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Bill Haley und die NATO
Die antike Sagenwelt kennt den Sänger Orpheus, dessen wunderbare Melodien selbst die wilden Tiere besänftigten. Die Raubtiere vergaßen ihren Blutdurst, lagerten sich um den Sänger und lauschten. In dieser Legende spiegelt sich eine bestimmte Auffassung vom Sinn und Wesen der Musik. Sie macht die Menschen menschlicher und bewirkt sogar – die Sage übertreibt –, daß die Bestien sich zivilisiert betragen.
Am Sonntagabend wurde im Westberliner Sportpalast die entmenschende Wirkung einer Anti-Musik demonstriert. Das „transatlantische Schmalzlockenidol“ Bill Haley machte den Versuch, eine „Kostprobe seiner Zuckungen, Schreie und Gitarrenschläge darzubieten“. (Wir entnehmen diese Ausdrücke der Westberliner Presse.) „Haley und seine Veitstanz-Instrumentalisten“ entfesselten einen Orkan. Das unbeschreibliche Ergebnis: Über 30 Verletzte und 120 000 D-Mark Sachschaden. „Zurück blieb der größte Schaden, den der Sportpalast in der Nachkriegszeit erlitt.“ Inzwischen ist aus Hamburg die Meldung gekommen, daß am Montagabend Haley auch dort 7000 Jugendliche um den Verstand brachte. Es kam zu einer Schlacht, bei der die Polizei „zu ihrer Verteidigung“ Tränengasbomben einsetzte.
In einem Land, das Bach und Beethoven hervorbrachte, werden heute die jungen Menschen mit Hilfe von „Musik“ in rasende Bestien verwandelt. Was ist das für ein System, das die große humanistische Tradition unserer Kultur durch organisierten Massenwahnsinn hinwegschwemmen will?
Wir müssen beachten: Es handelt sich um „transatlantische“ Veitstänzer, und sie kommen nach Westdeutschland und Westberlin. Sie kommen aus einem Lande, das das Zentrum der Atomkriegsgefahr in der Welt ist. Sie wirken in einem Lande, das das Hauptkriegszentrum in Europa ist. Diese beiden Staaten, die USA und Westdeutschland, sind die aggressivsten Glieder der NATO. Sie bilden beide zusammen die tragende Achse der NATO. Die menschenfeindliche Atomkriegspolitik und die antihumanistische Verblödung durch Rock’n-Roll-Exzesse wachsen auf einem Holz. Das ist kein Zufall.
Adenauer behauptete kürzlich in einer Rede in Würzburg, es sei Irrsinn, die Atomrüstung abzulehnen. Jeder normale Mensch dagegen betrachtet die Atomkriegspolitik Adenauers als Irrsinn. Adenauer nennt den Irrsinn Vernunft, und die Vernunft Irrsinn. Wer einen Atomkrieg entfesseln will, muss den Widerstand der Vernunft brechen und die Menschen ihrer Menschenwürde berauben. Die Atomkriegspolitiker betrachten es also mit Recht als ein wichtiges Stück der psychologischen Kriegsführung, besonders der Jugend die Vernunft zu betäuben. Man versucht bei den Jugendlichen systematisch alle Hemmungen zu zerstören und hofft, sie dann zu allen Verbrechen anstiften zu können. Die amerikanischen Heulbojen, die planmäßig importiert und auf die deutsche Jugend losgelassen werden, sind dazu ein willkommenes Werkzeug.
Hitler hatte seine Methoden, die deutsche Jugend für die faschistischen Kriegsverbrechen reif zu machen. Das militaristisch-klerikale System Bonns hat etwas andere Methoden, aber das Ziel ist dasselbe. Was am Sonntag in Westberlin und am Montag in Hamburg sichtbar wurde, ist der Geist der Atomkriegspolitiker, der Geist von Strauß und Brandt, der Geist der NATO, die angeblich die abendländische Kultur verteidigt.
Es gab in der Hitlerzeit Leute, die zu den verbissensten Militaristen und gefräßigsten Imperialisten gehörten, die jedoch über die vulgären Methoden der Nazis die Nase rümpften. Sie hatten für die Dreckarbeit ihre Leute und spielten die feinen Männer. Auch die Westberliner Zeitungen billigen natürlich die Ausschreitungen nicht, tun überrascht und schimpfen auf die verkommenen Jugendlichen und ihre Eltern.
Immerhin dringt aber der „Tagesspiegel“ zu folgender Erkenntnis vor: „Jede Gesellschaft hat die Jugend, die den gesellschaftlichen Bedingungen entspricht. Das klingt nach Materialismus. Ja, aber wo sind denn die Ideale?“ Die Jugend, so heißt es weiter, spüre eine vage Unzufriedenheit mit dem Leben, suche einen Ausweg aus einer gefühlsarmen Erlebniswelt und verlange nach einem Gemeinschaftserlebnis. Das heißt, das Atomkriegssystem gibt eben den Jugendlichen das Gemeinschaftserlebnis und die Ideale, die seinem Wesen entsprechen. Genauer gesagt, es hat nichts zu bieten, was man Gemeinschaftserlebnis und Ideal nennen könnte.
Ideale, für die es zu arbeiten, zu kämpfen, zu leben lohnt, sind in diesem System nicht zu finden. Die jungen Deutschen aber, die ihren Blick von den zappelnden transatlantischen Veitstänzern losreißen und herüberblicken in die Deutsche Demokratische Republik werden eine neue Welt entdecken: eine Gemeinschaft, die den Einsatz der Kräfte für die gemeinsame Sache wert ist. Hier erblicken sie eine helle Zukunft, die ihre eigene sein wird, sobald sie die Militaristen mit ihrem ganzen dekadenten Anhang zum Teufel gejagt haben.
Es geht also nicht darum, daß die Jugend schlecht ist, es geht auch nicht nur um die Qualität der Musik. Es geht vielmehr um das klerikal-militaristische System, um die NATO, um die amerikanische Besatzung, die sich dreizehn Jahre nach dem Krieg immer noch an deutschem Boden festklammert. Die Schlußfolgerung aus den erschreckenden Vorfällen am Sonntag und Montag muß sein: Ami, go home! Und zwar alle zusammen, von den jaulenden Veitstänzern bis zu den Atomstrategen samt ihren Bomben. AMI, GO HOME.
Quelle: „Bill Haley und die NATO,“ Neues Deutschland, 31. Oktober 1958. Mit freundlicher Genehmigung der Neues Deutschland Druckerei und Verlag GmbH Berlin