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In der Mitternachtsstunde zwischen dem 14. und dem 15. August 1947 wird hinter ein uraltes Kapitel der Weltgeschichte der Schlußpunkt gesetzt und ein neuer Abschnitt hebt an: Indien hört in dieser Stunde auf, eine Kronkolonie des Königs von England zu sein, und tritt mit dem Dominionstatus in den British Commonwealth of Nations ein.
Indien hat in seiner wechselvollen fast nur mit Blut geschriebenen Geschichte mit allen imperialistischen Völkern Europas Bekanntschaft machen müssen. An keinem Punkt der Erde haben sich Merkantilismus und Imperialismus drastischere Denkmäler ihres Glanzes und ihres Elends gesetzt als gerade in Indien. Portugiesen, Holländer, sogar Dänen machten an den Küsten den Anfang, und das französische Kolonialreich in Bengalen und Dekhan verkörperte in großem Stil den Grundgedanken des merkantilistischen Zeitalters, wonach die Flagge dem Handel folgt, mit anderen Worten, daß der Soldat erobert, was der Kaufmann erschlossen hat. Die Engländer, die das französische Erbe an sich rissen, dehnten ihre Herrschaft schließlich über ganz Indien aus. Einen weithin sichtbaren Höhepunkt brachte das Jahr 1876 mit der Krönung der Queen zur Kaiserin von Indien. Ihr Urenkel Georg VI. wird der letzte Kaisar-i-Hind sein.
Auch die britische Herrschaft hat Indien fast ausschließlich als Ausbeutungsobjekt gesehen, solange Handel und Macht in den Händen der Ostindischen Kompanie vereinigt waren. Wer die Mittel dieser Politik und ihre furchtbaren Wirkungen auf den Zustand des Landes kennenlernen will, dem bieten die biographischen Essays Macaulays über Robert Clive und Warren Hastings ein ebenso umfassendes wie erschreckendes Material. Aber selbst der rücksichtsloseste Ausbeutungstrieb konnte nicht verhindern, daß dieses von den Göttern so verschwenderisch gesegnete Land unter der sorgsamen Leitung und Pflege britischer Vizekönige und eingeborener Führerpersönlichkeiten im Laufe der Jahrhunderte die ihm innewohnenden Kräfte entfaltete und allmählich das sogenannte Mutterland überflügelte. Indiens Handelsbilanz, die früher mit 25 Millionen Pfund Sterling passiv war, ist heute mit 8 bis 9 Millionen Pfund aktiv. Indien beginnt also das neue Kapitel seiner dominialen Freiheit als ein Wirtschaftsstaat mit großen Entwicklungsmöglichkeiten.
Staatsrechtlich verliert Indien jetzt seinen Charakter als Kronkolonie, und die Krone Englands büßt ihre kostbarste Perle ein. Aber Indien bleibt Mitglied der Völkergemeinschaft des zum Commonwealth umgeformten Empire. Nach Irland, Kanada, Südafrika, Australien und Neuseeland werden aus der bisherigen Kronkolonie das sechste und siebente Dominion gebildet: Hindustan, das durch seinen offiziellen Namen Indien rein äußerlich eine gewisse Vorzugsstellung erhält, und Pakistan, mit den ihnen angeschlossenen „Staaten“ der Fürsten, und vielleicht als Sondergruppe eine Anzahl von Fürstenstaaten, die eine Art von Selbständigkeit dem Anschluß vorziehen.
Jahrhunderte hindurch haben die europäischen Imperialisten Indien durch die Inder selbst beherrscht, indem sie ihre Schwächen ausnutzten, die aus den Gegensätzen von Rasse, Religion, Sprache und sozialer Struktur entsprangen. England konnte seine Herrschaft mit 50000 Soldaten und 3000 Beamten britischer Nationalität organisieren und aufrechterhalten Hätten die indischen Parteien 1942 den Vorschlag des Sir Stafford Cripps angenommen, der im Auftrag des Kriegskabinetts unter dem Druck der Kriegslage aus Indien ein einheitliches Dominion machen wollte, dann hätte Indien vielleicht eine Gefahr für den Bestand des Empire werden können. Die jetzt vollzogene Zwei- oder Dreiteilung – nach der alten römisch-britischen Devise divide et impera – bedeutet eine weitgehende Sicherheit für die Erhaltung britischer Einflüsse. Denn Englands Politik wird, wie auch bisher schon, sich zweifellos der Pflege ihrer Beziehungen zu den Moslems widmen und auch unter den Fürsten, den selbständigen wie den angeschlossenen, manche brauchbare und bequeme Stütze finden. Ja selbst von den Führern Hindustans ist bisher noch keine Äußerung bekanntgeworden, die auf eine baldige Abkehr vom Empire schließen ließe. Sogar ein so begeisterter Vorkämpfer indischer Freiheit wie der Pandit Nehru hat in seiner Selbstbiographie das Bekenntnis abgelegt, daß er England zu viel verdanke, als daß er sich ihm gegenüber jemals fremd fühlen könne, und alle seine Neigungen außerhalb der Politik sprächen für England und das englische Volk.
Auf absehbare Zeit hinaus wird also wohl keines der beiden Dominions von dem allen Dominions zustehenden Recht, aus dem Empireverband auszuscheiden, Gebrauch machen, am wenigsten Pakistan, das durch die Ernennung Jennahs zum Generalgouverneur bereits einen Beweis besonderer britischer Gunst erhalten hat. Beide Dominions erblicken, das ist der logische Schluß aus den Tatsachen, in einer Aufrechterhaltung der staatsrechtlichen und vor allem wirtschaftlichen Beziehungen zum Empire Chancen, die sie auszunutzen entschlossen sind.
Mit dem 15. August 1947 werden die beiden indischen Dominions selbst über ihre Politik nach innen und außen zu bestimmen haben. Pakistan wird seine Anstrengungen im eigenen Interesse besonders seiner wirtschaftlichen Entfaltung zuwenden, von der seine gesamte Zukunft abhängt. Ohne die Hebung der schwach entwickelten Wirtschaftskräfte seiner Bevölkerung wird es für Pakistan keinen kulturellen Fortschritt und keine politische Macht geben. Nur die Befreiung der meist ärmlichen Dahinlebenden von ihrem bedrückten Dasein kann den politischen Sieg vollenden, den Jinnah durch seine hartnäckige Freiheitspolitik für Pakistan erfochten hat. Und das Hindu-Dominion Indien wird trotz allen Reichtums seines Redens und seiner oberen Volksschichten nicht den erwünschten Aufschwung nehmen können, wenn es ihm nicht gelingt, das soziale Problem, das ihm durch die versteinerten Kasten gestellt ist, zu lösen. Denn der Beschluß, die „Unberührbaren“ aus ihrer jahrtausendealten Paria-Stellung zu erlösen, ist zunächst nicht mehr als eine Kundgebung. Nur ein radikaler Bruch mit dem Kastensystem kann diejenigen Volkskräfte freimachen, von denen ein Fortschritt im großen abhängt. Doch was tausend Jahre hindurch konserviert wurde, kann nicht von heute auf morgen aus der Welt und noch weniger aus dem Bewußtsein der Menschen geschafft werden.
Der weitere Lebensgang der neuen Dominions Indien und Pakistan, auch das darf in Indiens Schicksalsstunde nicht übersehen werden, wird sicherlich auch davon beeinflußt werden, welchen Erfolg die Idee Pan-Asien in kommenden Jahrzehnten für die Völker Asiens bringen wird. Für den Augenblick und für den nächsten Abschnitt indischer Geschichte bleibt die Gemeinschaft mit den Empire-Völkern bestehen, und damit bleibt auch eine Bindung erhalten. Ihre stärksten Garanten sind die beiden vom englischen König ernannten Generalgouverneure und der gemeinsame britische Oberbefehlshaber der zwischen Indien und Pakistan aufgeteilten Armee.
Quelle: „Freies Indien“, Neue Zeit, Nr. 188, 14.August 1947.