Kurzbeschreibung

Otto A. Friedrich kann als westdeutscher Industrieller der Nachkriegszeit gesehen werden, der sich mit Arbeitsbeziehungen und Sozialpolitik gleichermaßen befasste. Er war zudem ein Protagonist der „Amerikanisierung“, die jedoch nicht als ein Prozess gesehen wurde, bei dem die amerikanische Industrie wie eine Dampfwalze in das deutsche Industriesystem eindrang, sondern als eine Vermischung zweier Industriekulturen. In einigen Fällen war der amerikanische Einfluss tiefgreifend, aber in anderen Bereichen, wie z.B. den Arbeitsbeziehungen, blieben deutsche Traditionen und Praktiken dominanter. Eine der Institutionen, die in den 1950er Jahren in der westdeutschen Industrie auf großes Interesse stießen, waren die Business Schools. Der amerikanische Politikwissenschaftler Carl Joachim Friedrich ermutigte einst seinen Bruder Otto, seine jungen Manager zur Ausbildung an die Harvard Business School (HBS) zu schicken. Ludwig Vaubel, Vorstandsmitglied der Vereinigten Glanzstoff, eines Chemiekonzerns mit niederländischen Verbindungen, beschloss, den Advanced Management Kurs der HBS selbst zu testen. Nach seiner Rückkehr veröffentlichte er ein Buch über seine Erfahrungen, aus dem hier ein Auszug wiedergegeben wird. Es handelt sich in erster Linie um eine Beschreibung seiner Erfahrungen an der HBS, doch ist es bemerkenswert, wie vorsichtig er die Frage des transatlantischen Lernens anspricht und betont, dass es nicht ausreicht, den Herausforderungen der Nachkriegszeit für die westdeutsche Wirtschaft mit den Worten auszuweichen: „Das ist eben amerikanisch“.

Auszug aus Ludwig Vaubels Erfahrungsbericht aus den USA (1952)

Quelle

VORWORT

Das Advanced Management Program der Harvard Business School of Administration

1.
In USA bestehen seit langem besondere Hochschulen für die Heranbildung des Nachwuchses an wirtschaftlichen Führungskräften. Die älteste und angesehenste Einrichtung dieser Art ist die Graduate School of Business Administration der Harvard University in Cambridge/Boston, die bereits seit 1908 besteht. Ihre Aufgabe ist die Heranbildung junger Nachwuchskräfte im Alter von 20 bis 30 Jahren für industrielle und kaufmännische Führungsstellen. Die Studienzeit für diese Schüler, die nach dem College, also einer etwa viersemestrigen allgemeinen Universitätsausbildung in der Regel noch einige Jahre in der Praxis eines Unternehmens oder einer Organisation gearbeitet haben müssen, beträgt normalerweise zwei Jahre. Das bestandene Abschlußexamen (master degree) wird in der amerikanischen Wirtschaft als eine vorzügliche Empfehlung bei Bewerbung um entwicklungsfähige Stellen in der Wirtschaft und in großen Organisationen angesehen. Eine kleinere Zahl von Absolventen dieser Prüfung setzt die Studien mit dem Ziel der Erlangung eines Doktorgrades fort.

Die Harvard Business School of Administration verdankt ihr besonderes Ansehen nicht nur ihrer langjährigen Tradition, sondern auch dem besonders hohen Niveau ihres Lehrkörpers, wobei die Verbindung mit der Harvard University einen ständig befruchtenden Einfluß ausübt. Die Business School ist ebenso wie die Harvard University finanziell vom Staat völlig unabhängig und wie viele derartige Einrichtungen in USA nur privat finanziert.

Neben den Kursen für die jüngeren Studenten finden seit Mitte des zweiten Weltkrieges Kurse für leitende Funktionäre aus dem amerikanischen Wirtschaftsleben statt (Advanced Management Program — AMP). Diese Kurse waren ursprünglich aus dem Wunsch erwachsen, den für die damals sprunghaft ausgeweitete amerikanische Industrie neu herangezogenen Führungskräften eine breitere Wissens-und Erfahrungsgrundlage zu vermitteln. Der Erfolg dieser Arbeit gab Veranlassung, diese Kurse auch nach dem Krieg fortzusetzen. Sie werden seit mehreren Jahren im Frühjahr und Herbst für je 13 Wochen abgehalten. Voraussetzung für die Teilnahme an einem solchen Kurs ist, daß der Bewerber während mindestens zehnjähriger Tätigkeit in einem industriellen oder geschäftlichen Unternehmen oder einer entsprechenden großen Organisation eine leitende Position erreicht und die Qualifikation zur Weiterentwicklung über die Expertenlaufbahn hinaus zu einer mehr zusammenfassenden Führungsaufgabe erwarten läßt. Dementsprechend ist der Studienplan dieser Kurse nicht darauf abgestellt, Spezialwissen, sondern einen breiteren Überblick über die Probleme wirtschaftlicher und organisatorischer Führung zu vermitteln. Im allgemeinen werden nur Bewerber zwischen 35 und 50 Jahren angenommen.

Der Verfasser hat nach einer Anregung, die sich aus einer Reise des Herrn Dr. Vits, Vorsitzer des Vorstandes der Vereinigte Glanzstoff-Fabriken AG, nach USA im Oktober 1949 ergeben hatte, an einem Kursus des Advanced Management Program der Harvard Business School teilgenommen.

Ebenso wie für die Ausbildung der jüngeren Studenten wird für das AMP die sog. „case method“ angewandt. Die interessierenden Fragen werden an Hand praktischer Fälle (Untersuchungen über die Entwicklung, Geschäftspolitik und Organisation von Unternehmungen, Parlamentsberichte, grundsätzliche höchstgerichtliche Urteile über wirtschaftliche Tatbestände usw.) diskutiert. Grundsatz der Lehrmethode, insbesondere für das AMP, ist, keine fertigen Lösungen zu vermitteln, sondern die Teilnehmer zum selbständigen Durchdenken der angeschnittenen Fragen und zu einer Klärung der verschiedenen möglichen Standpunkte in freier Aussprache zu veranlassen.

Die Professoren nehmen selbst laufend an der praktischen Arbeit wirtschaftlicher Unternehmen und Organisationen teil. Die ständige Erneuerung des Unterrichtsmaterials durch entsprechende Untersuchungen des praktischen Wirtschaftslebens wirkt in der gleichen Richtung. Es wurde fast ausschließlich Material verwertet, das in den letzten 10 Jahren neu erarbeitet worden ist.

Die Unterrichtsfächer für das AMP sind:

1. Geschäftspolitik (business policy),
2. Kaufmännisches und finanzielles Abrechnungswesen (cost and finance),
3. Einkaufs- und Verkaufspolitik (marketing),
4. Sozial- und Arbeitspolitik (labor relations),
5. Richtige menschliche Beziehungen als Grundlage optimaler Leistungsfähigkeit menschlicher Organisationen (human relations),
6. Stellung und Verantwortung der Wirtschaft im Rahmen der Gesellschaft (business in American society).

Es wird vorausgesetzt, daß die jeweils behandelten Fälle, die in Büchern und vervielfältigtem Material zur Verfügung gestellt werden, durch privates Studium gründlich vorbereitet worden sind.

Neben den täglichen Diskussionen wurde durch Heranziehung führender Männer aus Wirtschaft, Politik und Verwaltung zu wöchentlichen Vortrags-und Diskussionsabenden Gelegenheit zu einer Erweiterung des Gesichtskreises auch über den eigentlichen Lehrstoff hinaus gegeben. Daneben hatten die Teilnehmer die Möglichkeit, Wünsche zur Vertiefung auf einzelnen Gebieten durch Heranziehung weiterer Lehrkräfte der Business School und der Harvard University in besonderen Seminaren zu verwirklichen.

Es ist unmöglich, einen einigermaßen vollständigen Überblick über das zu geben, was in 3 Monaten im Kreise von 150 leitenden Angestellten großer Unternehmungen und Organisationen diskutiert und besprochen worden ist, zumal jede Stunde Diskussion im Durchschnitt mindestens eine Stunde Lesevorbereitung erforderte. Dazu kommt, daß entgegen der in Deutschland und wohl allgemein in Europa üblichen Unterrichtungspraxis an der Business School der Harvard Universität der methodische Unterricht, d. h. die Vorlesung, eine ganz untergeordnete Rolle spielt. Das Schwergewicht liegt in der Diskussion, wobei vorausgesetzt ist, daß jeder Teilnehmer das Diskussionsthema zuvor wirklich geistig durchgearbeitet hat.

2.
Von besonderem Interesse ist die gleichzeitige Veranstaltung von Schulungskursen für Gewerkschaftsfunktionäre im Rahmen der Business School, wobei auf Teilgebieten eine Zusammenarbeit mit den Management-Kursen stattfindet unter Leitung eines älteren Gewerkschaftsfunktionärs. Die Erkenntnisse, die dadurch für beide Seiten, insbesondere über die Grundhaltung und die Triebkräfte des jeweiligen Handelns (Management: Wirtschaftlichkeit als Voraussetzung des Unternehmensfortbestands; Gewerkschaften: Verbesserung des Lebensstandards der Arbeiter und Sicherung ihrer sozialen Position; gemeinsames Ziel: Steigerung der Produktivität) vermittelt wurden, waren für alle Beteiligten besonders wertvoll. Die Zusammenhänge zwischen Preisen, wirtschaftlichem Ertrag, Löhnen, Sicherung des Arbeitsplatzes, Alters- und Krankenversorgung gewinnen ein anderes Gesicht, wenn außerhalb der Tagesauseinandersetzung die großen Linien einmal gemeinsam erarbeitet werden können. Es handelt sich hier um eine besonders schwierige, aber auch besonders dankbare Aufgabe, deren Gelingen entscheidend davon abhängt, daß die Organisatoren und Lehrer das Vertrauen beider Seiten genießen.

Die europäischen Teilnehmer an dem Kurs stimmten darin überein, daß eine entsprechende Schulung von Gewerkschaftsvertretern im eigenen Land nur als glücklich empfunden werden könnte, wenn das Ziel verwirklicht werden soll, durch besseres Verständnis der beiderseitigen Notwendigkeiten zu einer auf die Dauer fruchtbareren Zusammenarbeit zwischen Unternehmensführung und Belegschaft zu kommen.

3.
Neben der Vermittlung von Wissensstoff und der Diskussion zeitnaher wirtschaftlicher Probleme in den Vorlesungs- und Diskussionsstunden ist ein weiterer wesentlicher Zweck des AMP die Schaffung eines möglichst engen persönlichen Kontaktes zwischen den Teilnehmern. Entscheidend dafür ist die Art der Unterbringung, die entsprechend der Übung im englisch-amerikanischen „college system“ erfolgte. Gemeinsame Wohn- und Schlafräume, gemeinsame Einnahme der Mahlzeiten, gemeinsamer Aufenthaltsraum, wöchentliche gemeinsame Veranstaltungen (Vorträge, Besichtigungen verschiedenster Art, u. a. industrieller Unternehmungen) geben jedem Gelegenheit, jeden Teilnehmer auch persönlich anzusprechen und kennenzulernen. Dem Zustandekommen enger menschlicher Beziehungen war vor allem förderlich die völlig zwanglose und kameradschaftliche Art des Umgangs, die von den Amerikanern bewußt gepflegt wird (nur Anrede mit Vor- oder Rufnamen).

Eine bereits bestehende Vereinigung früherer Schüler der Harvard Universität mit örtlichen Sektionen soll die Möglichkeit geben, auch über die Zeit des Kurses hinaus — neben den ohnehin angeknüpften zahlreichen persönlichen Beziehungen — in einem ständigen Kontakt mit einem breiten Kreis früherer Schüler dieses Instituts zu bleiben (Vortragsveranstaltungen, gemeinsame Essen usw. in örtlichen Vereinigungen).

4.
Von den 150 Teilnehmern des Herbstkurses des AMP 1950 waren 139 amerikanische Staatsbürger aus allen Teilen des Landes, z. T. auch aus dem Ausland (Bahrain-Inseln, Australien, Manila, Aruba/Westindien), für den Kurs in Boston zusammengekommen. Von den 11 Ausländern waren 5 Kanadier, 2 Briten, 1 Franzose, 1 Holländer, 1 Venezueler und der Verfasser dieses Berichts als erster und einziger Deutscher. Das Durchschnittsalter der Teilnehmer war 43 Jahre. Für jeden Europäer mußte die Teilnahme an diesem Kurs schon deshalb ein besonderes Erlebnis werden, weil hier Amerikaner unter sich ihre eigenen Probleme in der unbefangensten Weise behandelten. Bei der Vielgestaltigkeit des amerikanischen Lebens und der amerikanischen Wirtschaft gab der hier versammelte Durchschnitt durch eine typische Schicht führender Funktionäre (auch 10 Offiziere aus Army, Navy und Airforce sowie ein Vertreter des State Department) eine einmalige Gelegenheit, amerikanische Wirklichkeit besonders in ihren geistigen Hintergründen kennenzulernen und ein wirkliches Verständnis für die Problematik der neuen Welt und ihrer Beziehungen zu Europa zu erhalten.

Die Teilnahme der Europäer wurde von den Amerikanern deshalb als besonders wertvoll empfunden, weil der häufig doch anders geartete Bildungs- und Erfahrungshintergrund der Europäer Aspekte ermöglichte, die dem großenteils mehr auf das Fachwissen ausgerichteten amerikanischen Teilnehmer teilweise weniger nahe liegen. Auf der anderen Seite wurde als erheblicher Antrieb für die europäischen Teilnehmer die freie menschliche Kameradschaft des amerikanischen Lebens empfunden, die soviel weniger von den standesmäßigen und durch Prestigeüberlegungen bestimmten Hemmungen kennt, die in Europa häufig das Zusammenleben erschweren und komplizieren.

5.
Es kann nicht meine Aufgabe sein, in diesem Arbeitsbericht eine möglichst vollständige Darstellung der amerikanischen Wirtschaft und amerikanischer Wirtschaftsmethoden zu versuchen. Ich habe mich bewußt darauf beschränkt, das herauszustellen, was für uns als besonders wesentlich erscheint, d. h. das, was einer näheren Beschäftigung und eines weiteren Nachdenkens auch bei uns wert erscheint. Natürlich gäbe es mehr Negatives zu berichten. Aber die Entwicklung, die sich in USA in der industriellen Sphäre vollzogen hat und weiter vollzieht, ist für die ganze Welt wirtschaftlich und nicht zuletzt auch politisch von so außerordentlicher Bedeutung, daß wir es uns nicht leisten können, der Auseinandersetzung mit dieser Entwicklung und den dabei angewandten Methoden mit dem Gedanken auszuweichen: „Das ist eben amerikanisch.“

Wir müssen uns mit den Anregungen und Lösungsversuchen auseinandersetzen, die von dort auf uns zukommen. Gerade, wenn wir überzeugt sind, selbst zur Gestaltung der Zukunft Wesentliches beisteuern zu können, müssen wir immer wieder unsere eigenen Leistungen prüfen an dem, was anderwärts geschieht und daraus neuen Antrieb auch für das eigene Schaffen gewinnen.

Wir sollten nicht fasziniert sein von dem wirtschaftlichen Geschehen in den USA, aber vielleicht sollten wir fasziniert sein von dem Gedanken an das, was bei uns vielleicht noch besser geleistet werden könnte. Die vielfachen Unterschiede in den Voraussetzungen, die für die amerikanische und die europäische Wirtschaft gelten, brauchen dabei nicht übersehen zu werden.

In technisch-wirtschaftlicher Hinsicht sind wir vielleicht in der Gefahr, zweitrangig zu werden, weil uns in unserem klein gewordenen Europa die großen Ausmaße fehlen, die die großen Mittel schaffen. Im Menschlichen werden wir nur dann zweitrangig werden können, wenn wir nicht mehr die Frische und Unbekümmertheit aufbringen, auch neue Wege zu gehen.

Quelle: Ludwig Vaubel, Unternehmer gehen zur Schule. Ein Erfahrungsbericht aus USA. Düsseldorf: Droste Verlag, 1952, S. 1–15.