Kurzbeschreibung

Der detaillierte Bericht der Kommission der SED zur „Republikflucht“ vertritt zwar einerseits die offizielle Linie von Staat und Partei, dass die Abwerbung von ostdeutschen Fachkräften von Westdeutschland aus gezielt betrieben werde, um die DDR zu schwächen. Andererseits wird aber auch eingeräumt, dass der Fluchtbewegung vielfach Ursachen zugrunde liegen, die mit den unbefriedigenden politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen in der DDR selbst zu tun haben. Der Bericht empfiehlt eine Reihe von Verbesserungen, die aber — wie z.B. verbesserte Freizeitmöglichkeiten oder eine größere Auswahl von Illustrierten — eher kosmetischer Natur sind. Auch die in der DDR selbst erhobenen Zahlen belegen, dass vor allem junge und gut ausgebildete Menschen in den Westen gehen.

Das Politbüro des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands: Bericht der Kommission zu Fragen der Republikflucht (25. Juni 1956)

Quelle

Das Politbüro des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands: Bericht der Kommission zu Fragen der Republikflucht

Berlin, 25. Juni 1956

Die Ursachen der Republikflucht

Nach den Unterlagen der HVDVP wurden im Jahre 1955 insgesamt 270.115 Personen republikflüchtig.

Die Republikflucht wird von Bonner Stellen planmäßig organisiert und von ihnen als ein wesentliches Mittel zur Weiterführung des „kalten Krieges“ betrachtet. Man muß davon ausgehen, daß das Kaiserministerium in Verbindung mit den verschiedenen Ost- und Spionagebüros nach einem einheitlichen Plan zur Organisierung der Republikflucht arbeitet und gegenwärtig die „gesamtdeutsche Arbeit“ hauptsächlich unter dem Gesichtswinkel der Schwächung der Deutschen Demokratischen Republik durch den systematischen Abzug bestimmter Berufsgruppen aus der DDR führt. Dabei wird als das Hauptmittel die Ausnutzung der gegenwärtigen Wirtschaftskonjunktur in Westdeutschland betrachtet.

Das unmittelbare Ziel der Organisatoren der Republikflucht besteht in folgendem:

1. Eine Behinderung und Verzögerung der planmäßigen wirtschaftlichen Aufbauarbeit und eine Schwächung der Verteidigungskraft der DDR;

2. Eine Stärkung des wirtschaftlichen und militärischen Potentials Westdeutschlands, wobei die Republikflüchtigen gleichzeitig zur Beeinträchtigung des Kampfes der westdeutschen Arbeiter gegen die Monopole ausgenutzt werden;

3. Eine propagandistische Ausnutzung der Republikflucht zur Steigerung der Hetze gegen die DDR und ihre internationale Diskriminierung.

a) In Durchführung dieses Vorhabens wird die Abwerbung von Arbeitskräften aus der DDR auf breiter Basis mit verschiedenen Mitteln und Methoden durchgeführt. Durch die Westpresse und Hetzsender werden immer wieder der Arbeitskräftebedarf und die angeblich besseren Arbeits- und Lebensbedingungen herausgestellt. Besonders Fachkräfte in einzelnen Berufszweigen werden teils in versteckter, teils in offener Form zur Republikflucht aufgefordert. Hierbei machen bestimmte Konzernbetriebe und Verwaltungen den angesprochenen Bürgern der DDR Versprechungen in Bezug auf Pension, Rentengewährung u.a. Vorteile. Eine wesentliche Rolle bei der Abwerbung spielt auch der von den Bonner Dienststellen versprochene Lastenausgleich.

Die ökonomische Anziehungskraft Westdeutschlands unter den Bedingungen der augenblicklichen Konjunktur begünstigen [sic] die Bestrebungen westdeutscher Abwerbestellen.

Die Zusendung von Hetzblättern und Stellenangeboten an Bürger der DDR, worin neben den üblichen Verleumdungen der DDR die Aufforderung zur Republikflucht enthalten ist, wird von den westdeutschen Stellen in großem Umfang organisiert.

Von Bedeutung ist, daß durch Republikflüchtige an Bekannte und Verwandte in der DDR Briefe gesandt werden mit der Aufforderung, nach Westdeutschland zu kommen.

b) In einer Reihe von Fällen, insbesondere bei der Organisierung der Republikflucht für besonders wichtige Fachkräfte, die auch gleichzeitig für Spionagezwecke benutzt werden, wird die Republikflucht unmittelbar durch Agenten der verschiedensten westdeutschen und westberliner Zentralen und Filialen organisiert.

c) Diese feindliche Tätigkeit wird begünstigt durch eine Reihe von Faktoren, die es dem Gegner leichter machen, seinen Plan zu verwirklichen.

Dazu gehören vor allem:

1. Die ungenügende Beachtung und gewisse Gleichgültigkeit des Staatsapparates wie aber auch der politischen Organisationen in der DDR gegenüber der Republikflucht.

Es gibt keine Atmosphäre des Kampfes gegen die Republikflucht und es fehlt ein einheitlicher Plan unserer Gegenmaßnahmen, der alle demokratischen Parteien und Organisationen in diesen Kampf einbezieht.

2. Die ungenügende Erläuterung und nicht richtige Anwendung, die oftmals nur administrative Durchführung von Beschlüssen und Anweisungen der Partei und der Regierung, wodurch oftmals Unklarheiten und Verärgerung bei der Bevölkerung hervorgerufen werden.

3. Die bislang ungenügenden Maßnahmen zur Heranziehung der Bevölkerung bei der Beratung, Beschlußfassung und Durchführung von Verordnungen und Gesetzen, wodurch bei Teilen der Bevölkerung der Eindruck entsteht, daß sie selbst auf die demokratische Gestaltung des Lebens kaum einen Einfluß nehmen.

4. Die Beschlüsse der 3. Parteikonferenz sind in bezug auf die Perspektive der verschiedensten Bevölkerungsschichten in der DDR bisher nur in vollkommen ungenügender Weise den Betreffenden dargelegt und erläutert worden. (Das betrifft die allgemeine Perspektive der DDR, wie auch die Perspektive der verschiedenen Bevölkerungsschichten).

5. Verschiedene ungesetzliche Maßnahmen und eine ungenügende Beachtung der demokratischen Rechtsnormen erleichterten in verschiedenen Bevölkerungsschichten die Hetze des Gegners über eine „angebliche Rechtsunsicherheit“ und störten somit ihr generelles Vertrauen zur Arbeiter-und-Bauern-Macht.

6. Die bei uns noch auftretenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten und Engpässe erscheinen Teilen der Bevölkerung als „unüberwindbar“, weil wir noch ungenügend der Bevölkerung den allgemeinen Prozeß unserer wirtschaftlichen Entwicklung, die großen Perspektiven darlegen und uns auch scheuen, über die Zusammenhänge, die die Ursachen für diese Schwierigkeiten sind, zu sprechen.

7. Die ungenügende Beachtung der Entwicklungsschwierigkeiten für Angehörige einiger Berufsgruppen, vor allen Dingen bei Jugendlichen nach Beendigung der Lehrzeit.

8. Die ungenügende Einbeziehung der gesellschaftlichen Organisationen bei der Aufklärung über die Ursachen gelegentlich auftretender Versorgungsschwierigkeiten und deren Mobilisierung zur schnellen Überwindung solcher Schwierigkeiten.

9. Das Fehlen einer richtigen Preisdifferenzierung zwischen bestimmten Waren und die zum Teil zu niedrigen Lohn- und Gehaltssätze in einigen Gruppen.

10. Die sich aus dem Wohnraummangel ergebenden Schwierigkeiten und die Fehler in der Wohnraumverteilung sowie die Komplikationen, die sich aus längeren Trennungen von Familienangehörigen ergeben.

11. Die nicht richtige Handhabung, respektive die widerspruchsvolle Handhabung bei der Erteilung von Reisegenehmigungen nach Westdeutschland, die ungenügende Aufklärung über bestimmte Maßnahmen, zu denen wir zum Schutze der DDR gezwungen sind (Kontrollen u.ä.) sowie die hierbei vorkommenden Überspitzungen.

12. Das oftmals vorhandene bürokratische und seelenlose Verhalten von Funktionären des Staates und der gesellschaftlichen Organisationen, die oftmals übertriebenen Bestimmungen bei der Ausstellung von Bescheinigungen oder Genehmigungen, die in die persönlichen Verhältnisse der Menschen eingreifen.

13. Die ungenügende Wachsamkeit verschiedener Staatsorgane und der gesellschaftlichen Organisationen gegenüber den Methoden der Abwerbung in Verbindung mit westdeutschen Studentendelegationen, gesamtdeutschen Beratungen von Wissenschaftlern und bei der Anknüpfung von geschäftlichen Beziehungen.

14. Die oftmals überspitzte Auftragserteilung an Angehörige der Intelligenz, vor allem an Lehrer, zur Erfüllung gesellschaftspolitischer Aufgaben, die hierdurch von ihnen als Zwang empfunden werden.

15. Die ungenügende Ausnutzung bewußter werktätiger Menschen aus der DDR, die nach Westdeutschland reisen sowie die ungenügende Einwirkung der Nationalen Front, der Gewerkschaften und der anderen Massenorganisationen auf die aus der Bundesrepublik in der DDR zu Besuch weilenden Bürger.

16. Der vollkommen ungenügende Einsatz von Rückkehrern und neu Hinzugezogenen aus Westdeutschland im Kampf gegen die Republikflucht.

Schlußfolgerungen für politische Maßnahmen

Es kommt darauf an, im Zusammenhang mit einer breiten Erläuterung der Ergebnisse des XX. Parteitages der KPdSU und der 3. Parteikonferenz die große Realität des 2. Fünfjahrplanes darzulegen und hierbei die Perspektiven des wachsenden Wohlstandes immer breiteren Schichten der Bevölkerung aufzuzeigen und die Bevölkerung zu überzeugen, daß alle die Möglichkeit besitzen, bei uns in Sicherheit und ohne Furcht zu leben.

Dabei soll der Bevölkerung die unterschiedliche Entwicklung des gesamten gesellschaftlichen Lebens in Westdeutschland und in der DDR erläutert werden, warum der Aufbau des Sozialismus in der DDR verbunden ist mit einer immer breiteren Entfaltung der Demokratie durch die aktive Teilnahme aller Bevölkerungsschichten am gesamten staatlichen Leben und damit in Verbindung der notwendigen Erweiterung der demokratischen Rechte der Bürger.

Die erweiterte Teilnahme der Bevölkerung zur Sicherung der Einhaltung der demokratischen Gesetzlichkeit erfordert zugleich die äußerste Wachsamkeit und die größte Anteilnahme der Bevölkerung am Kampf gegen diejenigen, die die Gesetze der Republik brechen.

Das Büro des Präsidiums des Nationalrates soll die breite Diskussion unter der gesamten Bevölkerung in Verbindung mit der Neuwahl der Ausschüsse der Nationalen Front entwickeln. Die Diskussion muß ihren Niederschlag finden in der gesamten Presse und im Rundfunk. Das Büro des Präsidiums des Nationalrates soll bei der Entwicklung der Aussprachen in der Bevölkerung über die weitere Demokratisierung differenziertes Material entsprechend der Lage und der Auffassungen in verschiedenen Bevölkerungsschichten herausgeben.

Es sind folgende Maßnahmen erforderlich:

1. Da die Organisierung der Republikflucht „ein Mittel zur Aufrechterhaltung und Weiterführung des kalten Krieges“ ist, ist es notwendig, daß der gesamte Staatsapparat und alle gesellschaftlichen Organisationen nach einem einheitlichen Plan im Kampf gegen die Republikflucht einbezogen werden. Es ist erforderlich, daß sowohl im Block wie im Präsidium des Nationalrates über diese Frage interne Beratungen durchgeführt werden;

2. Es ist unbedingt zu sichern - bei Festlegung der persönlichen Verantwortung -, daß bei der Herausgabe von Anordnungen, Anweisungen durch die Organe die politischen Auswirkungen jeder Maßnahme erwogen werden und jede Maßnahme den entsprechenden Berufsgruppen gründlich und verständlich erläutert wird. Dabei ist die Methode, die beabsichtigten Maßnahmen vorher mit den Betreffenden zu beraten, so weit wie irgend möglich anzuwenden;

3. In allen Tätigkeitsbereichen des Staats- und Wirtschaftsapparates wie auch in den gesellschaftlichen Organisationen ist ein energischer Kampf zu führen gegen Bürokratismus, seelenloses Verhalten und gegen die Methode des Kommandierens. Es wäre zweckmäßig, aus erzieherischen Gründen die Frage des Verhaltens von Staats- und Wirtschaftsfunktionären zur Bevölkerung in Form von Seminaren und regelmäßigen Aussprachen zu behandeln;

4. Es muß für alle Funktionäre des Staatsapparates wie der gesellschaftlichen Organisationen zur Richtschnur gemacht werden, daß in der Aussprache mit der Bevölkerung die Unduldsamkeit gegenüber unklaren oder auch falschen Auffassungen, sofern sie nicht einer feindlichen Einstellung entspringen, überwunden wird.

Die geduldige Überzeugungsarbeit bei prinzipieller Darlegung unseres Standpunktes muß die Hauptmethode der Erziehung der Mitarbeiter in den Verwaltungen wie auch der politischen Arbeit in allen Bevölkerungsschichten sein;

5. Bei der Übertragung gesellschaftspolitischer Aufgaben ist alles zu beseitigen, was als eine Methode des Zwanges empfunden wird. Es ist darauf hinzuwirken, daß die gesellschaftlichen Aufgaben im Zuge der Überzeugung und der Freiwilligkeit durchgeführt werden und dabei das Milieu, die Denkweise und die Möglichkeiten jedes einzelnen Berücksichtigung finden;

6. Es ist zweckmäßig und erforderlich, den Beratungen der gewählten Körperschaften (Bezirkstage, Kreistage, Gemeindevertretungen) mehr Gewicht in der Öffentlichkeit zu geben durch Einladung bestimmter Berufsschichten bei der Behandlung dieser oder jener Frage, durch größere Publizität in Presse und Rundfunk, durch eine lebendigere Aussprache in den Beratungen, indem auch Anfragen aus der Öffentlichkeit und einzelner Abgeordneter gestellt und beantwortet werden. Es ist erforderlich, daß neben den bestimmt festgelegten Sprechstunden der Abgeordneten zugleich die Abgeordneten Beratungen durchführen, die im Zusammenhang stehen mit der Erörterung verschiedener Fragen einzelner Bevölkerungsschichten, vornehmlich mit solchen Fragen, die im Zusammenhang stehen mit der Planerfüllung auf den verschiedensten Gebieten;

7. Den Vorsitzenden der Räte der Bezirke und Kreise sind Rechte zu übertragen, die gewährleisten, daß zurückgekehrte Republikflüchtige auch arbeitsmäßig untergebracht werden;

8. Die besuchsweisen Einreisen westdeutscher Delegationen und einzelner Bürger in die DDR, deren feindliche Tätigkeit von vornherein unverkennbar ist, ist zu verhindern. Das gilt insbesondere für alle offiziellen westdeutschen Studentenorganisationen, die in den „Ost-West-Arbeitskreisen“ zusammengefaßt sind und vom Kaiser-Ministerium angeleitet werden. An allen Universitäten, Hoch- und Oberschulen dürfen in Zukunft nur solche Delegationen angenommen werden, mit denen vorher auf Grund genauester Prüfung entsprechende Vereinbarungen getroffen wurden. Das Recht, Studentenorganisationen einzuladen, ist den einzelnen Fakultäten zu entziehen.

9. Überprüfung der Methode der Befragung von Personen durch die Polizei- und Sicherheitsorgane und Reduzierung dieser Befragungen auf ein Mindestmaß;

10. Besserer Ausbau der Freizeitgestaltung, insbesondere durch stärkere Ausnutzung von Stadien und Sportplätzen für künstlerische Großveranstaltungen, für Zwecke des Tanzes, Kinovorführungen im Freien u.a.;

11. Veränderungen im Pressewesen durch Schaffung einer größeren Auswahl von illustrierten Presseorganen, z.B. einer speziellen Frauen-Illustrierten und Einschränkung der Herausgabe kleinerer Fachzeitschriften für einen engen Personenkreis, Zurverfügungstellung größerer Papierkontingente zur Verstärkung einer größeren Vielseitigkeit der Presse;

12. Genosse Ministerpräsident wird ersucht, die Arbeit der Kontrollorgane (Kontrollstellen) so zu verändern, daß die Kontrollen dieser Organe in Betrieben, Institutionen usw. so durchgeführt werden, daß eine Beunruhigung der Werktätigen und der Angehörigen der Intelligenz bei der Überprüfung vermieden wird. Die Ergebnisse der Kontrollen sind im Betrieb bekanntzugeben, und die Werktätigen sind selber stärker zur Tätigkeit der Kontrollorgane heranzuziehen.

Weitere Maßnahmen

1. Die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik gibt in Form der Beantwortung von Anfragen Republikflüchtiger eine Erklärung ab über Straffreiheit und rechtliche Stellung derjenigen, die aus Westdeutschland zurückkehren wollen, weil sie das Verlassen der Republik als eine falsche Entscheidung erkannt haben und über die Perspektiven ihres Lebens in Westdeutschland enttäuscht sind;

2. Beim Ausschuß für Deutsche Einheit wird eine Arbeitsgruppe geschaffen, die sich ständig mit den Methoden des Gegners bei der Abwerbung befaßt und Materialien ausarbeitet und herausgibt, die im Kampf gegen die Republikflucht nützlich sind (Briefe von Enttäuschten, Situation in den Flüchtlingslagern, Methoden der Ausbeutung, Werbung für die Fremdenlegion usw.);

3. Das Präsidium des Nationalrates führt eine Aussprache mit Rückkehrern und Hinzugezogenen aus den verschiedensten Berufsschichten durch. Das Ergebnis dieser Aussprache wird in einer Massenbroschüre ausgewertet;

4. Die Aufklärungslokale der Nationalen Front sind neu zu organisieren und zu wirklichen Zentren neuer Methoden der Agitation zu machen (Treffpunkte zu Aussprachen mit verschiedenen Bevölkerungsschichten, Vielgestaltigkeit der Aussprachethemen - die vor allem im engen Zusammenhang mit den speziellen Fragen des entsprechenden Arbeitsgebietes stehen, Einladung von Wissenschaftlern, Künstlern, Schriftstellern, Behandlung von Fragen der Technik, Fragen der Berufsbildung usw.);

5. Auf Bezirks- und Kreisebene sind durch die Nationale Front Rückkehrkonferenzen durchzuführen und das Ergebnis dieser Konferenzen ist breit zu popularisieren;

6. Die verschiedensten westdeutschen Delegationen, die die DDR besuchen, werden angehalten, die Frage der Republikflucht vom Standpunkt der demokratischen friedliebenden Bevölkerung Westdeutschlands aufzurollen. (Enthüllen der Ausnutzung der Republikflüchtigen durch die Adenauer-Politik gegen die Verständigung im Kampf gegen die westdeutschen Arbeiterorganisationen, als Lohndrücker und Antreiber, zur Freimachung von Soldaten für die NATO-Armee usw.);

7. Die Kommission für Agitation erhält den Auftrag, einen besonderen Agitationsplan zum Kampf gegen die Republikflucht auszuarbeiten unter Berücksichtigung folgender Gesichtspunkte:

Behandlung der Fragen in Presse und Rundfunk;

Behandlung der Fragen in DEFA-Wochenschau und in der Behandlung der Frage in einem Spiel- oder Dokumentarfilm;

Behandlung der Frage durch einzelne oder ein Kollektiv von Schriftstellern in Form eines realistischen Romans wie auch in Form eines wirksamen realistischen Hörspiels im Rundfunk.

Die politische Argumentation gegen die Republikflucht ist fortlaufend anhand der allgemeinen Entwicklung und der Lage auszubauen.

8. Die Sammlungen und Spendenaktionen sind beträchtlich einzuschränken und auf ein Mindestmaß zu reduzieren.

Genosse Maron wird beauftragt, die entsprechenden Maßnahmen auf Grund des Sammlungsgesetzes zu treffen;

9. Es wird vorgeschlagen, bei den Räten der Kreise zivilamtliche Kommissionen zu bilden. Diese Kommissionen bearbeiten die Anliegen der Bürger in Fragen des Reiseverkehrs und der Übersiedlung nach Westdeutschland an Stelle des bisherigen Verfahrens bei den Volkspolizeikreisämtern (VPKA).

Auf Grund persönlicher Aussprachen mit den Bürgern prüfen die Kommissionen die im Einzelfall vorliegenden Umstände und helfen den Bürgern bei der Rückkehr von geflüchteten Familienangehörigen in die DDR.

Die Kommissionen setzen sich aus erfahrenen, in der Bevölkerung bekannten, aktiven Bürgern oder Abgeordneten der Volksvertretungen zusammen. Sie arbeiten mit den Organen des VPKA eng zusammen. Die Anliegen der Bürger werden von der Kommission erforderlichenfalls an das VPKA weitergeleitet.

Anlage zur Vorlage über die Republikflucht

Nachdem schon das Jahr 1954 eine von Quartal zu Quartal ansteigende Gesamtzahl der Republikflucht aufwies, brachte das Jahr 1955 eine weitere beträchtliche Steigerung.

1954

1955

1956

I. Quartal

37.345

42.366

75.181

II. Quartal

38.131

52.862

III. Quartal

43.515

76.670

IV. Quartal

54.288

98.217

insgesamt

173.279

270.115

= Steigerung um 56%

Obwohl nach den bisherigen Feststellungen im I. Quartal 1956 im Verhältnis zum IV. Quartal 1955 ein Rückgang der Republikfluchten (von 98.217 auf 75.181) festzustellen ist, kann das noch nicht als Beweis für eine sinkende Tendenz angesehen werden. Einerseits ist bei einem Vergleich des I. Quartals 1955 mit dem I. Quartal 1956 eine Erhöhung von fast 80% ersichtlich.

Andererseits war auch im Vorjahr im I. Quartal 1955 ein Rückgang gegenüber dem IV. Quartal 1954 zu verzeichnen. Man kann also von einer gewissen Saisonbedingtheit sprechen, wobei sich in diesem Jahr besonders die Kältewelle im Februar-März hemmend ausgewirkt haben dürfte.

Die soziale Aufgliederung nach den Unterlagen der HVDVP ergibt das folgende Bild:

1954:

1955:

Arbeiter

47.953

88.463

Spezialarbeiter

5.235

12.384

Bergarbeiter

1.243

2.048

Angestellte

24.164

40.779

LPG-Bauern

241

929

Kleinbauern

720

1.081

Mittelbauern

533

693

Großbauern

274

260

Lehrer

1.498

2.223

Ingenieure

805

2.028

Techniker

258

523

Chemiker

92

148

Wissenschaftler

50

69

Künstler

129

121

Ärzte

201

290

Juristen

84

71

Studenten

969

1.811

Handwerker

1.594

1.828

Geschäftsleute

1.597

2.112

Besitzer von Privatbetrieben

455

467

Die altersmässige Aufgliederung:

1954

1955

I. Quartal 1956

15 – 18 Jahre

15.709

26.857

6.608

18 – 25 Jahre

40.452

80.280

18.840

25 – 35 Jahre

29.905

45.855

13.111

35 – 40 Jahre

10.164

13.832

4.427

40 – 50 Jahre

21.062

30.594

9.280

Nach der Parteizugehörigkeit waren

1954

1955

I. Quartal 1956

Mitglieder der SED

5.178

8.421

2.037

Mitglieder der CDU

847

1.108

292

Mitglieder der LDP

757

909

270

Mitglieder der NDP

549

853

217

Mitglieder der DBP

293

499

117

Mitglieder der FDJ

11.910

25.237

5.042

Seit Anfang des Jahres 1954 ist also ein ständiges Steigen der Republikflucht zu verzeichnen, der höchste Stand war im Monat Oktober 1955 mit 37.091 zu verzeichnen.

Bemerkenswert sind die Veränderungen in dem Anteil der verschiedenen Altersgruppen und einzelnen Berufszweige an der Republikflucht. Die Zahl der Republikflüchtigen im Alter von 18-25 Jahren stieg von 40.452 im Jahre 1955 auf 80.280 im Jahre 1955, d.h. um rund 100%, während sich die Gesamtzahlen aller Republikflüchtigen um 56% erhöhten.

In den Altersgruppen 25–35 Jahre war eine Steigerung um 60% (von 29.905 auf 45.855) zu verzeichnen.

Die Verschiebungen zwischen den Berufsgruppen ergeben folgendes Bild:

Die Schwerpunkte in der illegalen Abwanderung liegen im Jahre 1955 in bedeutend grösserem Maßstab als 1954 bei Fach- und Spezialarbeitern, Technikern und Ingenieuren, Lehrern und Wissenschaftlern. Die Zahl der abgewanderten Facharbeiter ist im Verhältnis zu 1954 um 88%, die Zahl der Intelligenz um über 100% gestiegen, die Zahl der Bauern und Landarbeiter dagegen nur um 18%.

Der Stand der Republikfluchten 1956:

im Januar 1956 wurden insgesamt 24.682 Personen und

im Februar 26.696 Personen flüchtig.

Im Januar 1956 wurden gegenüber dem Januar des Vorjahres 10.569 Republikflüchtige mehr registriert.

Die Februarzahl liegt um 12.684 Republikflüchtige höher als im Februar 1955.

Januar

Februar

März

I. Quartal insges.

24.682

26.696

23.803

75.181

davon

9.511

10.519

9.384

männlich

10.701

11.441

10.200

weiblich

4.470

4.736

4.219

Kinder

Die soziale Aufgliederung für das I. Quartal 1956 ergibt:

Januar

Februar

März

Gesamt

Arbeiter

6.522

7.438

6.572

20.532

Spezialarbeiter

1.127

1.297

1.013

3.437

Bergarbeiter

119

132

132

383

Angestellte

3.817

4.010

3.302

11.129

Lehrer

228

221

135

584

Ingenieure

185

170

146

501

Techniker

60

49

31

140

Chemiker

14

9

5

28

Wissenschaftler

3

9

9

21

Ärzte

57

38

40

135

Studenten

121

173

133

427

Parteimäßige Aufgliederung:

Januar

Februar

März

Gesamt

SED

751

728

558

2.037

CDU

107

108

77

292

LDP

95

101

74

270

NDP

74

75

68

217

DBP

28

51

38

117

FDJ

1.660

1.975

1.407

5.042

Örtliche Schwerpunkte

Schwerpunkte der Republikflucht sind nach den vorliegenden Unterlagen der Bezirke:

Schwerin

Rostock

Magdeburg

Erfurt

Potsdam

Im Vergleich zur Bevölkerungszahl der Schwerpunktbezirke ist der Anteil der Republikflüchtigen in Prozenten wie folgt:

Einwohnerzahl am 1.1.1955

Republikflucht 1954/55

%

Schwerin

643.629

22.746

3,53

Rostock

857.870

28.290

3,29

Magdeburg

1.454.482

45.428

3,12

Erfurt

1.330.976

37.946

2,85

Potsdam

1.215.530

32.641

2,69

Leipzig

1.600.523

42.985

2,69

Legale (genehmigte) Verzüge nach Westdeutschland und Westberlin:

1954

1955

1956

I. Quartal

4.494

10.151

6.849

II. Quartal

6.764

10.426

(ohne Dresden und Cottbus mit Dresden und Cottbus ca. 7 000)

III. Quartal

9.249

9.169

IV. Quartal

10.350

11.439

Insgesamt

30.857

41.185

Zurückgekehrte Republikflüchtige

1954

1955

1956 - I. Quartal

43.277

41.937

9.932

Zuzüge aus Westdeutschland und Westberlin

1954

1955

1956 - I. Quartal

33.962

30.991

4.866

Interzonenreiseverkehr DDR - Westdeutschland (PM 12 a)

genehmigt

abgelehnt

1954

2.252.555

1.880

1955

2.015.868

48.298

I. Quartal 1956

247.315

64.161

Interzonenreise-Verkehr Westdeutschland - DDR (Aufenthaltsgenehmigungen)

ausgegeben

zur Anmeldung gekommen

1954

1.499.957

1.042.622

1955

1.341.590

926.433

I. Quartal 1956

215.561

129.038

Quelle: SAPMO-BArch, DY 30/J IV 2/2/483, Bl. 15–24 und 42–47, Anlage Nr. 4 zum Protokoll der Sitzung des Politbürds des Zentralkomitees der SED, Nr. 29/56, vom 19. Juni 1956 (Abschrift). Bezug: Darstellungsband 8, II (Sozialpolitische Denk- und Handlungsfelder), Anm. 45; abgedruckt in Dierk Hoffmann und Michael Schwartz, Hrsg., Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 8: 1949–1961: Deutsche Demokratische Republik. Im Zeichen des Aufbaus des Sozialismus. Baden-Baden: Nomos, 2004, Nr. 8/149.