Kurzbeschreibung

Wilm Hosenfeld (1895-1952) hatte während des Zweiten Weltkriegs den Rang eines Hauptmanns der Wehrmacht inne und diente im deutsch besetzten Polen. Er ist heute vor allem für seine Bemühungen bekannt, mehrere bekannte polnische Juden zu verstecken und bei ihrer Rettung zu helfen. Unter anderem rettete er Władysław Szpilman, einen bekannten jüdischen Pianisten und Komponisten, während der endgültigen Räumung des Warschauer Ghettos im Jahr 1943. Nach dem Einmarsch der sowjetischen Roten Armee in Polen wurde Hosenfeld gefangen genommen und starb 1952 in einem Arbeitslager in der Sowjetunion. Sein Vermächtnis ist das eines vielschichtigen Mannes, der zwar stolz auf seine patriotische Gesinnung war, den Mitteln, mit denen die Nazis ihren Rassenkrieg und Völkermord durchführten, jedoch oft sehr kritisch gegenüberstand. Am 25. November 2008 wurde Wilm Hosenfeld von Yad Vashem, der offiziellen israelischen Holocaust-Gedenkstätte, als einer der „Gerechten unter den Völkern“ geehrt.

Diese Auszüge aus seinen Tagebüchern zeigen Hosenfeld als eine komplizierte und doch letztlich heldenhafte Figur. Von Anfang an lehnt Hosenfeld die seiner Meinung nach barbarischen und heimtückischen Methoden ab, die während der Französischen und der Bolschewistischen Revolution Ende des 18. bzw. Anfang des 20. Jahrhunderts angewandt wurden. Es ist klar, dass er das nationalsozialistische Projekt und die Revolution als etwas völlig anderes ansieht. Im weiteren Verlauf seiner Tagebucheinträge wird er jedoch Zeuge der Razzien und Deportationen in Warschau, die ihn zutiefst schockieren. In seinen Aufzeichnungen wird seine Kritik am Mangel an Ehre deutlich, den die Teilnahme an den grausamen und unmenschlichen Praktiken mit sich bringt. Seine Verachtung für seine Vorgesetzten wird deutlich, als er bei einem Abendessen am Tag nach den letzten Deportationen nach Treblinka Zeuge ihrer Gier und ihres Privilegs wird.

Tagebucheinträge von Hauptmann Wilm Hosenfeld (1942)

Quelle

Tagebucheintrag (Warschau,) ca. 18. -22. Januar 1942)

Die nationalsozialistische Revolution trägt in allem den Stempel der Halbheit. Die Geschichte berichtet von der Französischen Revolution grausame Tatsachen, erschütternde Unmenschlichkeiten ebenso, wie der bolschewistische Umsturz die tierischen Instinkte haßerfüllter Untermenschen entsetzliche Untaten an der herrschenden Schicht verüben ließ. Mag man vom menschlichen Standpunkt aus beides aufs tiefste bedauern und verurteilen, so muß man doch das Bedingungslose, das Entschiedene, Rücksichtslose und Unwiderrufliche anerkennen. Es gibt kein Paktieren, keinen Schein, keine Zugeständnisse. Was diese Umstürzler tun, tun sie ganz, zielbewußt und ohne Rücksicht auf Weltgewissen und Moral und Herkommen. Die Jakobiner sowohl als die Bolschewisten schlachten die herrschende Oberschicht ab und richten die königlichen Famflien hin. Sie brechen mit dem Christentum und führen einen Vernichtungskampf dagegen mit dem Ziel der gänzlichen Austilgung. Sie sind von ihren [Ideen?] besessen, nicht nur fanatisiert; daher gelingt es ihnen, die Menschen ihres Staatsvolkes in Kriege zu verwickeln, die sie mit Schwung und Begeisterung fuhren, damals die Revolutionskriege, heute den Krieg gegen die Deutschen. Ihre Theorien und Umsturzgedanken üben eine ungeheure Kraft aus über die Volksgrenzen hinaus.

Die Methoden der Nationalsozialisten sind andre, im Grund aber verfolgen auch sie den einen Gedanken, die Ausrottung, Vernichtung der Andersdenkenden. Gelegentlich erschießt man soundso viele, auch Volksgenossen, aber man vertuscht und verschweigt es vor [der] Öffentlichkeit, man sperrt sie in Konzentrationslager, läßt sie dort langsam verkommen und zugrunde gehen. Die Öffentlichkeit erfährt nichts davon. Wenn man schon Staatsfeinde ergreift, muß man auch den Mut haben, sie vor der öffentlichkeit zu brandmarken und dem Gericht der Öffentlichkeit zu übergeben.

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Hitler bietet der Welt den Frieden an, rüstet aber zu gleicher Zeit in unheimlicher Weise auf. Er verkündet der Welt, daß er nicht daran denkt, andre Völker dem deutschen Staatsverband einzuverleiben, ihnen ihr Recht auf Eigenstaatlichkeit zu nehmen, aber was macht man mit den Tschechen, mit den Polen, Serben? Gerade in Polen wäre es doch nicht nötig gewesen, ein Volk im geschlossenen Siedlungsraum der Eigenstaatlichkeit zu berauben. Und sieht man die Nationalsoziahsten mal selber an, wieweit sie die nationalsoziahstischen Grundsätze

leben, zum Beispiel „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“. Vom Kleinen Mann verlangt man es, aber sie selbst denken nicht . daran. Wer steht am Feind – das Volk, nicht die Partei. Jetzt

zieht man schon die Leute mit körperlichen Gebrechen zum Heeresdienst ein, und in den Parteidienststellen und der Polizei sieht man die geradesten, gesündesten jungen Leute weit vom Schuß ihren Dienst tun. Wofür hebt man sie auf? Polen und Juden nimmt man das Eigentum, um es sich selbst anzueignen und sich in seinen Genuß zu setzen. Jene haben nichts zu essen, darben und frieren, man selbst nimmt keinen Anstoß daran, für sich alles zu nehmen und zu verprassen.

Tagebucheintrag (Warschau,) 26. September 1942

Gestern abend bei von Schoene zum Abendessen eingeladen. Dr. Stab [enow] ist mit seiner Geliebten auch da, und die Gräfin Larotzka. Die Unterhaltung ist denkbar oberflächlich, jeder nimmt sich selbst sehr wichtig, man sagt sich Schmeicheleien. St[abenow] fühlt sich als der mächtige Mann,der Herr des Ghettos. Von den Juden spricht er so wie von Ameisen oder sonstigem Ungeziefer. Von der „Umsiedlung“, das heißt, dem Massenmord, so wie von Vertilgung von Wanzen bei einer Entwesung in einem Haus. Seine Dame ist auf das Kostbarste angezogen; das stammt sicher alles dorther, was sie auf dem Leib trägt. Von der Furchtbarkeit des Krieges, von Opfern, Entbehrungen, Leiden spürt dies Volk nichts. Sie bereichern sich, huren und völlern. Aber macht man sich nicht selbst mitschuldig an all dem? Warum esse ich an der reich gedeckten Tafel der Reichen, wo ringsum größte Armut ist und die Soldaten hungern? Warum schweigt man und protestiert nicht? Wir sind alle zu feige und bequem, zu falsch und verrottet, darum müssen wir auch alle den Sturz ins Verhängnis mitmachen.

Tagebucheintrag (Warschau,) 25. Juli 1942

Wenn das wahr ist, was in der Stadt erzählt wird, und zwar von glaubwürdigen Menschen, dann ist es keine Ehre, deutscher Offizier zu sein, dann kann man nicht mehr mitmachen. Aber ich kann es nicht glauben. – In dieser Woche sollen schon 30 000 Juden aus dem Ghetto herausgefuhrt sein, irgendwohin nach dem Osten. Was man mit ihnen macht, ist trotz aller Heimlichkeit auch schon bekannt. Irgendwo, nicht weit von Lublin, hat man Gebäude aufgeführt, die elektrisch heizbare Räume haben, die durch Starkstrom, ähnlich wie ein Krematorium, geheizt werden. In diese Heizkammern werden die unglücklichen Menschen hineingetrieben und dann bei lebendigem Leib verbrannt. An einem Tag kann man so Tausende umbringen. Man spart sich die Erschießungen und das Erdeauswerfen und Zuwerfen für die Massengräber. Da kann die Guillotine der Franz[ösischen] Revolution doch nicht mehr mit, und in den russ[ischen] G.P.U.-Kellern hat man solche Virtuosität im Massenmord auch nicht erreicht.

Aber das ist ja alles Wahnsinn, das kann doch nicht möglich sein. Man fragt sich, warum wehren sich die Juden nicht. Viele, die allermeisten sind durch Hunger und Elend so geschwächt, daß sie keinen Widerstand leisten können und sich stumpf in ihr Schicksal ergeben; andre wieder mögen froh sein, daß die Qual ein Ende hat. Daß sich auch furchtbare Szenen der Verzweiflung abspielen, kann man sich denken. Statt der deutschen Polizei sollen dort ukrainische und litauische Polizisten eingesetzt sein. Ich finde das töricht und dumm. Es soll doch alles geheimgehalten werden, aber diese Leute schweigen doch nicht. Wahrscheinlich halten sie sich schadlos an den zurückgelassenen Wertsachen und dergleichen und werden auf diese Weise für ihre Henkerdienste entlohnt. Ich könnte mir auch nicht denken, daß deutsche Polizisten fähig wären, das mitzumachen. – Auf der Kommandantur traf ich gestern einen Geschäftsmann, der mich darauf aufmerksam machte, daß jetzt im Ghetto alles zu haben sei, und zwar sehr billig. Uhren, Ringe, Gold, Dollar, Teppiche und was nicht alles. Ein anderer Herr, der mir auf der Straße begegnete, das heißt, wir trafen uns und unterhielten uns kurz und gingen auseinander. Dann kam er mir wieder nachgelaufen und fragte, ob ich die Sache mit Schweden und der Türkei gehört habe. Er erzählte auch von den Judengreueln und war maßlos empört. Zum Geburtstag des Führers soll Himmler die Liquidierung von 50 000 Juden im Generalgouvernement gemeldet haben. Ein schönes Geburtstagspräsent. Das wird alles erzählt; was mag davon wahr sein? Jedenfalls die Juden verschwinden. Wie sie ausgerottet werden, ist eine zweitrangie Frage.

Tagebucheintrag (Warschau), 6. September 1942

Heute ist die Schlußveranstaltung der Wehrmacht-Kampfspielwoche. So erfreulich das alles ist, so sind meine Gedanken doch oft nicht dabei. Ich sehe tiefer. Was hier zum Sport kommt, sind fast alles ehemalige Sportler, die aus Neigung kommen, die SS-Männer beteiligen sich auch noch aus Ehrgeiz. Offiziere und Kommandeure, besonders die von der OFK [Oberfeldkommandantur], haben für die Sportwettkämpfe kein Interesse. Am vorigen Sonntag bei der Eröffnung ließ er sich vertreten, der Chef des Stabes lehnte auch ab; zuletzt fand man einen alten Major, der es machen mußte. Bei der Siegerehrung wird es nicht anders sein. Der General ist in Urlaub. Sein Stellvertreter Graf Bothmer [ist] unpäßlich; irgendein Oberst, der mit der Sache gar nichts zu tun hat wird es machen müssen. Ich bin davon nicht überrascht. Die Offiziere sind vergreist, nervös, unzufrieden. Sie tun ihre Pflicht, sitzen eisern ihre Dienststunden ab, aber dann wollen sie ihre Ruhe haben. Das öffentliche Leben geht sie nichts an. Sie sehn sich überall auf den zweiten Platz gestellt. Als Offiziere der einstmals stolzesten Armee haben sie keine Bedeutung und kein Ansehen mehr in dem reinen Verwaltungsdienst der Etappe. Sie fühlen sich in ihrer Ehre gekränkt angesichts der Schandtaten, die durch die Beauftragten Himmlers an den Polen und neuerdings an den Juden verübt werden. Sie müssen zu all diesen ungeheuren Greueln stillschweigen und wissen doch, daß sie im Ernstfall und bei der unausbleiblichen Reaktion das alles mitverantworten müssen und mit den Soldaten kämpfen müssen. Daß die Wehrmacht bei dieser Kampfspielwoche ganz unter sich ist und sich als ein machtvolles Ganzes einmal zu repräsentieren die Gelegenheit hatte, das verstehen sie nicht. Die einen aus Gleichgültigkeit, Verstimmung, Bequemlichkeit, die andern aus Blindheit und Gedankenlosigkeit.

Quelle: Wilm Hosenfeld „Ich versuche jeden zu retten.“ Das Leben eines deutschen Offiziers in Briefen und Tagebüchern. München: Deutsche Verlags-Anstalt, 2004, S. 574-576; 657-658; 630-631; 652-653. © 2004, Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH