Quelle
Beobachtungen und Erfahrungen im Heimkehrerhotel Willingen
I. Der Ostheimkehrer
Seine seelische Beschaffenheit. Er ist ein Mensch, den eines Teils das furchtbare Gefangenendasein in Russland, zum anderen aber die völlig anders geartete Lebensweise des Landes in besonderem Masse geformt hat. Wesen und Gesichtsausdruck sind russisch geworden.
Er kommt zerlumpt. Aus fahlem, gelben Gesicht blicken tiefliegende Augen, als seien Leben und Seele ausgelöscht. Ohne anscheinend innere Anteilnahme steht er, wo er hingestellt wird, wartet entschlusslos auf Befehle, die dann mechanisch ausgeführt werden. An seelischen Regungen kennt man nur starke Verschüchterung und Misstrauen gegen jeden. Sieht er Dinge, die ihm begehrenswert oder irgendwie nützlich erscheinen, so bricht ungehemmt die Gier aus (Essen, Kleidung, Gerät).
Psychologische Erklärung: Das furchtbare Erlebnis zwang
zur seelischen Abkapselung,
zur brutalsten Ausnutzung aller Möglichkeiten, das eigene Leben zu erhalten. – Moral des Wolfsrudels –
Schwere psychologische Komplexe und Hemmungen haben sich gebildet. Die Gefangenschaft hat diese Menschen nicht geläutert oder gebessert. Sie haben viel vom eigentlichen Mensch-Sein verloren. Sie sind Dostojewskynaturen geworden. Zu uns kommt das „Strandgut“ der Ostheimkehrer: Heimatlose, total Ausgebombte, Menschen, die Ihre Angehörigen verloren haben. Wer noch jemand hat, ist selten bereit, zu uns zu kommen; denn den treibt es mit der letzten Kraft zu den Angehörigen.
Beispiele zu dem Aufgeführten:
Im Munsterlager wurden zwei sich um eine Kippe zankende Heimkehrer vom englischen Sergeanten angefahren. Beide fielen auf die Knie und riefen mit flehend erhobenen Händen: „Hab Erbarmen, Herr!“
Nach dem Ausladen in Munsterlager standen vor Kälte zitternde, in Lumpen gehüllte Gestalten und warteten völlig apathisch auf weitere Anordnungen, während die gleichzeitig aus England eingetroffenen Gefangenen ungeduldig den Abtransport forderten und die entsprechenden Vorkehrungen trafen. Als ihre Seesäcke ausgeladen wurden, drängten mehrere aus Russland kommende Gefangene hinzu und starrten mit gierigen Blicken, darauf lauernd, wie sie etwas „abservieren“ könnten.
Ein junger Heimkehrer kommt mit dem Abendzug ins Hotel zu uns, wagt nicht, in die erleuchteten Zimmer einzutreten, verkriecht sich ein einen dunklen Raum und wartet, bis er am anderen Morgen entdeckt wird.
Geistige Betreuung: Mit körperlicher Besserung wird das Auftreten sicherer, das Interesse wächst. Man sitzt nicht mehr stundenlang vor sich hinstierend und geistig abwesend herum, liest gern Unterhaltungsbücher, bemüht sich um eine Arbeitsstelle, spielt gern eine Art Tisch-Billard (Spende vom YMCA), musiziert auf verschiedenen Musikinstrumenten, nimmt an Veranstaltungen teil: Kirchgang, Musikabende, Vorträge, Jugendabende, spricht auch leichter jetzt vom Vergangenen und nimmt regen Anteil an Presseberichten. Man übt Kritik an denen, die noch nicht von der „russischen Kultur“ lassen können, fühlt sich aber besonders als ein neuer zivilisierter Mensch, wenn man durch das evangelische Hilfswerk in Korbach neu eingekleidet wurde.
Der Heimkehrer wird weitgehend unterstützt bei der Suche nach einer Arbeitsstelle. Stellenangebote durch Bauern, Handwerker und Baufirmen sind reichlich vorhanden. Zuzugsgenehmigung erfolgt durch den Flüchtlingskommissar in Giessen. Bisher wurden alle 150 wunschgemäss untergebracht. Zwei Amputierte wurden nach dem Umschulungsheim in Rotenburg o.d. Tauber (1 ½ Jahre Lehrzeit) weitergeleitet.
Jeder Heimkehrer erhält Taschengeld und Briefpapier, ferner die Vergütung der Fahrtkosten bei der Arbeitssuche. Das Heim bemüht sich weiter, die bisher fehlende Verbindung mit den Angehörigen herzustellen.
Die seelische Betreuung; Das Ziel ist, die besonders hart getroffenen Ostheimkehrer zu vollwertigen Gliedern des Volkes zu machen. Die psychologischen Krankheitssymptome (Komplexe, Hemmungen) sollen weder abreagiert, noch auf- oder zugedeckt werden, sondern sollen langsam abklingen. Die Erkenntnis, dass er ohne Christus nicht vollwertiger Mensch sein kann, soll in ihm erweckt werden.
Zunächst sind die Heimkehrer von der Möglichkeit, sich in unserem Heim erholen zu können, überrascht und sagen erstaunt: „Dass es noch so etwas gibt!” Sie fühlen sich geborgen, verlieren etwas von der Angst, ohne ausreichende Kräfte in den rücksichtslosen Daseinskampf geworfen zu werden. Man empfindet dankbar, dass es noch “Christen” gibt und ist zumeist bereit, aufgeschlossen an der Morgenwache teilzunehmen. Die dem Heim zugesandten Schriften werden gerne entgegengenommen.
Ansatzpunkte zur religiösen Betreuung: Auslegung des Bibeltextes unter Betrachtung zeitnaher Zustände und des Menschen, wie er ist. Der Ostheimkehrer hat den Glauben an den Menschen verloren. Er ist auf Grund seiner Erfahrungen Skeptiker oder Pessimist geworden. Wir wollen ihm helfen, ein lebens- und menschenbejahender Realist zu sein. Er soll die Unzulänglichkeit und Verwerflichkeit des Menschen und seiner Einrichtungen erkennen und wissen, dass er selbst erlösungsbedürftig ist. Die Frage: „Wie kann es in uns und um uns besser und anders werden?“ soll uns bewegen. Er soll erfahren, dass Tatchristentum („seid aber Täter des Wortes“) nicht aus eigener Kraft möglich ist: „ohne Dich können wir nichts tun“.
Heimkehrer treten in die Tür und warten, bis sie angesprochen werden und befolgen dann willig und dienstbeflissen alle Anordnungen.
Einer gesteht nach Wochen, dass es ihn eine schwere Überwindung kostet, an einem Müllhaufen vorüberzugehen, ohne dort nach „Brauchbarem“ herumzuwühlen.
Beim Essen stürzen sich alle auf die Schüsseln, machen die Teller übervoll und fragen nicht danach, ob auch der andere noch etwas bekommt, obwohl sie sich alle sattessen können.
Sie sind „stur“ geworden, treffen keine selbständigen Entschlüsse, drücken sich von der Arbeit, wenn es dabei nichts zu „ernten“ gibt.
Das sonst dem Deutschen eigene Arbeitsethos ist durch jahrelange sinnlose Tätigkeit verloren gegangen. (Im Herbststurm Laub zusammenrechen, das der Sturm sofort wieder verweht; Mauern errichten, die am anderen Tage infolge anderer Befehle wieder abgerissen werden . . .)
b) Die physische Beschaffenheit. Alle zeigen schwere Hungeroedeme (Gesicht, Unterleib und Füsse), zum Teil Herz- und Lungenleiden, Muskelschwund. 10% waren Amputierte.
II. Die Betreuung
a) Die gesundheitliche Betreuung. Nach der Aufnahme (Anlegung eines Personalbogens) erfolgt am ersten Tage die ärztliche Untersuchung. Die nötigen Medikamente werden besorgt. An Zusatzernährung wird gewährt:
Durch das Wirtschaftsamt eine gewisse Menge Butter, Fleisch, Käse und Nährmittel sowie täglich 1/3 Liter Vollmilch.
Zusätze durch das evangelische Hilfswerk in Form einer täglichen Morgensuppe (pro Tag 100g Schrot, 25g Zucker) und im Monat insgesamt 10kg Mehl für Saucen (für 40 Männer).
Zusätzliche Kartoffeln durch freiwillige Spenden.
Behandlung der Wassersucht: Carellscher Milchtag, ¾ Liter Vollmilch, Ausscheidung bis 5 ½ Liter Wasser, salzarme Kost, geringe Flüssigkeitsaufnahme (abends keine Getränke), Medikamente.
Für Lungengefährdete: Untersuchung im Lungensanatorium Brillon-Wald, durchschnittlich 1/3 der Heimkehrer.
Herzleidende: 15%, Zahnbehandlung: 80%, Anweisung für Brillenträger: 10%
Erfolg: Zunächst Gewichtsabnahme (Wasserausscheidung), dann rasche Gewichtszunahme innerhalb der ersten Woche. In vier Wochen durchschnittlich 25 Pfund. Das Wasser verschwindet aus dem Gesicht, später aus dem Unterleib, zumeist nicht vollkommen aus den Füssen. Das Aussehen wird frischer, die Kräfte nehmen bald zu. Im Allgemeinen weitgehende Besserung, doch noch nicht völlige Wiederherstellung der alten Kräfte. Körperliche Arbeit setzt in der dritten Woche ein. (Hilfe im Haus, Holzhacken, Hilfe bei Ortseinwohnern).
Quelle: Die psychische und physische Situation der Ostheimkehrer. (Beobachtungen und Erfahrungen im Heimkehrerhotel Willingen). Evangelisches Zentralarchiv in Berlin, 2/529.