Kurzbeschreibung

In den 1950er Jahren wird in der Bundesrepublik der Umgang mit der Jugend zu einem wichtigen gesellschaftspolitischen Thema. Die teils ironisch, teils empört so genannten „Halbstarken“ begeistern sich für amerikanische Populärkultur und geraten mit dem konservativen Zeitgeist der Adenauer-Ära in Konflikt. Der Musikkritiker Walter Abendroth zeichnet 1956 in der Wochenzeitschrift Die Zeit vor diesem Hintergrund ein düsteres Bild der bundesdeutschen Gesellschaft. Für Abendroth ist die übertriebene Begeisterung für Film- und Musikidole, der Fanatismus der „Fans“, Ausdruck einer Pervertierung religiöser Formen, die sich in der säkularisierten und ich-bezogenen Nachkriegsgesellschaft nicht mehr länger an echte Ideale binden, sondern Formen von Aberglauben dienen.

„Das große Kopfschütteln über die Jugend“ (1956)

  • Walter Abendroth

Quelle

Das große Kopfschütteln über die Jugend

Der moderne Aberglaube der Film- und Jazzfans

Drei Zeitungsmeldungen zuvor:

In Norwalk, Kalifornien, haben drei Buben im Alter von sieben, neun und zehn Jahren ihren Vater ermordet, um sich für den Hausarrest zu rächen, den er wegen eines Diebstahls (Gewehrpatronen) über sie verhängt hatte. Anstatt irgendwelcher Zeichen von Reue äußerten sie vor der Polizei lediglich ihr Bedauern darüber, daß ihr gleichzeitiger Mordanschlag auf die Mutter mißglückt sei. Das Hauptmotiv war: Die Knaben wollten ein Leben nach ihrem eigenen Geschmack führen . . .

In Manchester und in London versetzte der Jazzfilm „Rock around the clock“ die Jugendlichen in eine tumultarische Tanzraserei, die sich bis zu den wüstesten Exzessen steigerte . . .

In München (und anderswo) gibt es Fan-Clubs, zu denen sich filmbegeisterte Mädchen zusammengetan haben, die sich beim Eintritt verpflichten, „jeden Film zu besuchen, in dem ihr Idol eine Rolle spielt und ihren Star gegen alle Angriffe zu verteidigen“. Der „Internationale Maria-Schell-Club“ beispielsweise beklagte sich über ein Pressefoto, auf dem Maria Schell gemeinsam mit Romy Schneider figurierte (was eine unstandesgemäße Zusammenstellung sein sollte); wogegen der „Romy-Schneider-Club“ sich aus Anlaß einer Verulkung Romys durch einen Kabarettkomiker als „zutiefst in den heiligsten Gefühlen betroffen“ erklärte . . .

Soweit die Tatsachen. Man wird sagen: Die zweite oder gar die dritte dieser Meldungen gehöre nicht in die Nachbarschaft der ersten. Denn Filmfan-Blödelei und Jazzfan-Orgien sind schließlich keine Verbrechen. Das stimmt natürlich. Allein es gibt dennoch einen „gemeinsamen Nenner“, auf den sich diese so verschieden scheinenden Symptome bringen lassen; auf den sie sogar gebracht werden müssen, wenn das heute so vielfältig diskutierte „Jugendproblem“ in seinem innersten Wesen erkannt werden soll. Es kann nicht energisch genug ausgesprochen und nicht oft genug wiederholt werden, daß es kein Jugendproblem gäbe, wenn die Erwachsenen den Jugendlichen keine problematische Welt bereiteten!

Fanatismus – Grundübel unserer Zeit

So furchtbar die erste Meldung klingen, so tiefes Entsetzen sie auslösen mag: auch sie enthüllt nur die grausige Konsequenz einer Geisteshaltung, die dem Normalmenschen unseres Zeitalters geläufig ist (wohlgemerkt: die Geisteshaltung — noch nicht die von allen Hemmungen entlastete Konsequenz). Welcher moderne Mensch fände es nicht selbstverständlich, mit allen einigermaßen statthaften Mitteln sich das Leben „nach seinem Geschmack“ einzurichten?

Was allerdings die Statthaftigkeit der Mittel betrifft, so ist dieser Begriff durchaus veränderlich; und von der — allgemein üblichen — Auffassung, alles nicht ausdrücklich Verbotene sei erlaubt, bis zu der Meinung, Verbote würden einzig durch die Willkür der Machthaber gesetzt, bedarf es nur eines kurzen Gedankenweges. Mit anderen Worten: Auch der durchschnittliche Erwachsene von heute wird in der radikalen Durchsetzung seiner Interessen nicht durch Hemmungen eines unumstößlichen Moralbewußtseins behindert, sondern lediglich durch die staatlichen Gesetze, günstigstenfalls noch durch den ungeschriebenen Sittenkodex seiner Gesellschaftsschicht. Wen indessen an jener ersten Begebenheit am meisten entsetzt, daß Kinder eine solche totale Gefühllosigkeit ihren eigenen Eltern gegenüber besitzen und betätigen können, der halte sich die gegenwärtig nicht eben seltenen umgekehrten Fälle vor Augen: die grauenvollen Mißhandlungen und Quälereien, die von Eltern an ihren eigenen Kindern begangen werden. Auch diese Eltern gehören ja zu den „Älteren“, zu den Erwachsenen, welche die Atmosphäre aller Möglichkeiten schaffen, in die doch die Kinder dann hineinwachsen und in der sie sich nach ihren Tendenzen einrichten. Dieser Vorgang darf nicht so einfach vorgestellt werden, als spielte er sich notwendigerweise wie Druck und Gegendruck zwischen den gleichen Erlebnispartnern ab, also derart, daß unmenschliche Eltern gewissermaßen „als Antwort“ unmenschliche Kinder im Gefolge hätten. Die geschichtliche Logik (wenn man hier davon sprechen darf) funktioniert vielmehr sozusagen „blind“; sie fragt nicht nach den Partnern, nicht nach der persönlichen Schuld, sondern die Schuld der Zeiten wirkt sich in ihr aus und gebiert neues Verschulden in der angebahnten Richtung oder in der natürlichen Gegenbewegung.

Auch bei den beiden Beispielen eines verhältnismäßig noch harmlosen „Jugendfanatismus“ wird jene „Schuld der Zeiten“ sichtbar. Auf dem Fanatismus liegt hier die Betonung und in ihm jedenfalls die Gefahr. Wir haben ein hemmungsloses Mißverhältnis zwischen Eltern und Kindern als Folgeerscheinung eines fanatischen politischen Überzeugungsgrundsatzes ja ebenfalls schon kennengelernt: in der Hitlerzeit, wo die „Treue zum Staat“ unter Umständen tödlichen Verrat am eigenen Fleisch und Blut verlangte — und bewirkte. Wer weiß, zu welcher Verworrenheit und Verwegenbeiten sich Massenräusche, wie die Orgien der Jazzfans, einmal auswachsen mögen, wenn nur im kritischen Augenblick entsprechende Motive eingeschaltet werden? (Wobei — wohlverstanden — die Werte der Vitalität und die ästhetischen Werte, die im echten Jazz stecken, nicht geleugnet werden sollen.) Denn auch die leicht zu belächelnde Schwärmerei der Filmfans ist durchaus nicht ungefährlich; denn auch hier bekundet sich das alte Phänomen einer wiederum im Grunde „massenhaften“ Begeisterung, deren Intensität und fanatische „Einsatzbereitschaft“ (ja, diese allzu bekannte Nazi-Vokabel ist hier wieder einmal am Platze!) grotesk erscheint, gemessen an den Anlässen.

Der Jazz-Wahn und der Film-Wahn unserer Jugend, sie haben beide abermals ihre Vorbedingung in entsprechenden Haltungen der Erwachsenen. Auch den Eltern sind ja in vielen Fällen jene Kulte, die sich an Jazz und Film anknüpfen, Gegenstand einer inneren Teilnahme. Jedoch ist es auch da schwierig, persönliches Verschulden zu konstatieren. Auch da tritt „Schuld der Zeiten“ in Erscheinung. Und deren wesentlicher Kern liegt fraglos in dem Abbau des Religiösen.

Das Religiöse ist eine Urkraft, deren der Mensch sich niemals entäußern kann, ob er es will oder nicht. Es setzt sich durch, auch wenn alle seine gewohnten Zeichen verkümmern, alle seine ursprünglichen Gegenstände verhängt sind. Es leitet sich dann ab in ungeahnte Richtungen — aber es bleibt insgeheim lebendig, sei es auch in völlig pervertierter Form.

Unsere Zeit ist — pauschal gesehen — auf dem Wege, sich aus einer a-religiösen in eine anti-religiöse zu verwandeln. Es ist daher damit zu rechnen, daß sich die unterdrückten religiösen Impulse anderweitig geltend machen. Wenn wir die Zeiterscheinungen, von denen hier die Rede ist, unter diesem Aspekt betrachten, so ergeben sich die überraschendsten Aufschlüsse.

Psychoanalyse ersetzt die Beichte

Daß der Verlust an echtem Glauben in gleichem Maße Aberglauben produziert, weiß man längst; es bestätigt sich auch heute wieder allenthalben. Die Raserei der Jazzfans (Fälle, wie der gemeldete sind ja schon öfter vorgekommen) erinnert doch wohl deutlich an das mittelalterliche religiöse Flagellantentum und das Gehaben der St.Veitstänzer; die Symptome sind nahezu dieselben. Und die Mentalität der Filmfans mit ihrer Star-Anbetung muß durchaus schon als eine Perversion der Heiligenverehrung bezeichnet werden. Die Erscheinungen religiöser Selbstübersteigerung sind also geblieben. Aber ihre Inhalte sind auf die Ebene völliger Primitivität abgesunken. Man möchte sagen: Die Erscheinungen sind annähernd voraussetzungslos geworden — und das ist um so bedrohlicher, da sie sich leicht einmal wieder an weit gefährlicheren Anlässen entzünden können.

Nur nebenbei bemerkt sei noch jene offenkundigere Entsprechung modischer Geisteshaltung mit einer ursprünglich religiösen Übung, die besonders in den USA und in der Schweiz in wuchernder Blüte steht. Aus dem Glauben an den Segen der Beichte, an das Sakrament der Buße ist der massenhafte Aberglaube an die Allheilkraft der Psychoanalyse geworden (der begrenzte — therapeutische Wert dieser Methode soll mit dieser Feststellung keineswegs bestritten werden). Immer mehr nimmt dieser Aberglaube auch bei uns wahnhafte Formen an; immer mehr wächst sich der Andrang zu den Psychoanalytikern und Psychotherapeuten zu einem wahren Sport für allzu Sorgenfreie aus . . .

Nimmt man noch hinzu, daß nicht nur die religiösen Instinkte heute weithin pervertiert sind, sondern auch das andere ehemalige Stabilitätsmoment: die allgemeine, humane Bildung sich in einen durchaus unernsten Standesbegriff aufgelöst hat — davon zeugen die „höheren“ Starkulte der modernen Musikinterpretenverehrung, das obligate Festspielreisesport-Gesellschaftsspiel und die wahllose Autogrammjägerei — dann muß doch klarwerden, welcher Art die Beschaffenheit der Welt ist, die unserer Jugend von den Älteren bereitet wird und deren Impulse sie mit der verdoppelten Energie ihrer Wachstumsjahre aufnimmt — und ad absurdum führt.

Es ist ebenso sinnlos wie ungerecht, die Erklärung für alle möglichen unfaßbar scheinenden Jugendexzesse in den jungen Menschen selbst finden zu wollen. Es gibt da, bei Licht besehen, überhaupt nichts Unfaßbares oder schwer Erklärliches. Man muß die Ursachen nur an der richtigen Stelle suchen!

Quelle: Walter Abendroth, „Das große Kopfschütteln über die Jugend. Der moderne Aberglaube der Film- und Jazzfans“, Die Zeit, Nr. 39, 27. September 1956, S. 15