Quelle
Es ist alles verändert, hier wie drüben. Das liegt zu einem großen Teil daran, daß – hier wie drüben – die Flüchtlinge ins Land gekommen sind. Nun haben sie in der Westzone die Aufnahme der Vertriebenen gestoppt; in der Ostzone aber laufen noch Tag für Tag neue Transporte ein, die alle in sogenannten Quarantänelagern münden. Entlausung, Registrierung, ärztliche Untersuchung – das beansprucht vierzehn Tage. Aber die Lager, die einem Zentralverwaltungsamt für Umsiedlung oder der sowjetischen Besatzungsmacht direkt unterstehen, sind nicht schlecht intakt. Es sind sanitäre Einrichtungen vorhanden, die es bisher verhindert haben, daß auch nur eine einzige Seuche um sich griff. Die Insassen der Quarantänelager werden relativ gut verpflegt, so gut jedenfalls, daß nicht in allen Haushaltungen der Ostzone ein so nahrhaftes Essen auf dem Mittagstisch steht. Daß dennoch viele Menschen das Lager anstatt zu Fuß in Särgen – oder dem Ersatz davon – verließen, daran trug allein der erbarmungswürdige Zustand die Schuld, in dem sich die Vertriebenen befanden, als sie hier ankamen. Es gibt auch Dauerlager der Flüchtlinge. Aber ihre Zahl – und dies vor allem klingt unbedingt positiv gegenüber den Verhältnissen im Westen – ist gering, wobei die Umsiedler es ohne Zweifel der großen Energie der Landesregierungen verdanken, daß sie in Wohnungen untergebracht wurden. Woher die Umsiedler stammen? Aus Westpreußen, Pommern, Schlesien, aus dem Wartheland, neuerdings auch aus dem russischbesetzten Teil Ostpreußens. Eines ist hüben wie drüben das gleiche Elend: Die Einheimischen sehen die Vertriebenen als Eindringlinge an, und die Umsiedler sind deshalb verbittert. Dort aber, wo Stadt, Gemeinde oder Kirche sich mit Energie einsetzen, ist auch sogleich ein Gewinn zu spüren, und die Zustände werden erträglich. Andererseits: Dort, wo noch ein Dauerlager existiert, kann man in der Ostzone schließen, daß etwas faul bei Behörde oder Gemeinde sei. Wohlverstanden: in der Ostzone. Von der Westzone ist in diesen Notizen überhaupt keine Rede. […]
Da ist das Land Mecklenburg. Vergeßt, ihr Deutschlandreisenden aus früheren Tagen, was über Mecklenburg im Baedeker stand! Das Land hat die doppelte Bevölkerung, während die anderen Ostzonenländer durch die Umsiedler nur um ein Viertel volkreicher geworden sind. In Mecklenburg also, früher einem fetten stillen Bauernland, drängen sich die Menschen. Beispielsweise im Schloß Basthorst bei Crivitz: da wohnen 32 Familien, insgesamt rund 150 Menschen, in 32 Zimmern des Gebäudes. Aber jedes Zimmer hat einen Ofen, der den Familien selbst zu eigen gehört. Und die Siedler sagen, daß dies immerhin etwas sei. Im ganzen Kreise Parchim sind die Gutshäuser dicht belegt. Ländliches Wohnen, doch wenig Gelegenheit, Zusätzliches zu erhalten, weil das „Ablieferungssoll“ der Bauern dort drüben scharf kontrolliert wird; offenbar schärfer, als dies in den Westzonen der Fall ist. Die Lebensmittel wandern in die Städte, so daß es beispielsweise in dem Dorf Dobbertin – es gehört zu den Dörfern, die seinerzeit besonders stark ausgeplündert wurden – keine Kartoffeln gab. Leider können aber die Städte, obwohl sie das „Ablieferungssoll“ erfüllt sehen, sich gegenüber Mecklenburgs Landbevölkerung nicht entsprechend revanchieren. Keine Textilien, Neusiedler in Lumpen. Und der Pfarrer von Dobbertin läuft immer noch in seinen Kriegsgefangenenkleidern herum. Keine Schuhe: das ist besonders von Güstrow notiert, wo außerdem die Verkehrsmittel fehlen, die Schaffenden an die Arbeit zu bringen. Kirchgänger in Lumpen: so heißt es von Wismar, vom stark zerstörten Rostock heißt es, daß die Wohnverhältnisse schwierig sind; dennoch sind die Flüchtlingsdauerlager aufgelöst. Dies hat man immerhin geschafft in der stark zerstörten Stadt.
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Auch in Sachsen, immer schon eines der dichtest bevölkerten Gebiete Europas, ist der Hunger Herr im Land. Früher, in den Baedeker-Zeiten, konnte die Industrie vergelten, was aus den landwirtschaftlichen Gebieten des Ostens zugeschossen werden mußte. […] Heute hat die Demontage wichtige Teile der Fabriken weggefressen, und die Ostgebiete liefern ohnehin nicht mehr. Die Trostlosigkeit dieser Lage macht es geradezu auf natürliche Weise klar, daß die Notizen über Sachsen hier und dort guten Willen, aber wenig Gelingen verzeichnen.
Und da ist die Mark Brandenburg. Und da ist Forst, einst berühmte „Stadt der Hüte“, heute trotz aller Trümmer übervölkert, und mitten darin ein Durchgangslager nur für „Schwarzgrenzgänger“. In Guben ein Schild am Bahnhof: „Mission im Dienst der märkischen Volkssolidarität“. In Kottbus sagten Leute, daß sie, ehe die neue Ernte kam, seit Weihnachten kein Stück Kartoffel gesehen hätten und daß es auf Fleischmarken häufig kein Fleisch, sondern Quark gäbe. Und schließlich Frankfurt an der Oder, die große Station der Transporte aus Rußland, wo durch eine „Päckchen-Aktion des Westens“ überhaupt erst die Möglichkeit gegeben ist, den Heimkehrern zu helfen. Pakete müssen sein! Denn was nützen dem Heimkehrer die 50 Mark, die ihm im Durchgangslager Cronenfelde ausgezahlt werden? Alle Länder der Ostzone haben in Frankfurt ihre Beratungsstellen. Aber Beratungsstellen für Heimkehrer der Westzonen fehlen. Notiz: „Die heimkehrenden Kriegsgefangenen befinden sich jetzt in besserem Gesundheitszustand als früher. Erschütternd jedoch ist nach wie vor der Anblick der halbverhungerten Frauen, die aus russischen Zwangsarbeitslagern zurückkehren.“ […]
Am schlimmsten aber sieht es, den Notizen zufolge, im Oderbruch aus. Im letzten Kriegsjahr schwer betroffen, erhielt dies Gebiet durch die Dammbruchkatastrophe im vergangenen Jahr den Todesstoß. Die meisten Ortschaften um Seelow etwa sind zu 80 v. H. zerstört. Unbestellte Felder, soweit man blickt; Franzosenkraut, Disteln, Schilf. Bauernhöfe, die 200 oder 300 Morgen messen und doch nicht ein Pferd besitzen. Und viele Bauern haben nicht eine Kuh. Und dennoch lastet – entgegen ursprünglichen Ankündigungen – noch ein „Ablieferungssoll“ auf den Bauern, die, wenn sie pflügen, oft genug sich selbst vor den Pflug spannen müssen. Eine furchtbare Hungerkatastrophe vor Augen, stöhnen die Bauern über das „Soll“, dieses „Meisterstück der Bürokratie“. Das alte Schwedt, die märkische Tabakstadt, ist so getroffen, daß die Bewohner nur noch in Kellern hausen: von 20 000 Bürgern der Stadt waren nur 6500 noch geblieben. Tuberkulose und ein – „Tabak-Soll“, so daß es ihnen unmöglich schien, genug Kartoffeln anzubauen. Alles war anders geworden seit den Baedeker-Tagen. Nur die Oder war noch da. Man konnte hinübersehen zur anderen Seite: kein Acker mehr, kein Feld; nur Unkraut, Gestrüpp. […]
Quelle: Jan Molitor, „Was nicht im Baedeker steht. Kleiner Reiseführer durch die Ostzone“, Die Zeit, 20. November 1947; abgedruckt in Christoph Kleßmann, Georg Wagner, Das gespaltene Land. Leben in Deutschland 1945-1990. Texte und Dokumente zur Sozialgeschichte. München: C.H. Beck, 1993, S. 62-64.