geschäftsleute, die gedient haben. Man steckt sie in die alten grünen Gendarmerie-Uniformen und gibt ihnen eine gelbe Armbinde.
Am 26. September gingen die wildesten Gerüchte über die Bombardierung von Friedrichshafen um. In X. wollte man sowohl das Schießen als auch den Einschlag von Bomben gehört haben. Am Tage darauf wurde dann die ganze Sache in der Zeitung dementiert und den „blöden“ Schwätzern mit Einsperren gedroht.
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Quelle: Bernd Sösemann, Propaganda. Medien und Öffentlichkeit in der NS-Diktatur. Bd. 2. Stuttgart: Franz Steiner, 2011, S. 1042.