Kurzbeschreibung

Der Schutz der Jugend angesichts des Autoritätsverfalls familiärer und gesellschaftlicher Strukturen durch Krieg und Nachkriegszeit ist ein zentrales Thema der politischen Diskussion der Nachkriegszeit. Im März 1948 werden im Bayerischen Landtag noch einmal die vielfältigen Ursachen der Krise aufgezählt und als Gegenmittel gesetzliche Maßnahmen, vor allem gegen Schwarzhandel und Prostitution, eine Verbesserung der materiellen Verhältnisse z.B. im Wohnbereich und eine Rückbesinnung auf religiöse Grundprinzipien in der Erziehung gefordert.

Beratung des Antrags der Abgeordneten August Schwingenstein (CSU) und Genossen im Bayerischen Landtag betr. Schutz der Jugend vor sittenloser Beeinflussung (1948)

Quelle

Der Bayerische Landtag
Ausschuss für den Staatshaushalt

München, 11. März 1948

Der Berichterstatter führt aus, daß sich der vorliegende Antrag gegen eine der übelsten und bedrückendsten Zeiterscheinungen richtet, nämlich gegen die Verwahrlosung und Gefährdung unserer Jugend. Welches Ausmaß diese Gefährdung angenommen hat, ergibt sich aus den täglichen Zeitungsberichten, den Gerichtsberichten, den Berichten der Polizeibehörden und der Wohlfahrts- und Fürsorgeorganisationen, die eine erschütternde Sprache sprechen. Die Verwahrlosung und Gefährdung der Jugend hat sehr tiefe Ursachen. Es handelt sich um die Auswirkung der falschen Erziehungsgrundsätze des dritten Reiches, das jahrelange Fehlen der Väter und oft auch der Mütter, die einem Verdienst nachgehen mußten. Die Ursachen liegen ferner in der jahrelangen vollständigen Unzulänglichkeit der Schulen, in der gesamten Unruhe und dem Durcheinander unserer Zeit, in der Anwesenheit der vielen Ausländer usw. Auch die mit der Besatzung zusammenhängenden Fragen spielen herein.

[]

Schwingenstein befürwortet unter Hinweis auf die Ausführungen des Berichterstatters eine straffere Durchführung der hier in Frage kommenden Gesetze. Er erklärt, daß er gestern bei verschiedenen Jugendämtern vorgesprochen habe und erschüttert gewesen sei über die Dinge, die er dort erfahren habe und die Deutschland bereits als ein Sodom und Gomorra erscheinen lassen. Es handelt sich heute nicht so sehr um den Aufbau der Städte als vielmehr um den Aufbau der Menschen von innen heraus und namentlich um den Aufbau unserer Jugend. Jugendgesetze sind recht, aber man sollte auch ein Gesetz gegen die Verwahrlosung schamloser Eltern erlassen; denn diese sind die Hauptschuldigen.

Die Verwahrlosung der Jugend trifft man nicht nur bei den sogenannten unteren Ständen an, sie geht hinauf bis in die sogenannten oberen Schichten und wirkt sich hier in Bezug auf die Raffiniertheit der geschlechtlichen Betätigung in relativ erhöhtem Grade aus. Manche verwahrloste Eltern leben heute von der legalisierten Prostitution ihrer Kinder. Das Dirnenwesen hat bereits wieder einen Umfang angenommen, daß sich eine anständige Frau am Abend nicht mehr auf der Straße sehen lassen kann.

Vor der Simmernschule treiben sich Schwarzhändler herum, Ausländer, aber auch Deutsche. Sie bieten Zigaretten und Gummiverhütungsmittel (!) an. Umkreist sind sie von der neugierigen Jugend, der hier wirklich ein „Anschauungsunterricht“ geboten wird.

[]

Wir werden unsere Städte umsonst aufbauen, wenn wir nicht wieder die anständigen Bewohner bekommen wie im alten Deutschland. Das ist aber nicht nur möglich durch gesetzliche Methoden, wie der Mitberichterstatter mit Recht erwähnt hat, sondern auch durch eine entsprechende Erziehung. Unser Volk, vor allem unsere Kinder müssen wieder religiös erzogen werden.

[]

Frau Dr. Probst bezeichnet im Einklang mit den Ausführungen des Antragstellers das Problem der Zersetzung der Familien als das grundlegende Problem überhaupt. Damit ist der ganze Staat gefährdet. An dieser Zersetzung ist aber nicht nur das Wohnungsproblem und die Not als Erbe der Hitlerzeit schuld. Die gesetzlichen Bestimmungen sind zum Teil ungenügend, so insbesondere auf dem Gebiete der Stellung der alleinstehenden Mutter. Die Rednerin detailliert hier und erinnert an ihre früheren einschlägigen Ausführungen im Landtag. Sie beschäftigt sich sodann mit den Verhältnissen in der Ostzone und verweist auf einen Erlaß, wonach die „Freundin“, die „Kameradin“ in der Sozialversicherung der Ehefrau gleichgestellt wird. Theaterstücke werden dort abgesetzt mit der Begründung, daß die Familie darin zu stark verherrlicht wird. Hier ist Wachsamkeit am Platze, damit die Familie nicht eine weitere Zersetzung erfährt.

[]

Im Anschluß an die Ausführungen des Abgeordneten Dr. Rief verbreitet sich der Redner ausführlich über die Wohnverhältnisse in München und seine Erfahrungen und Bemühungen als Bürgermeister dieser Stadt. Er erwähnt unter anderem, daß es 15 000 Einzelwohnräume in München gibt, wo seit Jahr und Tag 6 und mehr Personen Tag und Nacht bei einander hausen. „Wohnen“ kann man nicht mehr sagen. Einem Menschen, der in einer zerschlagenen Stadt keine Selbstzucht kennt und kein Verantwortungsgefühl besitzt auf Grund der jeweils gegebenen Verhältnisse, dem kann der Staat trotz aller Bemühungen einfach nicht helfen. Der Redner bezweifelt, ob er es erleben wird, daß diese furchtbaren Zustände noch eine entscheidende Änderung erfahren. Er will nicht den Stab brechen über eine wurzellos gewordene Jugend, die nicht so total verdorben ist, daß sie nicht mehr besserungsfähig wäre. Es ist nur notwendig, die Einrichtungen zu schaffen, die ihr die Möglichkeit bieten, einen kleinen Ersatz für Heimat und Elternhaus zu finden. Die Schulverhältnisse sind furchtbar, ebenso die Krankenhausverhältnisse und alles Übrige.

[]

Quelle: Stenografische Berichte des Landtages. 1. Wahlperiode 1946–1950. Drucksachen. 54. Sitzung des Ausschusses für den Staatshaushalt am 11. März 1948: TOP 8 (Beilage 639), S. 50–62; abgedruckt in Udo Wengst und Hans Günther Hockerts, Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland, Bd. 2/2: 1945–1949: Die Zeit der Besatzungszonen. Sozialpolitik zwischen Kriegsende und der Gründung zweier deutscher Staaten. Dokumente. Baden-Baden: Nomos, 2001, S. 448–49.

Beratung des Antrags der Abgeordneten August Schwingenstein (CSU) und Genossen im Bayerischen Landtag betr. Schutz der Jugend vor sittenloser Beeinflussung (1948), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/die-besatzungszeit-und-die-entstehung-zweier-staaten-1945-1961/ghdi:document-4558> [24.04.2024].