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Wo wir nicht sind . . . „Berlin – Ecke Schönhauser“, ein DEFA-Film von internationalem Format
Ist in der internationalen Filmproduktion der „Halbstarken“-Film in Mode gekommen? Cayatte in Frankreich schuf zum Beispiel „Vor der Sintflut“, aus Amerika kam „Saat der Gewalt“, ein Film der den Rock’n’ Roll in die Welt exportierte, in Westdeutschland entstand „Die Halbstarken“, Polen brachte „Die fünf von der Barska-Straße“, Ungarn „Ein kleines Helles“ (Julika mit der Stupsnase) und „Zwei Geständnisse“ und nun von der DEFA „Berlin – Ecke Schönhauser“.
„Halbstarken“-Filme? Ja und nein. Die Mehrzahl, von verantwortungsbewußten Künstlern geschaffen, sind nicht Ausdruck der Psychose leichtfertig urteilender Menschen, die sich an ein Wort klammern und gern den Stab über einen Teil der jungen Generation brechen möchten, der noch nicht die rechte Einstellung zum Leben gefunden hat. Zwei der hier genannten sind jedoch „Halbstarken“-Filme. Bei ihnen, dem Amerikaner und dem Westdeutschen, hat man nicht das Gefühl, daß sie aus der Sorge um gefährdete junge Menschen entstanden sind, sondern aus dem Bedürfnis, aus einem heiklen Problem unserer Zeit Kapital zu schlagen. Indem sie das ohne künstlerische Verantwortung und Konsequenz tun, tragen sie auf ihre Weise weiter dazu bei, die unter der Jugend verbreitete Krankheit zu pflegen.
Daß bei der DEFA kein Film in diesem Sinne und schon gar kein „Halbstarken“-Film entstehen konnte, ist selbstverständlich. Dieses Thema, bei uns aufgegriffen, bedeutet nicht nur den Finger auf eine Wunde unserer Zeit zu legen, sondern auch einige ihrer Ursachen aufzudecken. So, und nur so, kann im Grunde genommen der verantwortungsbewußte humanistische Künstler an dieses Thema herantreten.
„Berlin – Ecke Schönhauser“ ist ein Werk des, so könnte man sagen, Berliner-Kollektivs der DEFA. Selbst Berliner, schufen der Schriftsteller Wolfgang Kohlhaas und der Regisseur Gerhard Klein die Filme „Alarm im Zirkus“, „Eine Berliner Romanze“ und nun diesen, ohne Zweifel den besten von den dreien. Kameramann Wolf Göthe gehört seit der „Romanze“ zu diesem Kollektiv. Was sie uns immer zeigten, das ist echtes unverfälschtes Berlin, sind Menschen, denen wir begegnen, wenn wir uns im eigenen Haus umschauen oder die Nase einmal durch den imaginären Eisernen Vorhang (Made in USA) in die westliche Hälfte der Stadt stecken. Wie sie das gemacht haben, läßt durchaus Vergleiche mit Werken des meisterhaften Schilderers von Paris, René Clair, und italienischer Regisseure zu. Nun ist zwar für den Film treffsicher gezeichnetes Milieu eine wichtige Voraussetzung, doch um das Prädikat „künstlerisch“ vergeben zu können, müssen noch andere Kriterien bemüht werden. Wenn wir auch „Berlin – Ecke Schönhauser“ kräftig zerkleinern, schütteln und dann die viel gerühmten und geforderten Maßstäbe anlegen, da bleibt letzten Endes doch erst einmal die Pflicht, den Hut zu ziehen, um uns für so viele Meter klug und mutig belichtetes Zelluloid zu bedanken.
Was wir zu sehen bekommen, ist eine Seite unseres Alltags, man muß deshalb die Handlung nicht in Einzelheiten schildern. Man steige nur in die Straßenbahn und fahre am Abend vom Bahnhof Friedrichstraße über die Schönhauser Allee nach Pankow, dann begegnen wir den Helden dieses Films gewiß an jeder dritten Straßenecke. Sie stehen mit unbeteiligtem Gesicht in der Gegend herum, sind albern und frech, drängen sich um ein Kofferradio das heiße Musik spendet. Die in den Taschen vergrabenen Hände kommen nur ans Tageslicht, um die nach James Dean, dem Jungmädchenidol aus Hollywood, gerichtete Frisur aufzufrischen. Obwohl sie mitunter lästig sind, gehören sie doch zu den Harmlosen, aber Gefährdeten.
Bei anderen sitzt der Wurm schon tiefer. Oft verfügen sie bereits über ein amtlich registriertes Sündenregister, was ihnen genauso oft zäh anhängt und nicht hilft, aus dem Dreck herauszukommen. Alle sind sie anfällig für die Gefahren der gespaltenen Stadt. Dann wären da noch einige Hauptbeteiligte, nämlich ich und du, die wir ja auch für „die an der Ecke“ die Verantwortung tragen.
Wenn das strapazierte Wort von dem Spiegel des Lebens noch einen Sinn hat, bitte sehr, seht euch diesen Film an. Das Bild, das er uns zeigt, ist echt und darum noch nicht ohne Flecken. Darin und in der Hartnäckigkeit, in der immer wieder nach dem Warum des Schlechten gefragt wird, liegt zu einem großen Teil der Wert und die Bedeutung des Films.
Wolfgang Kohlhaas und Gerhard Klein haben sich nicht vor der Darstellung von scharfen Konflikten gescheut. Es sei in diesem Zusammenhang auf unsere Besprechung der „Berliner Romanze“ vor einem Jahr verwiesen. Wir hatten geschrieben: „Die klar und übersichtlich geführte Handlung hätte allerdings mehr Spannungsmomente enthalten können . . . sowie eine akzentuiertere Behandlung der Lebensfragen der gespaltenen Hauptstadt.“ Das war damals, vielleicht bedingt durch die Kürze der Formulierung, nicht gleich richtig verstanden worden, wie aus einer in der „Jungen Welt“ in diesem Zusammenhang unter einem Pseudonym veröffentlichten Polemik hervorging. „Berlin – Ecke Schönhauser“ hat die in der „Romanze“ vorhandenen und kritisierten künstlerischen Schwächen weitgehend überwunden und ist so in mancherlei Hinsicht für die Filmschaffenden unserer Republik beispielhaft.
Es fehlt hier der Platz, um im einzelnen nachzuweisen, warum Gerhard Klein heute schon zu den führenden Regisseuren der DEFA gehört, nicht zuletzt weil er ein Mann mit eigener künstlerischer Handschrift ist und sich mit seinem Autor dem Gegenwartsfilm verschrieben hat. Im Interesse unserer Filmkunst ist nur zu wünschen, daß er mit Kohlhaas und Göthe zusammenbleibt. Langjährige Zusammenarbeit ist in der Filmproduktion von unschätzbarem Wert, wie immer wieder Filme von rasch zusammengewürfelten Produktionsstäben beweisen.
Die Darsteller dieses ausgezeichneten Films sind gut ausgewählt. Allen voran, als verständnisvoller Offizier der Volkspolizei, Raimund Schelcher. Wegen seiner hervorragenden Darstellungskunst in zahlreichen neueren DEFA-Filmen, darunter besonders „Schlösser und Katen“, dürfte dieser Künstler wohl zu den aussichtsreichsten Anwärtern auf einen der vom Ministerium für Kultur gestifteten Filmpreise zählen.
Dem jungen Schauspieler Ekkehard Schall war die Hauptrolle übertragen. Schall macht es sich, aber auch dem Publikum nicht leicht. Seine expressive, von der Bühne geprägte, oft stilisierende Spielweise ist für Filme dieses Genres ungeeignet. Es ist gewiß dem Regisseur zu danken, daß auch eine oft pathologisch wirkende Manie im Spiel des Künstlers auf ein Mindestmaß reduziert wurde. Trotz allem ist die Verpflichtung Ekkehard Schalls für den Film zu begrüßen, die Palette unserer Darsteller wird durch ihn mit einem interessanten Typ ergänzt.
Gerhard Klein hat auch wieder Laiendarsteller verpflichtet. Ilse Pagé ist für die Angela ein treffender Typ, und da ihr schon durch das Drehbuch nicht mehr zugemutet wird, als sie unter der Anleitung eines erfahrenen Regisseurs zu geben vermag, überzeugt diese kleine, zierliche Person in vieler Hinsicht.
Genannt seien hier noch Ernst Schwill, Harry Engel, Helga Göring, Erika Dunkelmann, Hartmut Reck, Siegfried Weiß und Manfred Borges, die wesentlich zum Erfolg des Filmes beitragen.
Wo wir nicht sind, da sind unsere Feinde. Das ist einer der am Schluß des Werkes (überflüssigerweise) ausgesprochenen Hauptgedanken. Es wäre die logische Fortsetzung der drei von diesem Kollektiv geschaffenen Filme, wenn der nächste seine Problematik aus den Bereichen unseres Lebens schöpfen würde, „wo wir sind“. Einen solchen Film in der gleichen künstlerischen Weise zu gestalten, wäre nicht nur verdienstvoll für die Entwicklung unserer Filmkunst, sondern auch die höhere Stufe im Schaffen von Wolfgang Kohlhaas, Gerhard Klein und Wolf Göthe.
Quelle: Horst Knietzsch, „Wo wir nicht sind . . . ‚Berlin – Ecke Schönhauser‘, ein DEFA-Film von internationalem Format“, Neues Deutschland, Nr. 207, 3. September 1957, S. 4.