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„People’s Car“ auf neuen Wegen
Jubiläumsbesuch? Freilich, der zwanzigtausendste Volkswagen seit Kriegsende war fällig. Grund genug, dem Ereignis ein Ansehen zu geben! Der Zwanzigtausendste war demzufolge kohlrabenschwarz auf Hochglanz poliert. Dies ließ den kleinen Wagen viel stattlicher erscheinen als seine Artgenossen, die graugrünlich uniformt vor ihm und hinter ihm auf dem „laufenden Bande” am Ende der riesigen Montagehalle standen. Es ist also gebührlich, seine Entstehung kurz zu schildern.
Das „Fließband” tut seine Schuldigkeit: es fließt. Dort, wo es an der Rückwand der Halle beginnt, legt man den Stahlrahmen auf das Band: der schwimmt nun im Schneckentempo davon. „Kam ein Bach geschwommen, hat mich mitgenommen”, könnte der Rahmen sagen.
Doch es wäre leere Wortspielerei, dieses Bild aus dem Märchentext etwa auszuspinnen und sich womöglich dazu hinreißen zu lassen, die Männer, die rechts und links stehen, mit Anglern am Ufer zu vergleichen. Es sind die Werkleute, gebückte, gehetzte, hungrige Arbeiter. Sie haben Schraubenschlüssel und Hämmer in den Händen und geben dem Stahlrahmen Räder. Und das Fließband fließt.
Jetzt wird der Motor montiert. (Die Motoren – aufgehängt wie Schinken zu Friedenszeiten in der Metzgerei – kommen in Manneshöhe angeschwankt, gefesselt an ein fließendes Rinnsal, das in den Fließ Bach mündet.) Bald hat sich auch der Moment genähert, die Karosserie – die glänzend polierte – überzustülpen. Bündelweise werden Leitungen gezogen. Und das Fließband fließt. Selbst für Laienaugen wäre das Jubiläumskind jetzt schon als Auto erkenntlich. Sein Motor im Innern schnauft kurz und beginnt sich im Leerlauf zu drehen.
Und hört nur: jetzt kann’s polierte Kindl auch schon hupen – der erste Schrei! Aber die riesige Halle ist keine stimmungsvolle Wochenstube. Es sind alles Zangen-, Hammer- und Schrauben-Geburten. Und es herrscht so viel Lärm, daß man kaum die Stimme des Mannes versteht, der am Ende des “Laufenden Bandes”, just in dem Moment, da der Schwarzlackierte seine ersten Schritte tun soll, eine Jubiläumsrede hält. Übrigens ist dort, wo das Fließband mündet, auch eine Ehrenpforte angebracht mit der Inschrift, daß dies der Zwanzigtausendste sei. Heil ihm!
Nun ja, was soll der Mann zu Füßen der Pforte – was soll er schon reden? Das Übliche, natürlich, das Übliche. Aber wie er an die Stelle kommt, wo er allen dankt, die “dieses große Werk ermöglicht haben” (so ungefähr drückte er sich aus), da sieht man, wie die Werkleute einander zublinzeln und mit den Ellenbogen anstoßen. Das kommt, weil es gar nicht einfach ist, im Volkswagenwerk bei Fallersleben, wo einst ungezählte hohle Phrasen erklangen, eine Rede zu halten! Wer dieses Werk ermöglicht hat? Da denkt man unwillkürlich, daß dies derselbe ist, der die Trümmer in allen Städten ermöglichte. (Auch das Volkswagenwerk, so vortrefflich erhalten seine kilometerlange Fassade längs des Mittellandkanals aussieht, ist im Innern etwa zur Hälfte zerstört.) Oder war mit dem Ausdruck „Werk” bloß dieses schwarzlackierte Auto und seine grün-grauen Vorgänger gemeint? Diese hätte dann die Besatzungsbehörde ermöglicht, die schließlich auch diese ganze Produktion bis auf wenige Ausnahmen für sich vereinnahmt hat. Aber Dank?
Ach, viel Jubiläumsstimmung war es nicht, die man hier spüren konnte. Einige Arbeiter – obwohl darauf aufmerksam gemacht, daß sich gleich etwas ereignen würde – machten keinen Schritt auf die Ehrenpforte zu. Sie sagten: „Keinen Schritt! Da ist kein Blumentopf zu gewinnen, und nach Festtagsbraten riecht’s auch nicht gerade!” Sie benutzten die kurze, festlich gemeinte Arbeitspause dazu, die Arme ein wenig zu verschränken. Und da sie nicht lauschten, hörten sie auch nicht, wie der Festredner sagte: Bisher seien die Arbeitskollegen im Volkswagenwerk ruhig gewesen und hätten ihre Pflicht getan, aber bei dieser Ernährungslage stünde es nicht dafür, daß sie noch lange ruhig blieben und still weiterarbeiteten wie zuvor ... Dann rollte der Jubiläumswagen mit der Zahl „20 000” auf dem Nummernschild vom Fließband. Der Menschenknäuel an der Ehrenpforte löste sich auf. Die Maschinen kreischten, hämmerten, fauchten – wild entschlossen, die nächsten 20 000 Volkswagen in Angriff zu nehmen. Keine Trompete hatte geschmettert, kein Tusch war ertönt.
„Besser so”, sagten die Arbeiter, „so ohne Sang und Klang.” Es waren noch einige vorhanden, die die große Feier im Mai 1938 mitgemacht hatten, als der Grundstein zu dieser größten Autofabrik Europas gelegt wurde. Sie erinnern sich, wie damals härter geschmettert, getönt, kommandiert, gepriesen und gelogen wurde. Denn er, der „Führer” war persönlich gekommen, der jedem Arbeiter ein eigenes Auto versprach. Die Arbeiter waren eine „geschlossene marschierende Gemeinschaft”, und richtig: als die Zeit gekommen, daß dem „Führer” beliebte, Polen zu überfallen, durften sie geschlossen in den Krieg marschieren. Und als für das Volksauto die Zeit gekommen, fuhr es hinterdrein. Wißt ihr noch, Kameraden der Faust und der Flinte? Und viele Arbeiter hatten tausend Mark bezahlt. 280 000 Sparer, die in „Schnell-” und „Langsam-Sparer” unterschieden wurden, hatten 280 000 000 Mark auf dem Konto der “Bank der Deutschen Arbeit” zusammengetragen – eine Summe, die heute zwar noch vorhanden, aber beschlagnahmt ist, wie das Gesetz 52 es befahlt „Das Geld?” sagten die Arbeiter. „Perdü! Entwertet! Und wetten! Die Reste werden bei der Währungsreform am Boden zerstört. Meinen Sie etwa nicht?” – „Der Volkswagen?”, sagen die Arbeiter. „Der Wagen fährt, und das Volk guckt zu ...”
„Aber der Wagen ist doch gut oder ...?”
„Der Wagen ist ausgezeichnet! Stark, obwohl nur 25 PS! Bequem, obwohl so klein! Sparsam bei acht Liter Brennstoff auf hundert Kilometer und komfortabel und sogar mit Warmluftheizung, obwohl so schnell und billig!” – Doch ich muß mich korrigieren: er sagte nicht „komfortabel”, er sagte „bonfortionös”. Denn sogar dort, wo der Arbeiter lobt, klingt’s ironisch, und jener Mann, der noch von der Grundsteinlegung anno 1938 zu erzählen wußte, hielt sich mit Fleiß bei einer witzig-spöttischen Episode auf, da er erzählte, wie die 28 Bauern, die samt ihren Höfen, samt Pferden, Ochsen, Kühen dem Volkswagenwerk wütend und traurig weichen mußten, als Ehrengäste erschienen waren und helle Begeisterung mimten ... Fürwahr, auf diesem Gelände ist immer laut befohlen und schweigend gehorcht, viel gelogen und wenig geglaubt worden. Kurzum, das Volkswagenwerk ist, was die Gefühle betrifft, schwer belastet.
Aber da ist ein neuer Generaldirektor gekommen. Ein phrasenloser, ehrlicher, sachlicher Mann, sagt er, daß die Fabrik immer noch hochmodern sei und daß sich große Leistungen vollbringen ließen, hielte die in Deutschland wütende Bürokratie nicht auch dieses Werk im Würgegriff. 8000 Arbeiter und Angestellte – das sei eher zu viel als zu wenig; immerhin, Mangel an Arbeitskräften gebe es nicht, und auch Maschinen seien genug vorhanden. Tausend Wagen produziere das Werk monatlich. Aber die Fabrik könnte fast die doppelte Anzahl Autos liefern, gäbe es statt des undurchdringlichen Dickichts von papiernen Bestimmungen, in denen die anonyme Bürokratie triumphiert, mehr Möglichkeiten, eine eigene Initiative zu entfalten.
Weniger Vorschriften und bessere Materiallieferungen – dies wäre nach der Ansicht des Generaldirektors die Lösung aller Schwierigkeiten. Es ist ein ziemlich junger Generaldirektor – das ist wahr. Aber daß die alten Arbeiter ihm in seiner Ansicht Recht geben, will die Richtigkeit seiner These bestätigen. In dieser Hinsicht wollen sie alle dasselbe: Mehr Initiative, weniger Vorschriften, mehr Material!
Das Werk hat auch einen englischen Controller, wie dies ja heute mancherorts üblich ist. Und aus seinen Worten konnte man schließen, daß der „People’s Car” – wie der Volkswagen auf Englisch heißt – auf neuen Wegen ist. Denn nicht länger wollen, wie bisher, die Besatzungsbehörden Hand auf die gesamte Produktion legen. Es sollen nun endlich auch für die Deutschen Autos zur Verfügung stehen und zuvörderst für den Export. Dies alles beispielsweise so: In diesem Monat werden 1100 People’s Car geboren werden. 400 davon gehen an die englischen Behörden. 300 werden exportiert (und es sieht so aus, als dränge man sich im Ausland, zumal in Holland, danach, einen Kleinwagen, der nur acht bis neun Liter Brennstoff auf hundert Kilometer verbraucht, zu fahren). 300 Wagen werden den deutschen Stellen zugeteilt; wohlverstanden: den „Stellen”. Fragt man aber: „Und wann kommt der einzelne kraftfahrberechtigte Zivilist an die Reihe?”, dann geht ein Lächeln durch die ganze Fabrik, ein fassungsloses Lächeln auf eine so naive Frage. „Kaufen Sie schwarz!”
„Wie? Schwarz kaufen? Aus der Fabrik?”
„Ausgeschlossen! Wir haben immer an englische Stellen geliefert. Ganz korrekt! Bei uns sind höchstens Ersatzteile, doch niemals ganze Autos abhandengekommen.”
„Und wo soll ich schwarz den Volkswagen kaufen?”
„Keinen Volkswagen, aber einen People’s Car oder auch Beetle (Käfer) genannt! Wir wissen zuverlässig, daß man sie in Hamburg dann und wann bekommt. 30 000 bis 40 000 Mark pro Stück ...
Den Gast, der soeben noch „bonfortionös” im funkelnagelneuen, wenn auch grünlich-grauen Beetle über das kilometerweit sich dehnende Fabrikgelände gefahren ist, packt das Mißvergnügen, da er nach all den Auskünften schließen muß, daß Autos – sogar die billigsten – nicht nur zum Fahren, sondern auch zum Repräsentieren dienen. Und da er eher der Ansicht ist, daß der verlogene Name „Volkswagen” verschwinden soll, weiß er nicht, welchen neuen Titel er vorschlagen soll, falls dies erlaubt ist –„Office Car” oder „Behörden-Wagen”. Nun, die Zukunft wird auch dieses lehren! Und was das Umtaufen betrifft – die „Stadt des Volkswagens”, dieser undeutsche, ... robothafte Name, ist bereits verschwunden. „Wolfsburg” heißt jetzt die Siedlung am andern Ufer des Kanals, die, wie man einst trompetete, die „schönste, modernste Stadt der Welt” werden sollte. Fehlgeblasen! Potemkin könnte hier Schutzpatron sein, hätte nicht der Regen den billigen, eiligen Glanz längst abgewaschen.
Auch hat die neue Durcheinander-Ordnung der Verhältnisse es mit sich gebracht, daß die Stadt des Volkswagens zur Fabrik des Volkswagens in keiner unmittelbaren Beziehung mehr steht. Das heißt: wenn die Fabrik, zu deren Vorteil einst die Siedlung errichtet wurde, heute jemandem, der für das Werk wichtig ist, dort Wohnung besorgen möchte, so ist es nicht gewiß, daß dem so sein wird. Es ist übrigens eine Stadt, darinnen keiner ein Haus besitzt. Eine Mieterstadt. Und sollte es wahr sein, daß der Hausbesitz die Menschen verdirbt, dann ist es auch wahr, daß Besitzlosigkeit die Häuser verdirbt. Nur eins sieht hoffnungsvoll aus: daß einige Volkswagen durch die Straßen fahren, wenn auch mit dem Schild „Probefahrt”. Und welchem hoffnungsvollen Unternehmen, das in Deutschland heute beginnt, könnte man dieses Schild nicht umhängen?
Quelle: Jan Molitor [Josef Müller-Marein], „‚People’s Car‘ auf neuen Wegen“, Die Zeit, 29. Januar 1948.