Kurzbeschreibung

Neue Kulturformen finden in Westdeutschland nicht nur in Berlin eine Heimat, sondern auch in anderen Städten. Der Artikel des Journalisten Wolfgang Menge in der Wochenzeitschrift Die Zeit berichtet Ende 1952 in ironischem Ton über die recht brave Atmosphäre in einem „Existenzialistenkellerchen“, das junge Leute aus der Studenten- und Jazz-Szene in Hamburg gegründet haben.

Artikel über das Hamburger „Existenzialistenkellerchen“ (1952)

Quelle

Wenn der Club wach wird...

In Hamburg hat sich ein Existenzialistenkellerchen etabliert, das freilich bei näherem Betrachten doch etwas harmloser ist als sein französisches Vorbild oder das aus Berlin, das ebenfalls ein bißchen Pate gestanden haben mag: Die Badewanne.

Gegründet wurde der Keller durch zwei schon vorher bestehende Gruppen: von Mitgliedern der Hamburger Studentenbühne und von Mitgliedern des Jazz-Clubs. Das ist eine vortreffliche Mischung, die sich am deutlichsten darin zeigt, daß der Titel von der Studentenbühne stammt, während die Tätigkeit vom Jazz-Club bestimmt wird.

„Arbeitskreis für progressive Kunst“ nennen die jungen Leute ihren Verein, der bald eingetragen werden soll und mit großem Trara eröffnet wurde. Die „Arbeitsräume“ befinden sich in einem Keller der Innenstadt, der ehemals als Luftschutzkeller später als Kohlenkeller auch schon wichtige Aufgaben zu erfüllen hatte. Die Künstler des Vereins haben ihn etwas herausgeputzt. Die Wände sind mit Zeitungspapier beklebt, das mit Farbe bestrichen ist. Hier und da hängt auch eine Lampe und eine Theke ist ebenfalls vorhanden, ein Podium für die Band, und Fässer zum Sitzen ... ja, das ist wohl alles. Ach nein, ein dickes Tau gibt es noch; das soll die Arbeitenden von der Band trennen. Sonst ist alles Beton. Das Geld ist knapp und die Miete frißt schon 200,– DM.

„Die 65 Mitglieder des Clubs zerfallen in zwei Hälften“, sagte der Leiter der Gruppe Bühne und Film (es gibt noch die Gruppen: Musik, bildende Kunst, Literatur und Publizistik), „das ist eine neuartige Symbiose. Da sind also einerseits die Künstler, die sich einbilden es zu sein, die es sind und die es werden wollen. Und dann das Publikum, das wir gleich mit in den Club aufgenommen haben.“

Ziel des Clubs ist es, zu „tagen, zu arbeiten, gesellig sich zusammenfinden“. Nun ja, so schlimm wird’s schon nicht werden. Am ersten Abend wurden bereits Ausschnitte geboten und die selbstgedichteten Angelegenheiten, die dort rezitiert wurden, lassen wirklich darauf schließen, daß man es wohl besser bei der Musik belassen sollte. Die jungen Clubmitglieder lauschten zwar ergeben, was ihnen ihr Vorstand von Bühne und Film da vorlas, aber so recht dran glauben, daß das nun die moderne Kunst sei, wollten sie auch nicht. Im Grunde sind es auch alles brave Jungens, die sich dort zusammengefunden haben. Alle so 20, 21 Jahre alt, gerade aus der Schule entlassen oder jetzt in der kaufmännischen Lehre im Import–Export, wie sich das für eine Hansestadt gehört. Daß dieser Vorsitzende im achten Semester Philosophie studiert, ist schließlich nicht ihre Schuld.

Bei den Mädchen – ein Drittel der Clubmitglieder gehören dem weiblichen Geschlecht an – weiß man nicht so genau, ob sie brav sind. Aber Schlimmes kann man ihnen auch nicht nachsagen. Denn schon am ersten Abend hörte ich eine von ihnen voller Verantwortungsbewußtsein sagen: „Nee, die ganze Nacht durch kann ich gar nicht tanzen. Um sieben Uhr wird doch meine Kleine wach. Und dann hab ich doch keine ruhige Minute mehr.“

Denn getanzt wird. „Laß die nur ihren literarischen Quatsch machen, das soll uns nicht stören“, sagte ein anderes Vorstandsmitglied, „am Sonnabend ist hier jedenfalls was los. Dann wird hier high-life gemacht“. High-life mit Bier und Coca-Cola, etwas anderes darf nicht ausgeschenkt werden und mit drei Bands. Denn wenn der Verein auch nur einen berühmten Dichter als Mitglied aufzuweisen hat (er heißt Hans Henny Jahn), so besitzt er doch schon drei Bands: eine pflegt den Dixieland-Stil wie Anno New Orleans, eine zweite den Bebop und die dritte macht Klaviermusik à la George Shearing.

Wenn die Bands spielen, wird der Club wach. Dann vibriert der Beton und draußen auf der Straße bleiben die Passanten stehen. Die zarten Mädchen werden durch die Luft gewirbelt und jeder muß herumtoben, soviel er kann. Dabei läßt sich beim Verschnaufen natürlich nicht vermeiden – wegen der spärlichen Sitzgelegenheiten – daß mal ein Mädchen auf dem Schoße ihres Dixiegalans ausruht. Aber alles in Ehren; denn der deutsche Jazz kennt keine Erotik. Der Ekstase, die er hervorruft, haftet etwas Abstraktes an: es ist keine Vitalität darin sondern Hysterie. Trotzdem: wer den ganzen Tag über langweilige Ziffern in noch langweiligere Bücher hineinschreiben muß, scheint sich hier zu erholen.

Übrigens kam als prominenter Gast gleich ein Franzose, Gilbert Domb aus Paris, der in St. Germain des Près selbst vor längerer Zeit einen Existenzialistenkeller gegründet hat. „Naturellement“, sagte er, „die Literatur, das ist wie bei uns“ (er spricht und versteht nicht ein einziges Wort Deutsch) „aber tanzen, tanzen können die steifen Hamburger leider gar nicht. C’est la poisse.“

Quelle: Wolfgang Menge, „Wenn der Club wach wird...“, Die Zeit, Nr. 49, 4. Dezember 1952, S. 14.