Kurzbeschreibung

Wie aus dem ebenfalls in diesem Kapitel präsentierten Entnazifizierungs-Fragebogen hervorgeht, wurden alle erwachsenen Westdeutschen unter Androhung von Strafen gezwungen, einen umfangreichen Fragebogen mit über 130 Fragen auszufüllen, an dessen Ende sie bestätigen mussten, dass alle gemachten Angaben der Wahrheit entsprachen und dass „jede Auslassung oder falsche oder unvollständige Angabe ein Vergehen gegen die Militärregierung darstellt und strafrechtlich verfolgt und bestraft wird“. Es ist aufschlussreich, diesen Fragebogen sorgfältig zu lesen, auch um den Inhalt des Berichts des US-Hochkommissars und der westdeutschen Antworten darauf zu verstehen, welche ebenfalls in diesem Kapitel enthalten sind. Der Autor Ernst von Salomon schrieb in Form eines autobiografischen Romans einen vernichtenden Angriff auf die Politik der Alliierten, der ein Bestseller wurde und auch ins Englische übersetzt wurde. Hier sind einige Auszüge widergegeben. Von Salomons Angriff ist umso interessanter, als er ein ehemaliger Freikorpskämpfer und Rechtsradikaler war, der an Anti-Weimar-Putschen und Attentaten beteiligt war. Sein Leben und Wirken nach 1933 ist schwieriger zu definieren. Obwohl er nicht in der NSDAP und ihren verschiedenen Gruppierungen aktiv war, schrieb er mehrere nationalistische Bücher und später auch Filmdrehbücher mit antidemokratischen und antisemitischen Botschaften. Doch die Gestapo ordnete ihn eher in die Nähe des verfemten Gregor Strasser der NS-Bewegung ein. Zu seinen Freunden gehörten auch Männer, die später in der Untergrund-Widerstandsgruppe „Rotes Orchester“ mitwirkten. Seine Partnerin war Jüdin, die er vor der Deportation schützte. Nach dem Krieg wurde er wegen seiner politischen Vergangenheit interniert, kehrte aber nach seiner Entlassung in den 1950er und 1960er Jahren zur Schriftstellerei und zum Filmdrehbuchschreiben zurück und starb 1972. Im Zusammenhang mit der Nazifizierung und der Entnazifizierung Deutschlands ist seine Biografie also sehr lesenswert.

Ernst von Salomon, Der Fragebogen (1951)

Quelle

Military Government of Germany

Fragebogen

WARNUNG: Vor Beantwortung ist der gesamte Fragebogen sorgfältig durchzulesen. In Zweifelsfällen ist die englische Fassung maßgebend. Die Antworten müssen mit der Schreibmaschine oder in klaren Blockbuchstaben geschrieben werden. Jede Frage ist genau und gewissenhaft zu beantworten und keine Frage darf unbeantwortet gelassen werden. Das Wort „ja“ oder „nein“ ist an der jeweilig vorgesehenen Stelle unbedingt einzusetzen. Falls die Frage durch „Ja“ oder „Nein“ nicht zu beantworten ist, so ist eine entsprechende Antwort, wie z. B. „keine“ oder „nicht betreffend“ zu geben. In Ermangelung von ausreichendem Platz in dem Fragebogen können Bogen angeheftet werden. Auslassungen sowie falsche oder unvollständige Angaben stellenVergehen gegen die Verordnungen der Militärregierung dar und werden dementsprechend geahndet.

Ich habe nun den gesamten Fragebogen sorgfältig durchgelesen. Ich habe ihn sogar, ohne dazu besonders aufgerufen zu sein, mehrfach durchgelesen, Wort für Wort, Frage für Frage, die Sätze in deutscher und die in englischer Sprache. Es ist dies nicht der erste Fragebogen, mit dem ich mich beschäftige, ich habe mich schon mit mehreren Fragebogen gleichen Inhaltes und einer großen Reihe ähnlichen Charakters befaßt, zu einer Zeit und unter Umständen, über die in der Rubrik „Bemerkungen“ dieses Fragebogens noch einiges zu sagen ist. Auch während jener Zeitspanne vom 30. Januar des Jahres 1933 bis zum 6. Mai des Jahres 1945, einer Zeitspanne, die gewöhnlich als die des „Dritten Reiches“, billig als die des „Tausendjährigen Reiches“, kurz als die des „Nazi-Regimes“ und gut als die der nationalsozialistischen Regierung in Deutschland bezeichnet wird, auch während dieser Zeitspanne haben mir zahlreiche Fragebogen vorgelegen, und ich kann versichern, daß ich sie in jedem Falle sorgfältig durchgelesen habe.

Um von vornherein allen Ansprüchen zu genügen, die an mich auch in diesem Falle gestellt werden, möchte ich sogleich mitteilen, daß die Lektüre aller dieser Fragebogen stets die gleiche Wirkung hatte: sie löste in mir eine Reihe von Gefühlen aus, deren erstes und stärkstes das eines durchdringenden Unbehagens war. Wenn ich mich bemühe, dieses Gefühl genau zu bestimmen, so gelange ich dahin, es ehestens mit dem eines ertappten Schuljungen zu vergleichen, eines sehr jungen Menschen also, der erst zu Beginn seiner Erfahrungen mit jenen großen und drohenden Mächten steht, die sich ihm als Gesetz, Sitte, Ordnung und Moral darstellen. Er kann die Welt in ihrer Berechtigung, so zu sein, wie sie ist, noch nicht kennen, er hat ein gutes Gewissen, wenn er glaubt, mit ihr soweit in Einklang zu sein, und ein schlechtes, wenn dies nicht der Fall ist. Und er kann auch nicht wissen, daß sehr wohl einmal der Augenblick kommen wird, da er das berauschende Glück erfährt, diese Welt mit ihren Einrichtungen vor seinem eigenen Gewissen als schlecht zu empfinden, schlecht und von Grund auf neu zu gründen.

Nun bin ich infolge von Umständen, die in der Antwort auf die Frage 19 dieses Fragebogens behandelt werden müssen, in keiner Weise legitimiert, mich über Fragen des Gewissens gültig auszulassen. Nicht ich bin es, der es wünscht, dies zu tun. Aber wie soll ich die gesamte Einrichtung des Fragebogens anders auffassen, als einen modernen Versuch, mich zu einer Gewissenserforschung zu bewegen?

Die bewundernswürdigste Institution dieser Welt, die ich kenne, die katholische Kirche, kennt die Ohrenbeichte. Die Heilseinrichtung des Sakramentes der Beichte kennt nur Sünder, keine Verbrecher, und sie kennt nur eine Sünde, die nicht vergeben werden kann, die Sünde wider den Heiligen Geist. Die katholische Kirche sucht den Heiden, der da trachtet nach seinen eigenen Maßstäben glücklich zu werden, zu dessen Heil zu bekehren, dem Ketzer aber, der einmal die Botschaft gehört, ihr aber nicht folgen will, vermag sie nicht zu verzeihen. Das ist eine klare und runde Sache, um in einem gängigen Jargon zu reden, eine Angelegenheit voll sublimer Konsequenzen, die das Beichtgeheimnis in sich einschließen, wie auch die Möglichkeiten für den Einzelnen, das Maß an Gnade, das er sich erhofft, zu einem guten Teile von der eigenen, innersten Entscheidung abhängig zu machen, und ich könnte mich wohl dazu bekennen, müßte ich nicht befürchten, schon allein die Quintessenz der Lehren der Kirche, die zehn Gebote, stünden in einem schmerzhaften Widerspruch zu einer Reihe von Gesetzen, die ich neuerdings sehr zu beachten gehalten bin.

Denn nicht die katholische Kirche ist es, die in Fragen der Erforschung meines Gewissens an mich herangetreten ist, sondern eine Institution, weitaus weniger bewundernswürdig, die Alliierte Militärregierung. Sie kennt freilich jene sublimen Konsequenzen nicht. Sie naht mir nicht wie der Geistliche dem armen Sünder in der von der Welt abgeschiedenen Zelle des Beichtstuhles, sie sendet mir den Fragebogen ins Haus und beginnt sofort barschen Tones wie ein Untersuchungsrichter gegenüber dem Verbrecher mit einer Flut von 181 Fragen, sie fordert von mir kalt und knapp nichts weniger als die Wahrheit und droht gleich zweimal, am Anfang und am Ende des Fragebogens mit Strafen, deren Art und Ausmaß ich (siehe auch unter „Bemerkungen“) herzlich zu fürchten nicht umhin kann.

Es waren Vertreter der Alliierten Militärregierung, Männer in schmucken Uniformen und mit vielen bunten Auszeichnungen, die mich eindringlich darauf aufmerksam machten, daß die Frage nach dem Gewissen sich vor jedem Tun nicht zu stellen eines Mannes unwürdig sei. Sie saßen vor mir, einer nach dem anderen, sympathische und gepflegte junge Leute, und sie sprachen schlicht und selbstverständlich von einer so großen Sache, wie dem Gewissen, und ich bewunderte sie wegen ihrer apodiktischen Sicherheit und beneidete sie um die Geschlossenheit ihres Weltbildes.

Wenn ich auch immer versuchte, irgendein beabsichtigtes Tun mit irgendeiner Art von Gewissen in Einklang zu bringen, so stand ich jedesmal vor der grausamen Alternative, entweder an der Legislative des Gewissens zu zweifeln oder aber jegliches Tun gänzlich zu unterlassen.

Aus Ton und Inhalt des Fragebogens geht nicht hervor, aus welchen Gründen ich gefragt werde. Es ist mir nicht gelungen, von irgendeinem Vertreter irgendeiner Militärregierung zu er­fahren, welchen Zwecken etwa die Frage 108 wohl dienen möge. Wenn ich mich gewissenhaft prüfe, ob ich diesen Fragebogen ausfüllen kann, so ist der Gedanke unabweisbar, daß ich zumindest mit Beantwortung solcher Fragen, wie etwa 18 oder 25 oder 99 bis 102 oder 120 oder 126 bis 128, eine flagrante Verletzung der Rechte anderer begehen kann und damit etwas tue, was ich zutiefst für widersittlich halte. Angesichts des gesamten Tenors dieses Fragebogens und in Kenntnis der Tatsache, daß fast jeder Deutsche zumindest der westlichen Teile unseres Landes gehalten ist, ihn auszufüllen, muß ich geschärften Gewissens endlich die Befürchtung hegen, teilzuhaben an einem Akte, der unter seinen nicht kontrollierbaren Umständen doch geeignet sein kann, einem Lande und einem Volke, dem ich unausweichlich angehöre, zu schaden im Auftrag fremder Mächte, die ihre Herrschaft ausüben lediglich durch die historische Tatsache des deutschen Zusammenbruchs und auf Grund einer Abmachung, die geschlossen wurde mit Männern, von denen ihre Partner von vornherein annahmen, daß sie Verbrecher seien, fremder Mächte, die damit jedes Recht zur Herrschaft gewonnen haben, — jedes Recht außer dem einen, dem Recht nach dem Gesetz, nach dem sie selber angetreten, und gerade dadurch ein Vakuum entstehen ließen, in welchem uns erlaubt sein möge, uns anzusiedeln, uns, die wir uns jedes Rechtes begeben haben, jedes Rechtes außer dem einen, dem Recht nach dem Gesetz, nach dem wir selber angetreten.

Nur Ruhe, ich werde diesen Fragebogen ausfüllen. Ich habe auch die anderen alle ausgefüllt.

[]

40. In der folgenden Liste ist anzuführen, ob Sie Mitglied einer der angeführten Organisationen waren und welche Ämter Sie dabei bekleideten. Andere Gesellschaften, Handelsgesellschaften, Burschenschaften, Verbindungen, Gewerkschaften, Genossenschaften, Kammern, Institute, Gruppen, Körperschaften, Vereine, Verbände, Klubs, Logen oder andere Organisationen beliebiger Art, seien sie gesellschaftlicher, politischer, beruflicher, sportlicher, bildender, kultureller, industrieller, kommerzieller oder ehrenamtlicher Art, mit welchen Sie je in Verbindung standen oder welchen Sie angeschlossen waren, sind auf Zeile 96—98 anzugeben.

1. Spalte: „Ja“ oder „nein“ sind hier einzusetzen zwecks Angabe Ihrer jemaligen Mitgliedschaft in der angeführten Organisation. Falls Sie Anwärter auf Mitgliedschaft oder unterstützendes Mitglied oder im „Opferring“ waren, ist, unter Nichtberücksichtigung der Spalten, das Wort „Anwärter“ oder „unterstützendes Mitglied“ oder „Opferring“ sowie das Datum Ihrer Anmeldung oder die Dauer Ihrer Mitgliedschaft, als unterstützendes Mitglied oder im Opferring einzusetzen. — 2. Spalte: Eintrittsdatum. — 3. Spalte: Austrittsdatum, falls nicht mehr Mitglied, andernfalls ist das Wort „gegenwärtig“ einzusetzen. — 4. Spalte: Mitgliedsnummer. -— 5. Spalte: Höchstes Amt, höchster Rang oder eine anderweitig einflußreiche, von Ihnen bekleidete Stellung. Nichtzutreffendenfalls ist das Wort „keine“ in Spalte 5 und 6 einzusetzen. — 6. Spalte: Antrittsdatum für Amt, Rang oder einflußreiche Stellung laut Spalte 5.

Ja oder Nein

von

bis

Nummer

Höchstes Amt oder höchster Rang

Antrittsdatum

41. NSDAP

siehe Anlage

42. Allgemeine SS

„ „

43. Waffen-SS

nein

nicht betreffend

44. Sicherheitsdienst der SS

„ „

45. SA

siehe Anlage

46. HJ einschl. BdM

nein

nicht betreffend

47. NSDStB

Bitte, was ist das?

48. NSDoB

„ „ „ „

49. NS-Frauenschaft

nein

nicht betreffend

50. NSKK

„ „

51. NSFK

„ „

52. Reichsb. D. Deutsch. Beamten

„ „

53. DAF

siehe 71

54. KdF

„ 71

55. NSV

ja

1944 – 1945 ?

kein Amt

?

56. NS-Reichsb. Deutsch. Schwest.

nein

nicht betreffend

57. NSKOV

„ „

58. NS-Bund Deutscher Technik

„ „

59. NS-Ärztebund

„ „

60. NS-Lehrerbund

„ „

61. NS-Rechtswahrerbund

„ „

62. Deutsches Frauenwerk

„ „

63. Reichsbund deutscher Familie

„ „

64. NS-Reichsb. F. Leibesübungen

„ „

65. NS-Altherrenbund

„ „

66. Deutsche Studentenschaft

„ „

67. Deutscher Gemeindetag

„ „

68. NS-Reichskriegerbund

„ „

69. Reichsdozentenschaft

„ „

70. Reichskulturkammer

siehe 51

71. Reichsschrifttumskammer

ja

1935? – 1945 ?

kein Amt

?

72. Reichspressekammer

siehe 71

73. Reichsrundfunkkammer

siehe 71

74. Reichstheaterkammer

„ 71

75. Reichsmusikkammer

nein

nicht betreffend

76. Reichsk, d. Bild. Künste

„ „

77. Reichsfilmkammer

siehe 71

78. Amerika-Institut

nein

nicht betreffend

79. Deutsche Akademie München

„ „

80. Deutsches Auslandsinstitut

„ „

81. Deutsche Christen-Bewegung

„ „

82. Deutsche Glaubensbewegung

„ „

83. Deutscher Fichte-Bund

„ „

84. Deutsche Jägerschaft

„ „

85. Deutsches Rotes Kreuz

„ „

86. Ibero-Amerikan. Institut

„ „

87. Inst. z. Erforsch. d. Judenfr.

„ „

88. Kameradschaft USA

„ „

89. Osteuropäisches Institut

„ „

90. Reichsarbeitsdienst (RAD)

„ „

91. Reichskolonialbund

„ „

92. Reichsluftschutzbund

ja

1944 – 1945 ?

kein Amt

?

93. Staatsakademie für Rassen- und Gesundheitspflege

nein

nicht betreffend

94. Volksbund für das Deutschtum im Ausland (VDA)

„ „

95. Werberat d. deutsch. Wirtschaft

„ „

Andere:

96. Freiw. Feuerw. Kampen/Sylt

ja

1936–gegenw. /keine

kein Amt

(pass. Mtgl.)

[]

Ich rechnete jeden Tag mit meiner Entlassung. Ich tat gar nichts, ich lief auch nicht mehr am Zaun entlang. Dann baten mich die Leute vom Regensburger Lagertheater zu sich. Es waren SS-Leute, sie hatten von meiner Tätigkeit in Natternberg und Plattling gehört. Das Theater lag in einem Steinbau, einer ehemaligen Fabrik, es war breiter als lang, die Bühne in der Sicht zerstückelt durch Betonsäulen. Aber die SS-Leute waren sehr stolz auf ihr Theater, zu der Zeit, als das Lager noch dem Kriegsgefangenen-Status unterlag, hatten vor ihnen sogar Mitglieder des Regensburger Stadttheaters gespielt. Nun hatten die Braven sich eine schöne Aufgabe für mich ausgedacht. Ich sollte bei ihnen eine große Aufführung inszenieren, — niemand wird es je erraten, es war der „Faust“. Ich sagte, es habe keinen Zweck, ich würde bald entlassen. Die SS-Männer lachten und sagten: „Das denkt jeder!“ Ich schämte mich und nahm an.

Am nächsten Morgen wurde ich mit allen Sachen zum Tor gerufen: „Mak snell, mak snell!“

Ich ließ alle Sachen da. Es war mein Stolz, nichts, aber auch gar nichts mitzunehmen, was den Amerikanern gehörte. Ich verteilte alle meine Decken, ich zog die Sachen an, die ich bei meiner Verhaftung trug, den grauen Flanell-Anzug, der mir viel zu weit geworden war, und die völlig zerschlissenen, abgetretenen Schuhe.

Vor dem Tor sammelten sich etwa hundert Leute, die gleichen, die in Nürnberg bei der „abschließenden Vernehmung“ waren. Es ging nach dem Alphabet. Die Abfertigung dauerte bei jedem etwa zehn Minuten. Als Herr Alinn abtrat, mit seinen Papieren in der Hand, ließ ich mir den Entlassungsschein zeigen. Es war ein Blatt Papier, hektographiert, auf welchem etwa hundert Namen standen und die Unterschrift eines Mr. Plummer, Lt. Col. Adjutant General, by Command of Major General Milburn. Am Kopf war nichts weiter angegeben als die Anweisung, die folgend genannten Internierten zu entlassen; Subjekt: Release of erroneous arrestees.

Ich wurde also als irrtümlich Verhafteter entlassen.

Es mußte Stunden dauern, bis ich drankam. Ich rannte zurück ins Lager. Ich stürmte in Ludins Baracke. Er hatte sich aus Decken eine Art Höhle gemacht, er lag allein, gegen die Nachbarn abgedeckt, auf seinem Bett. Ich riß den Vorhang aus Decken auseinander und sagte hastig: „Aufstehen! Anziehen! Die Tschechen sind da!“

Ludin stand sofort auf. Er war sehr bleich. Er kleidete sich sorgfältig an, ich war ihm behilflich, ihm die Sachen zu reichen. Wir sprachen kein Wort, nur, als er vor den kleinen, zersprungenen Spiegel trat und sich nachdenklich mit der Hand über sein Kinn fuhr, gleichsam als überlege er sich, ob es notwendig sei, sich zu rasieren, sagte ich hastig: „Laß das, komm!“

Wir gingen dem Tore zu. Ich sagte: „Paß auf! Es ist alles ganz einfach. Wenn jetzt mein Name aufgerufen wird, rufst Du ,Hier!‘ und nimmst meinen Entlassungsschein in Empfang. Er macht nichts kenntlich, wir tragen beide den gleichen Anzug, die Amis kennen Dich nicht und von denen, die da stehen, wird Dich keiner verraten. Nimm auch das Geld in Empfang, es sind etwa achtzig Mark. Damit kommst Du weit. Du gehst dann einfach durch das Tor, — hast Du verstanden?“

Ludin blieb stehen, er gab mir die Hand und sagte: „Weischt, Du bischt ein guter Kerle . . !“ Ich sagte eilig: „Um mich mach Dir keine Sorgen. Ich warte noch etwa acht Tage. Wenn die Faust- Inszenierung steht, geh ich ganz dämlich nach vorne und frage, warum ich eigentlich noch nicht entlassen bin. Bis dahin bist Du längst untergetaucht.“

Ludin hielt noch immer meine Hand. Er sagte: „Also, dann heischt’s jetzt Abschied nehme!“ Ich sagte: „Ja, also mach’s gut!“ Er sagte: „Ich werd’s schon gut mache, verlaß Dich drauf . . .“ Er sagte, indes er seinen Arm unter den meinen schob und wir weitergingen: „Wenn Du jetzt durch das Tor da gegangen bist...“ Ich blieb stehen, aber er schob mich mit sanftem Drucke vorwärts: „... dann vergiß mich nicht! Vergiß nicht, was ich Dir jetzt sage: Ich habe immer nach meinem Gewissen gehandelt, es war nicht immer leicht, aber ich bleibe dabei!“ Er sagte: „Was sie auch gegen mich vorbringen mögen, es ist nichts, wo ich wirklich Verantwortung getragen habe. Wenn ich sterben muß, so ist es nicht um meiner Schuld willen, sondern weil ich für das Reich stehe. Ich bin froh darum, daß ich es kann. Vergiß es nicht!“

Es ging schneller, als ich gedacht hatte. Mein Name wurde aufgerufen. Als ich durch das Tor ging, stand Ludin nicht mehr da, wo ich ihn verlassen hatte. Ich ging außen am Zaun auf der Straße entlang. Tausende standen innen am Zaun und starrten mir nach. Unter ihnen stand Ludin, unter tausend Masken ein Gesicht.

Hanns Ludin wurde wenige Tage später an die Tschechoslowakei ausgeliefert. Die Anklage gegen ihn ging davon aus, daß die Trennung der Slowakei von der Tschechei kein völkerrechtlich anerkannter Akt gewesen sei. Die Anklage ignorierte den Umstand, daß nach dieser Trennung eine Reihe von großen Staaten bei der Regierung Tiso durch Diplomaten vertreten war, die Sowjetunion bis zum Ausbruch des russisch-deutschen Krieges durch einen Gesandten, wie das Reich. Die Anklage verweigerte dem Gesandten des Reiches die Qualifikation eines Diplomaten, sie beschuldigte ihn, Agent einer feindlichen Macht bei der Regierung von Hochverrätern gewesen zu sein. Hanns Ludin wurde zum Tode verurteilt.

Er wurde am 20. Januar 1948 durch den Strang hingerichtet. In der Tschechoslowakei erfolgt diese Hinrichtung nicht durch Erhängen, sondern durch Erdrosseln.

Hanns Ludin, entsetzlich abgemagert in seinem viel zu weit gewordenen grauen Flanellanzug, bekam den Strick um den Hals gelegt. Der Henker drehte ihn langsam zusammen. Hanns Ludin litt zwanzig Minuten lang. Seine letzten Worte waren ein Gedenken an seine Frau und seinen Sohn Tille und der Ruf:

Es lebe Deutschland!

[]

DIE AUF DIESEM FORMULAR GEMACHTEN ANGABEN SIND WAHR UND ICH BIN MIR BEWUSST, DASS JEGLICHE AUSLASSUNG ODER FALSCHE UND UNVOLLSTÄNDIGE ANGABE EIN VERGEHEN GEGEN DIE VERORDNUNGEN DER MILITÄRREGIERUNG DARSTELLT UND MICH DER ANKLAGE UND BESTRAFUNG AUSSETZT.

Ernst von Salomon

Eigenhändige Unterschrift

September 1945 bis September 1950

Date / Datum

BESCHEINIGUNG DES UNMITTELBAREN DIENSTVORGESETZTEN

Ich bescheinige hiermit die Richtigkeit obigen Namens und obiger Unterschrift. Mit Ausnahme der nachfolgenden Punkte sind die in diesem Fragebogen gegebenen Antworten meines besten Wissens und Gewissens und im Rahmen der mir zur Verfügung stehenden Auskunftsmöglichkeiten richtig. Ausnahmen: (Das.Wort „keine“ ist einzufüllen, falls solche nicht vorhanden sind).

siehe Anlage

Anlage Ernst Rowohlt

Leider bin ich nicht in der Lage, an dieser Stelle dasWorl „keine“ einzusetzen. Der Verfasser dieses Fragebogens hat in mehreren seiner Antworten dem Zweifel Raum gegeben, ob er wirklich ein Schriftsteller sei. Ich halte ihn für einen Schriftsteller und sogar für einen guten, und eben dies ermächtigt mich, den Fragebogen von Ernst von Salomon als Buch herauszubringen.Im Gegensatz zu der Meinung des Verfassers dieses Fragebogens möchte ich ferner betonen, daß ich tatsächlich alle seine Bücher gelesen habe, obgleich dies sonst meinen Autoren gegenüber nicht unbedingt zu meinen Gepflogenheiten gehört. Ich habe auch diesen Fragebogen gelesen, und ich muß gestehen, daß an den Stellen, die sich mit dem Verleger Ernst von Salomons befassen, mir die klaren Schweißtröpfchen auf der Stirn standen. Ich sehe mich ganz anders. Das Einzige, was mich zu trösten vermag, ist, daß ich auch den Verfasser gaz anders sehe, als er sich selbst sieht.

Natürlich kann ich nicht beurteilen, ob die in diesem Fragebogen gegebenen Antworten meines besten Wissens und Gewissens und im Rahmen der mir zur Verfügung stehenden Auskunftsmöglichkeiten richtig sind. Aber ich kann beurteilen, ob die in diesem Fragebogen gegebenen Antworten meines besten Wissens und Gewissens und im Rahmen der mir zur Verfügung stehenden Auskunftsmöglichkeiten aufrichtig sind. Sie sind aufrichtig, – und eben das erhebt die einfache Auskunft zu einem literarischen Rang. Das ist es, was mich als Verleger allein interessieren kann.

Ernst Rowohlt Verlagsbuchhändler

Eigenhändige Unterschrift Amtsstellung

15. Januar 1951

Datum

Quelle: Ernst von Salomon, Der Fragebogen, Hamburg: Rowohlt, 1951. S. 7-12; 385-386; 802-808.