Kurzbeschreibung

Der Antrag der Bundesrepublik Deutschland, den Dokumentarfilm Nacht und Nebel vom Wettbewerb in Cannes zurückzuziehen, sorgte nicht nur international, sondern auch in Deutschland selbst für Konflikte und Verstimmung. Diese Debatte im Bundestag zeigt die scharfe Trennlinie zwischen Politiker*innen, die glaubten, dass der Film Probleme in den internationalen Beziehungen Deutschlands verursachen würde, und jenen, die glaubten, dass der Film ein notwendiger Teil der deutschen Vergangenheitsbewältigung sei, und die der Meinung waren, dass die Entfernung des Films vom Filmfestival in Cannes gleichbedeutend mit dem Schweigen Deutschlands über seine Vergangenheit sei. Im Juli 1956 kündigte die westdeutsche Regierung schließlich an, dass sie die Übersetzung des Filmtextes ins Deutsche finanzieren würde, damit der Film auch in deutschen Kinos gezeigt werden könne. Paul Celan, ein in Rumänien geborener jüdischer Dichter, der während des Krieges in einem Zwangsarbeitslager inhaftiert gewesen war, wurde für die Übersetzung des Textes ausgewählt. Celans Übersetzung verlieh dem Film eine jüdische Perspektive, denn in seiner französischen Fassung war kritisiert worden, dass er die Verfolgung der Juden nicht thematisierte. Jean Cayrol, der den Originaltext des Films verfasst hatte, war Katholik und wurde aus politischen Gründen verfolgt; Kritiker argumentierten, dass Cayrols Darstellung des Holocausts einen universellen Völkermord darstellte und nicht einen Völkermord, der sich speziell gegen das jüdische Volk richtete. Celans Text dagegen spricht eine Verurteilung des Rassenhasses und eine Warnung aus, dass dieser Hass jederzeit wieder aufkommen kann.

Bundestagsdebatte über den Dokumentarfilm Nacht und Nebel (1956)

Quelle

2. Deutscher Bundestag — 140. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. April 1956

Vizepräsident Dr. Jaeger: Ich rufe auf Frage 26 der Frau Abgeordneten Renger betreffend. Absetzung des französischen Dokumentarfilms „Nacht und Nebel“:

Trifft es zu, daß die Bundesregierung über den Botschafter in Paris bei dem Organisationskomitee der Canner Filmfestspiele wegen der Absetzung des französischen Dokumentarfilms „Nacht und Nebel“, der die nationalsozialistischen Verbrechen in den Konzentrationslagern anklagt, Schritte unternommen hat?
Welche Gründe haben die Bundesregierung zu dieser Intervention bewogen?

Für das verhinderte Auswärtige Amt spricht das Bundesministerium des Innern durch Herrn Staatssekretär Ritter von Lex.

Ritter von Lex, Staatssekretär im Bundesministerium des Innern: Der im ersten Teil der Frage geschilderte Tatbestand ist zutreffend. Die Bundesregierung hat die Überzeugung gewonnen, daß die Vorführung des französischen Films „Nacht und Nebel“ im Widerspruch zu den Satzungen und zu dem Sinn der Filmfestspiele in Cannes stehen würde. So sehr sich die Bundesregierung mit den Autoren des Films in ihrem Abscheu vor den nationalsozialistischen Verbrechen in den Konzentrationslagern einig weiß, so glaubt sie dennoch nicht, daß internationale Filmfestspiele, die der Zusammenarbeit zwischen den Völkern dienen sollen, der rechte Ort sind, um einen Film zu zeigen, — —

(Abg. Dr. Menzel: Die Wahrheit zu zeigen!)

— Nein!

(Abg. Dr. Schmid [Frankfurt]: Herr Staatssekretär, durch Verschweigen fördert man die Zusammenarbeit nicht!)

Vizepräsident Dr. Jaeger: Wir stehen in der Fragestunde. Eine Frage der Frau Abgeordneten Renger wird von dem Staatssekretär beantwortet. Frau Abgeordnete Renger hat die Möglichkeit der Zusatzfrage.

Ritter von Lex, Staatssekretär im Bundesministerium des Innern: Ich wiederhole: die Bundesregierung glaubt nicht, daß internationale Filmfestspiele, die der Zusammenarbeit zwischen den Völkern dienen sollen, der rechte Ort sind, um einen Film zu zeigen, der nur allzuleicht dazu beitragen kann, den durch die nationalsozialistischen Verbrechen erzeugten Haß gegen das deutsche Volk in seiner Gesamtheit wieder zu beleben.

(Abg. Dr. Arndt: Das ist doch Unsinn! Unglaublich, so etwas zu sagen!)

Vizepräsident Dr. Jaeger: Das Wort zu einer Zusatzfrage hat Frau Abgeordnete Renger.

Frau Renger (SPD): Herr Staatssekretär, dieser Einspruch ist ja nicht von der Filmleitung in Cannes selbst erfolgt, sondern auch diesmal von der Bundesregierung. Im vorigen Jahr war es ein KZ-Film, ein norwegisch-jugoslawischer Gemeinschaftsfilm. Glauben Sie nicht, daß man dadurch den Eindruck erwecken könnte, daß sich hier die Bundesregierung unnötigerweise mit etwas identifiziert, was sie nicht will? Glauben Sie nicht, daß man durch andere, geeignetere Schritte als die Verhinderung der Aufführung eines solchen Films das deutsche Volk davor schützen und vor dem Eindruck bewahren könnte, falsch verstanden zu werden, als ob es sich vor solche Dinge stellen wolle? Begibt man sich dadurch nicht auch der Möglichkeit, Filme, die im eigenen nationalen und internationalen Interesse stehen, in Cannes vorführen zu lassen?

Ritter von Lex, Staatssekretär im Bundesministerium des Innern: Frau Abgeordnete, wir sind uns sicher einig darin, daß das, was während des sogenannten Dritten Reichs geschehen ist, mit allem Abscheu aufgenommen werden muß.

(Abg. Dr. Arndt: Na also! — Abg. Dr. Menzel: Und nicht vergessen werden darf!)

Wir sind aber der Auffassung, daß die internationalen Filmfestspiele in Cannes wirklich nicht dazu da sind, — —

(Abg. Wehner: Sie sollen das „deutsche Wunder“ zeigen und nicht die Kehrseite! — Zuruf von der SPD: Besser,deutsche Schnulzen! — Weitere Zurufe von der SPD.)

Vizepräsident Dr. Jaeger: Ich bitte, dem Herrn Staatssekretär die Möglichkeit zu geben, seine Antwort zu Ende zu bringen.

Ritter von Lex, Staatssekretär im Bundesministerium des Innern: Ich bin mit der Antwort zu Ende.

Vizepräsident Dr. Jaeger: Eine zweite Zusatzfrage!

Frau Renger (SPD): Ich frage den Herrn Staatssekretär, ob die Bundesregierung nicht der Meinung ist, daß sie sich durch die Vorführung gerade solcher Filme von den Verbrechen des Nationalsozialismus absetzt und das deutsche Volk damit nicht identifiziert und somit einen Schritt zur Verständigung herbeiführt?

(Beifall bei der SPD.)

Ritter von Lex, Staatssekretär im Bundesministerium des Innern: Ich glaube, wir sind uns alle darin einig, daß wir uns von dem, was geschehen ist, abzusetzen haben.

(Abg. Dr. Andt: Dann tun Sie es doch! Verschweigen Sie es doch nicht!)

Aber ich darf wiederholen: die Bundesregierung ist der Meinung, daß die internationalen Filmfestspiele nicht der Ort sind, um diese Auseinandersetzung durchzuführen.

(Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Arndt: Eine schlechte Meinung! — Abg. Dr. Schmid [Frankfurt]: Das wundert mich! — Weitere Zurufe von der SPD.)

Quelle: Plenarprotokoll Nr.: 02/140, 2. Deutscher Bundestag — 140. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 18. April 1956, S. 7205-06. Online verfügbar unter: https://dserver.bundestag.de/btp/02/02140.pdf