Kurzbeschreibung

Der Zentralrat der Freien Deutschen Jugend (FDJ), der zentralen Jugendorganisation der DDR, wendet sich Ende 1959 gegen das zunehmende „Rowdytum“ und die „Bandentätigkeit“ von Jugendlichen in Ostdeutschland, die angeblich unter dem Einfluß westlicher Rockmusik und anderer westlicher kultureller Einflüsse stehen und vom Westen gezielt als Unruhestifter eingesetzt werden. Der Zentralrat fordert ein schärferes Vorgehen der FDJ gegen diese Jugendlichen vor Ort.

Vorlage an das Sekretariat des Zentralrates der Freien Deutschen Jugend: Bandentätigkeit von Jugendlichen Berlin (4. Dezember 1959)

Quelle

Der Zentralrat der Freien Deutschen Jugend, Abt. Organisation-Instrukteure

Betr.: Einschätzung der gegenwärtigen Bandentätigkeit und strafbaren Handlungen die gegen den Staat gerichtet sind, besonders unter dem Gesichtspunkt der Teilnahme, Anstiftung und Alleintäterschaft durch ehemalige Republikflüchtlinge bzw. Erstzuziehende

Das Sekretariat beschließt:

1. Der vorliegende Bericht wird zur Kenntnis genommen.

2. Der vorliegende Bericht, einschließlich der Schlußfolgerungen, wird mit den 1. und 2. Bezirkssekretären zur nächsten Besprechung ausgewertet.

3. Die Abt. Org.-Instrukteure wird beauftragt, die beschlossenen Maßnahmen zu kontrollieren bzw. zu organisieren.

Im II. Quartal 1960 ist dem Sekretariat darüber zu berichten.

Einschätzung der gegenwärtigen Bandentätigkeit und strafbaren Handlungen die gegen den Staat gerichtet sind, besonders unter dem Gesichtspunkt der Teilnahme, Anstiftung oder Alleintäterschaft durch ehemalige Republikflüchtige bzw. Erstzuziehende.

I.

In der letzten Zeit häufen sich die Meldungen, wonach Jugendliche sich zusammenrotten, strafbare Handlungen begehen und die Regeln des sozialistischen Gemeinschaftslebens verletzen. Sie begehen besonders Verbrechen gegen den Staat, Landfriedensbruch, Diebstähle, Sachbeschädigungen, unzüchtige Handlungen u.ä. Delikte.

Die vorliegenden Beispiele zeigen, daß es nicht nur in den Großstädten derartige Zusammenrottungen gibt, sondern auch in den mittleren und kleineren Städten.

Ausgangspunkt, d.h. Sammelbecken der betroffenen Jugendlichen sind nicht selten unsere Jugendklubhäuser.

Am häufigsten sind die „Rock’n Roll Verehrer“ anzutreffen. Es sind in der Regel Gruppen von 15–20 Jugendlichen (auch Mädchen!) im Alter von 16–21 Jahren.

Diese Banden verbinden ihre „Forderungen“ nach Rock’n Roll mit einer wüsten Hetze gegen unsere leitenden Genossen Wilhelm Pieck, Otto Grotewohl und Walter Ulbricht. Im Prinzip treten sie in verschiedenen Städten der DDR mit den gleichen provokatorischen Äußerungen auf. Die uns im Augenblick bekannten sind: „Wir wollen keinen Pieck und Grotewohl und Ulbricht, wir wollen Rock’n Roll“; „wir tanzen keinen Lipsi und auch nicht nach Alo Koll, wir sind für Bill Haley und tanzen Rock’n Roll“; „wir warnen, ein neuer 17.6. steht bevor“; „Nieder mit den Kommunistenschweinen“ u.ä.

Sie verlegen ihre Treffs auch in die Wohnungen von Jugendlichen, die dem „Club“ angehören.

Die Beispiele deuten ganz entschieden darauf hin, daß in nicht wenigen Fällen die Anführer Jugendliche sind, die die DDR ein- oder mehreremale verlassen haben bzw. Erstzuziehende. Zum anderen wurde festgestellt, daß die Organisatoren direkt in Westberlin und Westdeutschland sitzen und von dort aus leiten.

Oft werden Aussagen von den festgenommenen Jugendlichen gemacht die besagen, daß sie erst ein „Ding“ drehen wollten, um dann die DDR zu verlassen und als „politischer Flüchtling“ zu gelten. Sie bekämen dann schneller Arbeit und Unterkunft in Westberlin und Westdeutschland.

Öffentliche Auseinandersetzungen mit diesen Fragen führen nicht immer zum Erfolg.

In Frankfurt/Oder z.B. war es erst nach schwerer Arbeit gelungen, die Eltern von den betreffenden festgenommenen Jugendlichen von deren Untaten zu überzeugen. Im Beisein der Eltern stritten die Jugendlichen alles ab. Erst nach dem jeder einzeln vor die Eltern gestellt wurde, gaben sie ihre Handlungen zu.

In Pößneck wurde zu Vorfällen auf einem Jugendforum Stellung genommen. 1.000 Personen (besonders Jugendliche) waren erschienen. Der Verlauf des Forums erbrachte keine klare Distanzierung der Oberschüler von diesem schändlichen Treiben. Sie diskutierten nur um Musikfragen und wollten die Zusammenhänge nicht begreifen.

Die Öffentlichkeit ist über derartige Vorfälle empört. Sie greift aber noch nicht aktiv in die gesellschaftliche Erziehung ein. Hier liegen besonders Versäumnisse bei den Organen des Staates.

Die Äußerungen der Jugendlichen, die diesen „Clubs“ angehören, laufen alle darauf hinaus, die Rock’n Roll Musik anzuerkennen, dann würden sie auch in der FDJ mitmachen. Sie versuchen, das gelingt ihnen auch noch in den meisten Fällen, mit den FDJ’lern eine Diskussion über Musik zu führen. Sie sind zudem dabei noch in der Offensive.

Beispiele der Bandentätigkeit im Gebiet der DDR.

Das Material ist nicht vollständig. Es gibt bei den staatlichen Organen keine statistische Erfassung der Banden.

Am 27. November 1959 um 21.45 Uhr zogen in Dresden ca. 80 Jugendliche gröhlend durch die Straßen. Sie kamen aus dem Jugendklubhaus Martin-Andersen-Nexö. Sie schrien „wir wollen unseren Kaiser wiederhaben“; „wir wollen keinen Pieck und Grotewohl und Ulbricht, wir wollen Rock’n Roll“; „Fenster zu, es wird geschossen“. Einige der Jugendlichen sind wegen aktiver Beteiligung am faschistischen Putsch 1953 vorbestraft.

In Leipzig wurde Mitte des Jahres ebenfalls eine Bande zerschlagen, die mit den gleichen Losungen durch die Straßen zog.

In Erfurt krakeelten und johlten eine Menge Jugendlicher durch die Straßen. Sie belästigten Passanten, pöbelten Mädchen an und begingen mehrfach Vergewaltigungen. Sie schlugen Fensterscheiben und Schaufenster ein, kippten Litfaßsäulen um und zertrümmerten Blumenschalen.

Zentnerweise wurden bei ihnen Westschmöker sichergestellt.

Gegen 14 Jugendliche fand ein Prozeß statt.

Der Anführer dieser Bande war der 18-jährige, zweimal republikflüchtige Peter T [].

In Magdeburg-Süd gab es eine Bande von Jugendlichen, die den Rock’n Roll König Presley „verherrlichte“.

Der Organisator und geistige Lenker war ein Mädchen aus Wiesbaden.

Auch in anderen Städten wie Gera, Pößneck, Saalfeld, Lobenstein, Erfurt, Jena, Greiz, Bitterfeld, Frankfurt/Oder, Mühlhausen, Leipzig, Berlin und Weimar gibt es derartige Gruppen von „Presley-Verehrern“. []

Welche Schlußfolgerungen ergeben sich:

1. Die Bandentätigkeit und Cliquenbildung in der DDR sind, neben den bereits bekannten Einflüssen durch Schund- und Schmutzliteratur und Rias[1] bzw. andere Westsender, der direkte und indirekte Einfluß von Personen, die aus Westdeutschland in die DDR zurückkehrten bzw. übersiedelten oder in Westberlin oder Westdeutschland ihren Wohnsitz haben.

2. Eine Reihe von Personen arbeiten im Auftrage westdeutscher und ausländischer Geheimdienste, besonders unter der Jugend, um Jugendliche zum Verlassen der DDR zu bewegen. Sie wurden zu diesem Zweck in die DDR eingeschleust.

3. Jugendliche werden, nach dem ihnen der Westen in verlockenden Farben geschildert und das natürliche Verlangen nach Abenteuern ausgenutzt wurde, zu Verbrechen gegen unseren Staat ausgenutzt. Da der Jugend mehr und mehr in der DDR die tatsächlichen politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Westdeutschland bekannt werden, wird ihnen vorgegaukelt, als politischer Flüchtling stünden ihnen alle Wege offen. Politischer Flüchtling kann aber nur der sein, der ein politisches „Ding“ „gedreht“ hat.

Der Gegner stützt sich dabei in der Hauptsache auf Jugendliche bis 20, 21 Jahre, die geistig und politisch zurückgeblieben und arbeitsscheu sind oder keine geordneten Familienverhältnisse haben.

4. Personen, besonders Jugendliche, die in die DDR übersiedeln, verbreiten die ihnen im Adenauerstaat anerzogenen Lebensgewohnheiten und finden bei einem Teil der Jugend in der DDR damit Anklang und Unterstützung. Sie können ihren Einfluß besonders auch deshalb ausüben, weil unsere Organisation und andere gesellschaftliche Kräfte die übergesiedelten Personen mangelhaft an das neue Leben in unserem sozialistischen Staat heranführen. Das ist wiederum ein Grund dafür, daß ein relativ großer Teil die DDR wieder verläßt oder straffällig wird. []

IV.

Die Leitungen der FDJ reagieren äußerst mangelhaft auf Erscheinungen dieser Art. Es hat den Anschein, als geben sie sich damit zufrieden, weil es ja doch nur ein relativ kleiner Teil der Jugend in der DDR ist. In dieser Haltung widerspiegelt sich eine grobe Sorglosigkeit zu diesen Fragen. Sie erkennen offenbar noch nicht, daß gerade an Hand von Erscheinungen des Rowdytums in der DDR der Gegner versucht, unser sozialistisches System zu diffamieren und dagegen zu hetzen. Nur selten informiert eine Leitung des Verbandes über solche Vorkommnisse. Oft haben die Leitungen der FDJ überhaupt keine Kenntnis davon. Die Zusammenarbeit mit den betreffenden örtlichen Organen ist mangelhaft und wird nicht selten in diesen Fragen als lästig empfunden.

Die Kraft der Jugend selbst muß gegen derartige Erscheinungen in der DDR aufgebracht werden, um erfolgreich dagegen anzukämpfen und auch diese Jugendlichen in den Aufbau des Sozialismus einzubeziehen.

Aus der gegenwärtigen Situation heraus müssen folgende Schlußfolgerungen gezogen werden:

1. Das Sekretariat des Zentralrats verweist mit Nachdruck auf die Empfehlung über die Bildung von Ordnungsgruppen vom 1.7.1959, die allen Bezirks- und Kreisleitungen zugestellt wurde.

Wo es Erscheinungen der Cliquen- und Bandenbildung gibt, sind unverzüglich Ordnungsgruppen zu bilden.

Die Abt. Org.-Instrukteure führt im I. Quartal 1960 einen Erfahrungsaustausch der Ordnungsgruppen durch.

2. Der Beschluß des Sekretariats des Zentralrats vom 12. August 1959 über die Arbeit mit den Rückkehrern und Erstzuziehenden ist zum Gegenstand einer der nächsten Sekretariatssitzungen in den Bezirken und Kreisen zu machen.

3. Die Bezirksleitungen der FDJ berichten in einer kurzen Information bis zum 10.1.1960 über die Situation in ihrem Bezirk auf diesem Gebiet. Dabei ist besonders die Hilfe der Volkspolizei, des Staatsanwaltes und der Abteilungen Inneres und Volksbildung der Räte in Anspruch zu nehmen.

4. Mit den zentralen staatlichen Stellen ist zu vereinbaren, daß der Film „Du bist nicht allein“ nochmals in der DDR aufgeführt wird. Zu diesem Film ist in der Verbandspresse eine breite Diskussion zu entwickeln.

Verantwortlich: Abt. Org.-Instrukteure

5. Alle Leitungen überprüfen die Jugendklubhäuser und anderen Jugendeinrichtungen, um festzustellen, welche Kreise der Jugend ein- und ausgehen.

Der Film „Du bist nicht allein“ soll in allen Jugendklubhäusern gespielt und diskutiert werden.

6. Die Abt. Org.-Instrukteure legt dem Sekretariat im Januar 1960 einen genauen, sich über längere Zeit erstreckenden Maßnahmeplan vor. Dieser ist mit den zuständigen staatlichen Stellen vorher zu beraten.

7. Das Sekretariat des Zentralrats empfiehlt besonders der Generalstaatsanwaltschaft, der HVdVP, dem Ministerium für Volksbildung und dem Ministerium des Innern, Maßnahmen zu treffen, die ein schnelleres Erkennen und Eingreifen in solche Erscheinungen ermöglichen.

Anmerkungen

[1] RIAS: Rundfunk im Amerikanischen Sektor

Quelle: SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/16/230, Bd. 8, III 10 (Familien-, Jugend- und Altenpolitik); abgedruckt in abgedruckt in Dierk Hoffmann und Michael Schwartz, Hrsg., Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 8: 1949–1961: Deutsche Demokratische Republik. Im Zeichen des Aufbaus des Sozialismus. Baden-Baden: Nomos, 2004, Nr. 8/208.