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Dreißig Jahre lang hat Pandit Nehru zusammen mit Gandhi für die Unabhängigkeit Indiens gekämpft, die nun in diesen Tagen Wirklichkeit geworden ist. Erst im Sommer 1945 aus der Haft entlassen – wegen „civil disobedience“ – ist er heute der erste Ministerpräsident der Freien Indischen Union. Ja, er ist mehr noch als dies, er ist für die Völker Asiens das Sinnbild der Freiheit, ein Führer der Farbigen in ihrem Kampf um die Gleichberechtigung. „Kein europäisches Land, welches auch immer es sei, hat das Recht, seine Truppen in Asien einzusetzen“, so lautet sein Protest gegen das Vorgehen der Holländer, in Indonesien. Und die zahllosen Völkerschaften seines riesigen Reiches, die ihm zujubeln, wo immer er sich zeigt und seine Reisen durch das Land jedesmal zu einem wahren Triumphzug gestalten, sind überzeugt, daß er zwar heute nur das Recht hat, so zu sprechen, daß er aber in wenigen Jahren auch im Besitz der Macht sein wird, entsprechend zu handeln. Die in seinen Augen übertriebene Hingebung und Begeisterung, mit der er verehrt wird, hat ihn übrigens einmal dazu veranlaßt, eine anonyme Broschüre zu schreiben, in der er vor Pandit Nehru warnt mit der Begründung „wir wollen keine Cäsaren“.
Nehru glaubt an den Fortschritt, und wenn er das von Hungersnöten und sozialem Elend geplagte Land vor Augen hat, manifestiert sich für ihn der Fortschritt offenbar in der Hoffnung auf industrielle Entwicklung auf die Erschließung der großen Reichtümer und Möglichkeiten seines Landes. Aus eben diesem Grunde erwächst auch seine Vorstellung, daß nur die Abschaffung der Kasten und die Einführung der allgemeinen Gleichheit jene moderne Sozialverfassung ermöglicht, die ihm allein die Voraussetzung für die Entfaltung der äußersten Leistungsfähigkeit zu bilden scheint. Nehru ist darum Sozialist und überdies im letzten Grunde gegen eine orthodoxe Religion, weil sie nach seiner Meinung alles zum Erstarren bringt und keine lebendige Entwicklung zuläßt. Und wiederum aus dem gleichen Grunde, ist er auch ein kompromißloser Gegner Großbritanniens; er ist dies, wie er in seiner Selbst-Biographie schreibt, fast gegen seinen Willen geworden und nur darum, weil er den „britischen Imperialismus“ haßt, der die wirtschaftliche Entwicklung Indiens hemme und den sozialen Fortschritt zugunsten der Bevorzugung gewisser Gruppen und der Verewigung ihrer Machtstellung unmöglich mache. Es ist ein Beweis für die menschliche und staatsmännische Überlegenheit Pandit Nehrus, daß er offenbar vollkommen frei von persönlichem Ressentiment gegen England ist obgleich er seinen Kampf für die Unabhängigkeit Indiens mit zahllosen Freiheitsstrafen hat büßen müssen. Insgesamt hat er sechzehn Jahre seines Lebens in Haft zugebracht.
Nehru schwebt offenbar eine vollkommene Revolutionierung aller sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse Indiens vor. Hierbei ist anzunehmen, daß ihm auf manchem Gebiet die Sowjetunion als Beispiel dienen wird, so vor allem hinsichtlich einer Agrarreform, deren Wichtigkeit er immer wieder betont. Er spricht ferner von der Notwendigkeit, die Grundstoffindustrien als Staatseigentum zu entwickeln, will aber den Begriff des Privateigentums nicht aufgeben. Er bezeichnet sich zwar als Individualisten, fordert aber die Beschränkung gewisser persönlicher Freiheiten zugunsten, der größeren Freiheiten. Verschiedentlich hat Nehru den Wunsch ausgesprochen, die Freundschaft und Beziehungen Indiens zu dem Volke in der UdSSR enger zu gestalten und in diesem Sinne ist es auch zu werten, wenn er heute seine Schwester als erste Botschafterin der Indischen Union nach Moskau schickt; eine Geste, die sicherlich von den Russen durch Entsendung einer ähnlich prominenten Persönlichkeit – es wurde neulich der frühere Botschafter in London, Maiski, genannt – beantwortet werden wird.
Eines aber steht fest: daß sich Nehru niemals in politische Abhängigkeit von irgendeinem Staat der westlichen oder östlichen Welt begeben wird. Ebenso wie er es für politisch unklug hielt, sich 1942 der Japaner zu bedienen, um die verhaßte englische Vorherrschaft zu brechen, hat er auch während des Endkampfes um die Freiheit die russische Karte nie ausgespielt.
Jawaharlal Nehru, wie sein eigentlicher Name lautet, ist seiner Herkunft und dem äußeren Erscheinen nach keineswegs ein prädestinierter Revolutionär. Er stammt aus einer reichen brahmanischen Familie, ist Aristokrat und wie die Söhne vieler wohlhabender indischer Familien ganz in England erzogen worden, wo er mit sechzehn Jahren zunächst in Harrow die Schule besuchte und dann in Cambridge studierte. Seine Beherrschung der englischen Sprache wird von allen, die ihn kennen, als schlechthin vollkommen bezeichnet. Nehru, der als junger Mensch wegen seiner fast klassischen Schönheit in jeder Umgebung auffiel, ist auch heute noch das, was man eine elegante Erscheinung nennt, und es gibt unter den europäischen Staatsmännern wahrscheinlich nicht viele, die ihm an Bildung, Kenntnissen, und Kultur überlegen sind. Sein Buch „Die Entstehung Indiens“, das während seiner letzten Haftzeit entstanden ist und die Geschichte von annähernd viertausend Jahren umfaßt, ist hierfür ein beredtes Zeugnis.
Wenn in unserem materialistischen Zeitalter religiöse Gesichtspunkte die Grenzziehung neu entstehender Staaten beeinflussen, so sollte man meinen, daß die Führer der vorangegangenen „Religionskämpfe“ diese Momente besonders glaubwürdig verkörpern. Bei Mohammed Ali Dschinnah, dem Führer der Moslemliga, ist dies aber wohl kaum der Fall. Seine Familie gehörte einer schiitischen Sekte an, die im offenen Gegensatz zum rechtgläubigen Islam steht und er selber gilt als nicht sonderlich vertraut mit der klassischen islamisch-arabischen Bildung. Dennoch ist er heute als Generalgouverneur das Oberhaupt des neuen Indischen Staates Pakistan, den er für die Mohammedaner erkämpft hat, obgleich eigentlich niemand, am allerwenigsten Gandhi, der große Weise, verstanden hat, warum aus Gründen der Religionsdifferenz eine neue „Nation“ gebildet und die Einheit Indiens zerstört werden mußte.
Dschinnah stammt aus einer reichen Kaufmannsfamilie aus Karadschi. Auch er ist in England erzogen worden und wurde zunächst dort und später in Indien als erfolgreicher und ehrgeiziger Rechtsanwalt bekannt. Er ist ein brillianter Redner; nach Kleidung, Typ und Denkungsart weitgehend europäisiert, hat er seine Sympathien für England nie ganz verloren. Dschinnah ist offenbar ein im Grunde ungeistiger Mensch und weit mehr Geschäftsführer einer Partei als Staatsmann; darum hat er das Trennende der beiden großen indischen Gruppen von jeher über das Einigende gestellt, kompromißlos ist er immer nur in der Interessenvertretung der Mohammedaner gewesen, die er vor dem Übergewicht der Hindus in einem all-indischen Staat schützen wollte. Ob dies für ihn religiöses Gebot war oder nur politisches Ziel mit der Möglichkeit einer Machtentfaltung seiner eigenen Person, sei dahingestellt oder allenfalls beantwortet durch die Tatsache, daß er als erste Regierungshandlung den Titel Qaid-i-Azam, „Erhabener Führer“, als offizielle Bezeichnung angenommen hat. Heute ist Mohammed Ali Dschinnah das Staatsoberhaupt des größten mohammedanischen Staates, er ist dies und das ist das Einmalige an seiner Stellung, in der Funktion eines Generalgouverneurs, die ihn mit dem Generalgouverneur für die Indische Union, Lord Mountbatten, koordiniert. Im Hinblick auf die Lage in Indien und auch im Vorderen Orient: eine sicherlich zweckmäßige und weitschauende Maßnahme Englands.
Quelle: Marion Gräfin Dönhoff, „Nehru und Dschinnah“, Die Zeit, Nr. 34, 21. August 1947. Online verfügbar unter: https://www.zeit.de/1947/34/nehru-und-dschinnah