Kurzbeschreibung

Der Antrag von Diplomaten der westdeutschen Botschaft in Frankreich, den Dokumentarfilm Nacht und Nebel von den Filmfestspielen in Cannes zurückzuziehen, löste einen großen Skandal aus. Die westdeutschen Vertreter argumentierten, dass der Film den internationalen Beziehungen Deutschlands schaden und den Hass gegen die Deutschen schüren könnte. In diesem Artikel der westdeutschen Frankfurter Allgemeinen Zeitung wird jedoch argumentiert, dass der Film es ausdrücklich vermeide, alle Deutschen für die Schrecken des Holocaust verantwortlich zu machen, und stattdessen versuche, darauf hinzuweisen, dass die Menschheit im Allgemeinen eine schockierende Fähigkeit zum Bösen hat und dass sich deshalb ein Ereignis wie der Holocaust wiederholen könnte. Die Bundesrepublik lenkte schließlich ein, doch der Film wurde lediglich außer Konkurrenz in kleinen Kinos gezeigt. Dies untergrub die Absicht des Films: Die Filmemacher waren der Meinung, dass ein Ereignis wie der Holocaust durch visuelle und textliche Zeugnisse in Erinnerung gerufen und weithin dokumentiert werden müsse, um zu verhindern, dass es sich wiederholt. Der Film wird in Frankreich seit 1991 als Lehrmittel eingesetzt, nachdem ein jüdischer Friedhof in Frankreich geschändet worden war; außerdem wurde er kurz nach der Schändung auf allen drei französischen Fernsehkanälen gleichzeitig gezeigt. Die Verwendung des Films als Lehrmittel sowie sein dauerhafter kultureller Stellenwert (er wurde 2014 in einer Umfrage des British Film Institute zum viertbesten Dokumentarfilm aller Zeiten gewählt) haben dafür gesorgt, dass der Film trotz des Skandals von Cannes seinen ursprünglichen Zweck erfüllt hat (und weiterhin erfüllt).

„Filmdiplomatie“: Die Kontroverse um Nacht und Nebel (1956)

Quelle

Nacht und Nebel. Etwas über Filmdiplomatie

In drei aufeinanderfolgenden Veröffentlichungen befaßt sich die Pariser Zeitung „Le Monde“ mit einem für uns recht peinlichen Vorgang. Unter den Kurzfilmen, die ein französisches Auswahlkomitee aus der nationalen Produktion für das bevorstehende Film-Festival von Cannes benannt hatte, befand sich ein Dokumentarfilm, betitelt „Nacht und Nebel“. Der Film behandelt nach den Ausführungen des angesehenen Schriftstellers Jean Cayrol die Entwicklung und den Zusammenbruch der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Gegen die Vorführung dieses Films von Alain Resnais hat nach Pariser Pressemeldungen die bundesdeutsche Botschaft in Paris bei dem Organisationskomitee der Canner Filmfestspiele einen Schritt unternommen und die Absetzung des Films von der Liste erreicht. Die Motive, die unsere Auswärtigen Dienste zu diesem Schritt veranlaßt haben mögen, sind nicht schwer zu erraten. Man hat sich vermutlich gesagt, daß es einen Mißklang mit psychologisch unliebsamen Folgen für die Deutschen geben werde, wenn man inmitten der aufgedonnerten Euphorie, der Filmfestlichkeit plötzlich einen Dokumentarfilm über die Konzentrationslager zu sehen bekäme. Ob man aber die Folgen einer französischen Zurückziehung des Streifens genügend bedacht hat, ist uns zweifelhaft. Kaum ein paar Tage nach der, wie die Franzosen ihrem eigenen Staatssekretär im Handels- und Industrieministerium vorwerfen, „Desavouierung“ des Films beginnt in intellektuellen Kreisen eine Welle der Empörung anzusteigen. Drei angesehene französische Schriftsteller erklären, daß der Film vollkommen sauber, ohne politische Grenzüberschreitungen gemacht sei. Jean Cayrol, der in Mauthausen gesessen hat, nennt den Film eine Art „Acta sanctorum“ und fragt namentlich den deutschen, ihm offenbar befreundeten Schriftsteller Heinrich Böll, was er von dieser Maßnahme halte, die „uns unsern gemeinsamen Protest gegen die Vernichtung der Menschen nimmt“. Der Senator Michelet hat eine Anfrage an den Staatssekretär gerichtet und ungefähr das gleiche Argument vorgebracht wie Cayrol und wie auch der Kritiker Henry Magnan erklärt, daß sie sich den deutschen Protest nicht mit den kategorischen Erklärungen, das offizielle West-Deutschland wolle nichts mit den nationalsozialistischen Verbrechen zu tun haben, zusammenreimen können.

Selbst wenn wir annehmen, daß die französische Oeffentlichkeit, die den diplomatischen Gepflogenheiten und Tabus sehr viel Rechnung trägt, weiterhin ihre Vorwürfe ausschließlich an die Adresse der französischen Amtsstellen richtet, sogar wenn die Sache künftig mit Schweigen übergangen würde, wir würden uns sehr irren, wollten wir die psychologische Rückwirkung der Affäre gering veranschlagen. Die Franzosen argumentieren ganz einfach. Sie sagen: Die meisten Opfer der Konzentrationslager waren doch Deutsche. Wie sollen wir es verstehen, daß man offiziellerseits keinen Kz.-Film ertragen zu können zugibt. Solch ein Film, sagen die Franzosen, hat heute sogar ganz bestimmte Wirkungen über die zeitlichen und örtlichen Begrenzungen von damals hinaus. Hier wird ein Weltübel (Le monde concentrationnaire) ohne Demagogie angegangen, sachlich und erschütternd wahrhaftig.

Offiziell haben die Franzosen nachgegeben. Gleichzeitig haben sie alle moralischen Argumente auf ihrer Seite. Das ist die taktische Seite der Sache, die übrigens noch dadurch einen pikanten Beigeschmack bekommt, daß unser eigner für Cannes benannter Spielfilm „Himmel ohne Sterne“ gewisse russische Empfindlichkeiten gereizt hat und als Ganzes an die Einfühlungsfähigkeit eines internationalen Publikums immerhin einige Anforderungen stellt.

Aber die diplomatische Taktik ist für uns nicht das Wesentliche. Wann endlich werden wir begreifen, daß es keine geistig moralische Solidarität der Welt mit uns geben wird, es sei denn, wir solidarisieren uns mit dem berechtigten moralischen Pathos dieser Welt, die eines nicht verzeiht, Opportunismus in den Kardinalfragen der Menschlichkeit. In einem der Kommentare zu „Nacht und Nebel“ heißt es, man denke nicht daran, ein ganzes Volk mit den KZ-Verbrechern zu identifizieren. In diesem Satz liegt ein unausgesprochener Appell an uns. Wir sollten endlich ganz entschieden und klar sein!

Quelle: Karl Korn, „Nacht und Nebel. Etwas über Filmdiplomatie“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, April 1956, S. 8.