Kurzbeschreibung

Wie in der Einleitung zum Betriebsverfassungsgesetz erwähnt, vertraten einige westdeutsche Industrielle eher ein partnerschaftliches als ein konfliktives Modell der Arbeitsbeziehungen. Otto A. Friedrich wurde zu einem wichtigen Protagonisten dieses Modells sowohl auf der Ebene seines Unternehmens, der Phoenix A.G. in Hamburg-Harburg, einem Reifenhersteller, als auch auf nationaler Ebene, als er Mitglied des Präsidiums des mächtigen Bundesverbandes der Deutschen Industrie wurde. In seiner Biografie werden die vielen Ideen beschrieben, die er im Bereich der Sozialpolitik und der kulturellen Einrichtungen umzusetzen versuchte. Da er während der NS-Zeit in der Gummiindustrie tätig war, beschäftigte er sich auch intensiv mit den Lehren, die aus der NS-Katastrophe nicht nur in wirtschaftlicher, sondern auch in politischer und moralischer Hinsicht für den Wiederaufbau der westdeutschen Gesellschaft nach dem Krieg zu ziehen waren. Als junger Mann hatte er bei Goodrich in Ohio gearbeitet, wo er sich sowohl mit amerikanischen Technologien und Produktionsmethoden als auch Ideen und Praktiken des modernen Managements und der Konsumkultur vertraut machte. Neben seinem Interesse an Fragen der Wohlfahrt wurde er daher auch zu einem der wichtigsten Befürworter der „Amerikanisierung“ der westdeutschen Industrie, obwohl er niemals die traditionellen deutschen Methoden der Führung eines modernen Industrieunternehmens und -systems durch amerikanische ersetzen wollte. Vielmehr strebte er eine behutsame Verschmelzung der Industriekulturen beider Länder an. Die akademische Debatte zu diesem Thema dauert bis heute an und kann in den GHDI-Bänden 9 und 10 verfolgt werden.

Otto A. Friedrich, „Der soziale Imperativ“ (1958)

Quelle

Der soziale Imperativ

Vor dem ersten Weltkrieg gab es eine nette Geschichte über die soziale Frage. Als diese Frage ihre Wogen auch in das kleine Fürstentum Bückeburg warf, versammelte der Fürst seine Minister, um die soziale Frage endgültig zu Iösen. Als die Diskussionen um Mitternacht noch kein Ergebnis gebracht hatten, schlug er mit der Faust auf den Tisch und erklärte: „Und wenn ich die ganze Nacht aufsitze, wir werden die soziale Frage Iösen.“

Seitdem Iösen wir ständig die soziale Frage, und zwar nicht viel einsichtiger als der Fürst von Bückeburg. In Wirklichkeit gibt es keine Lösung dieser Frage insgesamt, ebensowenig wie die Frage der Technisierung oder der Betriebsrentabilität dauerhaft gelöst werden kann. []

Ein Blick auf die heutige Welt zeigt, daß dort, wo die europäische Gesellschaft am rückständigsten blieb, nämlich in Rußland, die marxistische Lehre die Raserei einer blutigen Revolution hervortrieb und, nachdem sie sich als Kampfinstrument zur Erledigung der gesellschaftlichen Gegner verbraucht hatte, nur noch als ideologische Verbrämung einer neuen politischen Herrschaftsform angewandt wird. Aber als Waffe gegen die freien, konstitutionellen Gesellschaftsformen des Westens hat sie noch ihre alte Bedeutung. Dagegen hat die marxistische Lehre in England keine tiefere Wurzel und in Amerika überhaupt keine Wurzel gefaßt, weil in beiden Ländern rechtzeitig Wege beschritten wurden, um das aus der technischen und kapitalistischen Entwicklung erwachsende soziale Problem evolutionär zu lösen.

In Deutschland, der ideellen Heimat des Marxismus, hat sich eine seltsame Entwicklung vollzogen. Der Marxismus ist sozusagen politisch „hoffähig“ geworden. Die Idee hat sich in ihrer Essenz in dem stark theoretischen deutschen Geist erhalten, hat aber keine gewaltsame revolutionäre Kraft entfaltet, weil sowohl der Staat wie die Wirtschaft praktisch immer wieder nach sozialem Ausgleich gestrebt und ihn auch in den vielfältigsten Formen: der sozialen Versicherung, des Arbeiterschutzes und des Betriebsrechtes, gefunden haben. Der Kampf um das Mitbestimmungsrecht (vom marxistischen Blickpunkt), aber auch die praktische Bemühung der Untemehmer um Betriebsfrieden und produktive Mitverantwortung (vom bürgerlichen Ideal her) stellen nur eine neue Phase dieser deutschen, mit der Entwicklung anderer Länder unvergleichbaren Entwicklung dar.

Immanuel Kant hat aus der Tiefe des deutschen Lebensbewußtseins eine für die ganze Welt gültige Maxime des rechtsstaatlichen Zusammenlebens und einer sittlich gebundenen Gesellschaft geboren, den „kategorischen Imperative“. Er hat in ihm ein moralisches Gesetz entdeckt, das aus dem Innern des Menschen wirkt und ebensowenig ungestraft verletzt werden kann wie andere Gesetze der Natur, von der wir ein Teil sind. Die Verleugnung dieses Gesetzes muß zum Verfall der menschlichen Gesellschaft und ihrer staatlichen Gebilde führen. Das war zu einer Zeit, als sich die europäische Gesellschaft am Ende des Feudalzeitalters befand und das Wetterleuchten der Französischen Revolution und des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges ein neues Zeitalter der Menschheitsgeschichte anzeigte.

Der „kategorische Imperativ“ wurde für das bürgerliche Dasein ein alltäglicher, fast trivialer Begriff. Er bildete das ethische Fundament für die bürgerliche Pflichterfüllung, sei es im Beruf, sei es im Verhältnis zwischen Regierung und Regierten oder im Einsatz der Person für die Nation. Er ist aus dem deutschen Denken und Fühlen, trotz aller Erschütterungen der letzten hundertfünfzig Jahre, nicht hinwegzudenken und begründet mit die Tüchtigkeit der Deutschen in allen ihren Berufen, ihre freudige Pflichterfüllung und die Hingabe, mit der sie, wenn auch manchmal irregeführt, den Schicksalskampf für ihr Land ausgefochten haben. Indessen ist die Technik — und mit ihr die Geld- und Güterwirtschaft — in einem Maße fortgeschritten, daß sie den modernen Menschen in seinen eigenen Empfindungen, Plänen und Bestrebungen gefangen und der dämonischen Eigengesetzlichkeit dieser Kräfte überantwortet hat. Wir alle kennen aus den beiden großen Kriegen, aus der Weltwirtschaftskrise und den folgenden politischen Umwälzungen die Ohnmacht, die der anonymen Wirkung dieser mechanischen Gewalten entspringt.

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Da die Arbeitskraft und die qualifizierte Leistung des Lohnarbeiters und des technischen und kaufmännischen Angestellten sich in Form von Kosten im Produkt niederschlägt, muß der Industrielle bestrebt sein, ein Höchstmaß an Leistung so billig wie möglich, mindestens aber nicht teurer als der Konkurrent, zu erhalten. Das klingt sehr rauh und bildet ja auch letzten Endes die Grundlage der gegen den Kapitalismus gerichteten marxistischen Soziallehre vom Mehrwert, den der Unternehmer aus jeder Arbeitsleistung herauszuziehen sucht. Trotzdem ist es eine Wahrheit, die nie zu verleugnen sein wird und die heute ebenso in dem staatskapitalistischen Rußland wie in den USA zutrifft. Diese Wahrheit ist indessen keineswegs so grausam, wie die Tatsache, daß der Mensch, der die Arbeit leistet, dabei vergessen wird. Deshalb das Gefühl des Lohnarbeiters und Angestellten, zu einer Nummer des Betriebes geworden zu sein, Originales zu leisten, aber doch nicht mitzuhandeln.

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Der Mitarbeiter als handelndes Subjekt

Der verantwortliche Unternehmer kann also nicht darauf verzichten, den Menschen an seiner Arbeit wirklich zu beteiligen. Er steht vor einer dritten Aufgabe neben seiner technischen und wirtschaftlichen Aufgabe, die einen ebenso ununterbrochenen Lebenskampf erfordert wie die beiden anderen. Diese Entwicklung ist bei uns in Deutschland heute in vollem Fluß. Man schlägt kaum eine Zeitung auf, ohne von dem „Menschen im Betriebe“ zu lesen. Institute und Vereinigungen sind gegründet worden, um Mittel und Wege dieser Beteiligung zu studieren. Man ist auch bereits wieder auf Abwege geraten und glaubt, daß eine bloße materielle Beteiligung am Gewinn, also im Grunde eine bloße Steigerung des Arbeitsertrages, das Problem zu lösen vermöchte. In Wirklichkeit ist dies nur eine von vielen Ermutigungen, die möglich, aber nicht in jedem Fall notwendig sind, um der im technischen Zeitalter verkümmerten sittlichen Kraft des Menschen wieder mehr Geltung zu verschaffen. Jeder Weg indessen, der zu einer Steigerung der menschlichen Verantwortung im Betriebe, zur Verwandlung des Menschen aus einem Objekt in ein Subjekt, zur Meisterung des Notwendigen durch den freien Willen gegangen wird, macht uns stärker und befreit uns von der fatalen Abhängigkeit von ökonomischen und technischen Gesetzen. Soziale Hilfsmaßnahmen zur Überwindung besonderer Notstände oder zur Verbesserung des Betriebsklimas sind eine gute Sache, aber erst das Erwachen des Mitarbeiters zu dem Bewußtsein, ein handelndes Subjekt des Betriebes zu sein und die Pflicht als eine freie selbstgewollte Leistung zu begreifen, leitet den Fortschritt zu einem neuen Dasein ein.

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Zwiespältige Haltung der Linken

Es ist gut, daß die Auseinandersetzung über die wirtschafts- und sozialpolitischen Probleme nicht bei den Organisationen endet, sondern eine endgültige gesellschaftliche Formung auf der politischen Ebene sucht, denn hier überwiegt — was man auch immer von der Abhängigkeit der Politiker von hinter ihnen stehenden Interessen sagen mag — doch der Gesichtspunkt des Gesamtwohls. Leider scheiden sich aber die Geister auch auf dieser Ebene nach überalterten Anschauungen. Ein großer Teil der Linken glaubt offenbar noch heute an die Idee des Marxismus, die einst geboren wurde, um eine kapitalistische Wirklichkeit zu bekämpfen, die heute gar nicht mehr besteht. Sie weiß und fühlt, daß sie sich damit in einem politisch luftleeren Raum bewegt und Gefahr läuft, die Idee im politischen Machtkampf ebenso zur Fassade werden zu lassen, wie es endgültig im stalinistischen Rußland geschehen ist. Sie kann sich aber nicht entschließen, diese Idee abzuwerfen und sich ein neues Gewand anzuziehen, das mehr dem der englischen Labour Party oder gar dem modernen farbigen Gewande der amerikanischen Arbeiterbewegung entspricht. Trotzdem ist unverkennbar, daß in ihren Reihen das Bewußtsein dafür wächst, daß der Wettbewerb selbständiger Unternehmen, also die freie Wirtschaft, auch den Arbeitenden größere Chancen verspricht als eine Sozialisierung im Marxschen Sinne, die praktisch auf eine Verwaltungswirtschaft hinauskommt, mit der Tendenz der Verbonzung durch die herrschende Partei. Was sie indessen brauchte, um sich neuen Ufern zuzuwenden, wäre die Überzeugung, daß die unübersehbaren Risiken der technischkapitalistischen Wirtschaft, durch menschlichen Willen gebändigt, also durch weitsichtige Planung erfaßt, durch ständige Rechenschaft und Aufklärung verständlich gemacht, durch lenkende Eingriffe des Staates gemildert würden, und daß den Menschen im Betriebe größere Aufstiegsmöglichkeiten geschaffen würden. Solange alles dies aber nicht geklärt ist, bleibt die Haltung der Linken in der Frage des Mitbestimmungsrechtes doppeldeutig. Sie kann als ein Ausweg aus der überholten Sozialisierung, aber auch als ein Umweg zur kalten Expropriierung des Eigentums verstanden werden.

Dem stellt die Regierungspartei heute etwas Neues in dem Bekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft entgegen. Indessen ist bisher niemals klar definiert worden, was sie unter der „sozialen Marktwirtschaft“ versteht; zum mindesten stehen sich dabei zwei unterschiedliche Auffassungen gegenüber. Die eine Auffassung geht davon aus, daß das Streben nach möglichst vollendeter Wirksamkeit eines freien Wettbewerbs-Mechanismus von Natur die soziale Wirkung in sich trägt, indem sie alle am Wirtschaftsprozeß Beteiligten — Unternehmer und Arbeitnehmer — nötigt, die höchste persönliche Leistung zu entfalten, und indem sie allen Verbrauchern den besten Nutzen ihres Arbeitsertrages durch freie Konsumwahl, gute Qualität und niedrige Preise der Wirtschaftsgüter gewährt. Die andere Auffassung mißt der Marktwirtschaft an sich keinen sozialen Charakter, aber auch keinen antisozialen, sondern einen ganz neutralen, ökonomischen Charakter bei und sieht die soziale Ergänzung der Wirtschaftspolitik in der gerechten Einkommensverteilung durch steuerliche Maßnahmen, durch einen Ausbau des sozialen Versicherungsschutzes und durch Ermutigung der Sozialpartner zu anständigen Lösungen in Lohn-, Gehalts- und Tariffragen.

Gemeinsame Grundlage für die Wirtschafts- und Sozialpolitik

Jedenfalls aber kann kein Zweifel sein, daß die Regierung eine soziale Befriedung im Rahmen der schwierigen innen- und außenwirtschaftlichen Aufgaben der Bundesrepublik sucht. Dem entspricht die ernste Bemühung, die Idee der Mitbestimmung durch ein Betriebsverfassungsgesetz zu realisieren, das die Kräfte der freien Wirtschaft lebendig erhält und doch Ansatzpunkte für eine Neuordnung des Verhältnisses zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer schafft. Auf der Ebene der Politik also ist der „soziale Imperativ“ auf allen Fronten sehr lebendig, weil hier Einsicht in die politische Bedeutung der Frage herrscht. Es ist aber zu befürchten, daß man auf der bürgerlichen Seite immer wieder in überholte liberalistische Anschauungen zurückfällt, wie wir die Linke immer wieder dem Marxismus huldigen sehen. Es sollte deshalb endlich begriffen werden, daß die soziale Marktwirtschaft nur dann eine Zukunft hat, wenn sie zu einer neuen gemeinsamen Grundlage der Wirtschafts- und Sozialpolitik für das ganze Volk führt. Dies würde geschehen, wenn ihre Träger an die Tendenzen zum freien Wettbewerb, die heute auf der Linken hervortreten, anknüpften und untersuchten, wie eine gemeinsame Abwehrfront geschaffen werden kann sowohl gegen die Infizierung unserer Wirtschaft durch stalinistische Kommandomethoden im marxistischen Gewande wie gegen Ausuferungen eines unkontrollierten Kapitalismus.

Wenn man als einzelner diesen Dingen gegenübersteht, so ergeben sich auf der Ebene des Betriebes, der Organisationen und der Politik viele Möglichkeiten, seine Arbeit, seine Erkenntnisse und seine Verantwortung in die Waagschale für das gleiche Ziel zu werfen. Man kann dies nicht überall zugleich tun. Der Politiker muß auf politischer Ebene darum kämpfen, die Führer der Verbände sind von der Fülle ihrer organisatorischen Arbeit in Anspruch genommen, der Unternehmer und der aufgeweckte Arbeitnehmer brauchen ihre ganze Kraft, um das Neue im Betrieb in praktischer Lebensbewährung zu gestalten. Derjenige, den die Gunst oder der Zwang der Umstände nötigen, von einer Ebene zur anderen zu gehen, sollte nicht zögern, seine Erfahrungen von der einen Sphäre in die andere zu übertragen. Es wird sich ihm dabei offenbaren, daß er ein untrügliches Gesetz in sich trägt, wenn er dem technischen und ökonomischen Mechanismus jenen „sozialen Imperativ“ entgegenstellt.

Quelle: Otto Friedrich, „Der soziale Imperativ“, in Gehen wir aufeinander zu? München: Verlag Mensch und Arbeit, 1958, S. 57–68.