Kurzbeschreibung

Bis zum Bau der Berliner Mauer 1961 ist der Grenzübertritt in Berlin relativ leicht möglich. Junge Ostdeutsche nutzen dies, um tagsüber in West-Berlin in der Nähe der Grenzübergänge spezielle Kinovorstellungen mit Filmen aus dem Westen zu besuchen. Diese Vorführungen werden steuerlich gefördert, aber der Zeitungsartikel vom April 1956 kritisiert, daß das Filmprogramm im wesentlichen aus Unterhaltungsfilmen ohne kulturellen Anspruch besteht.

„In den Grenzkinos: Mit Schmarren für die Freiheit!“ (April 1956)

  • Werner Berger

Quelle

Nebenan, an den verwitterten Hütten im Schatten geklinkerter Fabrikfassaden, werden „echter Pfeffer“ und andere Gewürze, Därme und Bindegarn für Mähdrescher angepriesen. Auf der anderen Straßenseite sind die „ideellen Güter“, die man den Besuchern aus dem Osten „preiswert und in guter Qualität“ zu bieten hat, plakatiert: Eine Kugel wartetDer Engel der HalbstarkenMit stahlharter FaustKönig der RaketenmännerHeiße Lippen, kalter Stahl: Filmtitel der sogenannten Grenzkinos, wie man sie am Potsdamer Platz, in der Brunnenstraße, nahe der Warschauer Brücke und an fast allen Grenzübergängen findet. Auch der Wochenmarkt, der wirklich die ganze Woche hindurch geöffnet ist, findet sich zumeist unmittelbar dabei.

Ketten und Seile werden gespannt, wenn der Beginn der nächsten Vorstellung auf eine halbe Stunde herangerückt ist. In langen Schlangen zu Hunderten, wie in der Reichsmarkzeit, drängeln sich die Wartenden vor dem Eingang. Eintrittspreis: 25 Pfennig (West) oder 1,50 DM (Ost), heißt es an der Kasse. „Die Ausweise bitte zur Kontrolle bereit halten!“ Kaugummis sind der meistgewünschte Artikel an der Theke des Süßwarenstandes im Foyer. Ein „Extrablatt“, kostenlos am Eingang überreicht, informiert über das nächste Programm.

... zum Dixieland

Die Luft im Kino ist zum Schneiden, ein Brodem, der den Atem nimmt, aber kein Manko für die Kinokasse, denn drei bis vier Vorstellungen – „Sondervorstellungen für Ostbesucher“ – stehen von 9 bis 15.30 Uhr auf dem Spielplan. Die schmalen Türen, jedesmal nur für etwa 20 Minuten geöffnet, bewältigen zwar den Publikumswechsel, nicht aber die Lufterneuerung. Bonbonpapier, Schokoladenumhüllungen, fortgeworfene Programme sind auf dem Boden festgetreten. Die Reinemachfrauen können den Umschlagplatz der flachen Illusion nicht alle zwei Stunden säubern. Doch die Besucher stört das nicht. Nur wenige sind älter als 25 Jahre; kaum jemand zählt mehr als 40. Hier kommt man mit der Aktentasche aus der Berufsschule oder besucht das Kino wegen der günstigen Öffnungszeiten. Die Lautsprecher mit der Musik, die ebenso „heiß“ ist wie die Atmosphäre, schmettern die synkopischen Dixielands etwas lauter als in anderen Kinos. Das ist unumgänglich, denn sonst würde man unter dem rhythmischen Füßestampfen der Besucher keine Melodie mehr heraushören.

... eine gute Idee

Als vor etwa sechs Jahren die Idee auftauchte, man sollte die Besucher aus den sowjetisch besetzten Gebieten, wie es so schön hieß, „kulturell betreuen“, schwebte den Iniatoren vor, all jene Filme zu zeigen, die ein Gewinn sind. Man war sogar bereit, Opfer zu bringen. Die Behörden verzichteten auf Vergnügungssteuer, die Filmverleiher verlangten nicht einmal Gebühren, etwa zwei Dutzend Kinos nahe der Sektorengrenze erhielten das Privileg, unter diesen Vergünstigungen Sondervorstellungen aufzuführen. Damit unlautere Konkurrenz vermieden werde, galt nur die Bedingung, daß nicht gerade Filme gezeigt werden, die in den Abendvorstellungen der anderen Kinos laufen. Aber unter den Reprisen, bisweilen nicht einmal ein Vierteljahr alt, konnten die Filmtheaterbesitzer frei wählen.

Prompt setzte ein, was man unter der Diktatur des Publikumsgeschmacks versteht. Die Fahrraddiebe oder das Schwurgericht blieben leer. Texas-Serenaden mit drei Pistolen und 15 Toten hatten ein volles Parkett. Doch die Ursache lag nicht bei jenen Besuchern aus dem Osten, die da aus verständlichen Gründen sagen: „Ich will keinen Problemfilm, sondern leichte Unterhaltung, wenn ich im Westen ins Kino gehe. Probleme habe ich zu Hause genug.“ Diese Besucher haben gar nicht die Zeit, die bis etwa 16 Uhr begrenzten „Sondervorstellungen“ zu besuchen. Abends spielen die Grenzkinos das „normale“ Programm, zu nicht ermäßigten Preisen. „Niemand würde uns eine Ausfallbürgschaft geben, falls unsere Sessel in den Sondervorstellungen leer bleiben“, argumentieren sie. Die Jugendlichen, die Berufsschüler jedoch, die Zeit zu einem Kinobesuch am Vormittag haben, diktieren: „Wildwestfilme wollen wir sehen.“ Und das Programm kam ihnen entgegen.

Es gab kaum Sondervorstellungen, die unter diesen Bedingungen unbesucht blieben; und es gibt Kenner der Branche, die nachweisen, daß kaum noch ein Grenzkino in mangelhaftem baulichen Zustand sei. Viele dieser Theater konnten sogar neue Häuser in anderen Bezirken bauen. Das veranlaßte den Verband der Filmverleiher vor etwa drei Jahren, von den Theaterbesitzern auch für die „Ostfilme“ ein Entgelt, die Hälfte des sonst üblichen Verleihsatzes zu verlangen. Dennoch versuchten einige der Grenzkinos, statt eines platten Lustspiels eine Komödie mit Niveau zu bringen. Zu einem finanziellen Erfolg jedoch – der Basis jeden Kinos – kamen sie nur, wenn die Umgebung ihnen genügend Interessenten zuführte, nicht nur „Halbstarke“, die ihren Engel im Knockout sehen. Wer nur am späten Nachmittag oder am Abend Zeit hat, kann ohnehin nur in die anderen Westkinos gehen. Für diese Ostbesucher, die sogar den erhöhten Eintrittspreis bezahlen – wenngleich auch in den regulären Vorstellungen gewisse Ermäßigungen gewährt werden –, wäre es angebracht, „Sondervorstellungen“ mit erhöhtem Niveau zu veranstalten. Aber sie sind gehandicapt.

Wir wollen nicht auf die scheinheiligen Argumente der Ostpresse eingehen, die behauptet, die Jugendlichen würden durch die Filme zu kriminellen Handlungen angeregt. Das Problem wäre auch kaum weniger umstritten, wenn die Kinobesitzer nicht sagen könnten, jeder aufgeführte Film sei bereits von der Selbstkontrolle geprüft, so daß keine Bedenken bestehen können. Aber über den Wert jener Zelluloidprodukte, mit denen die „kulturelle Hilfe“ des Westens dokumentiert werden soll, besteht dessenungeachtet kaum ein Zweifel. Warum soll man etwas propagieren, was selbst hierzulande umstritten ist?

Weniger wäre mehr!

Solange der Steuerzahler nicht aus eigener Tasche dazu beiträgt, brauchte man die Frage nicht zu stellen, ob eine andere Programmauswahl angebracht sei oder nicht. Aber jährlich rund

600 000 DM macht der Erlaß der Vergnügungssteuer von 20 Prozent für die rund 2,5 Millionen Besucher der Grenzkinos aus. Warum soll man etwas subventionieren, wenn die Ausstattung der Kinos den Schluß zuläßt, daß nicht eine Existenzfrage auf dem Spiele steht? Einige Besitzer von Grenzkinos sagen, bei einem Eintrittspreis von 30 Pfennig wäre der Besuch nicht geringer, und auf die Vergnügungssteuer brauchte nicht einmal verzichtet zu werden, weil sie durch die Einnahmen gedeckt sei. Gewiß, ein Posten von 600 000 DM fällt bei einem Etat der Stadt Berlin von zwei Milliarden kaum ins Gewicht. Aber zur Finanzierung von Räuberpistolen erscheint auch diese Summe nicht angebracht. Bleibt die Frage: sollte man nicht die Zahl der Grenzkinos auf eines oder zwei pro Sektor reduzieren? Allerdings unter der Bedingung, daß sie wirklich gute Filme, und zwar auch im Abendprogramm als „Sondervorstellung“ für Ostbesucher spielen.

Quelle: Werner Berger, „In den Grenzkinos: Mit Schmarren für die Freiheit!“, Blickpunkt 51, April 1956, S. 16–17.