Kurzbeschreibung

Mittels einer groß angelegten Meinungsumfrage versucht Der Spiegel zu sondieren, welche Einstellungen die Ost- und Westdeutschen teilen und in welchen Fragen die divergierenden Meinungen miteinander versöhnt werden müssten, wenn die Vereinigung erfolgreich sein soll.

Unterschiede zwischen Ost und West (12. November 1990)

Quelle

Den Neuen fehlt Selbstvertrauen

SPIEGEL-Umfrage in der gesamtdeutschen Bundesrepublik: Was die Deutschen in Ost und West eint und trennt

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Der SPIEGEL hat durch drei Institute feststellen lassen, was die Deutschen der Alt-BRD und der Ex-DDR eint und was sie trennt, worin sie sich gleichen und worin sie sich unterscheiden.

Das Bielefelder Emnid-Institut befragte je 2000 erwachsene Männer und Frauen in West und Ost (dazu noch je 100 Jugendliche von 15 bis 17 Jahren). Hüben arbeitete Emnid mit eigenen Interviewern, drüben bedienten sich die Westfalen des Netzes von Mitarbeitern, das die Ost-Berliner Usuma sich geschaffen hat, ein erst in diesem Jahr gegründetes Institut.

Das Leipziger Zentralinstitut für Jungendforschung, das zur Honecker-Zeit Umfragen nur als „Vertrauliche Verschlußsache“ oder sogar als „Geheime Verschlußsache“ für die Partei und Staatsspitze produzieren durfte, befragte weitere 1200 Ost-Deutsche.

Einige Fragen der Sachsen stammten aus der Zeit vor der Wende, andere aus den sieben Umfragen, die das Institut danach in der DDR durchgeführt hat, etliche neue Fragen kamen dazu.

Die Interviewer der drei Institute waren unterwegs, als Deutschland noch dem Buchstaben nach geteilt war (von Mitte September bis Anfang Oktober). Die Antworten wurden in den Bielefelder und Leipziger Computern ausgezählt und von den Fachleuten der Institute ausgewertet, als es die DDR nicht mehr gab.

So wurde diese Untersuchung gleichsam zur Eröffnungsbilanz der gesamtdeutschen Bundesrepublik, die seit dem 3. Oktober neben ihren alten 63 Millionen Bürgern weitere 16 Millionen neue hat.

Anhand dieser Umfragezahlen können, wenn sie fortgeschrieben werden, Politiker und Zeithistoriker künftig feststellen, ob, wie und wann zusammenwächst, was zusammengehört.

Rund hundert Themen wurden abgehandelt, etwa eine Stunde saßen die Interviewer in den Wohnzimmern und Küchen der Befragten zwischen Aachen und Görlitz, Rostock und Passau.

Die meisten Fragen wurden wortgleich oder analog in Ost und West gestellt, ein Dutzend direkte Vergleiche wurden erbeten.

Andere Vergleich ließen sich später in den Instituten ziehen. So wurde zum Beispiel festgestellt, daß die Zuneigung der vereinten Deutschen zueinander nicht so groß ist, wie die schwarzrotgold Begeisterung auf Bild-Titelseiten und zuweilen auf den Bildschirmen vermuten lassen könnte: Den West-Deutschen sind die Franzosen, den Ost-Deutschen die Österreicher, genauso sympathisch wie die Landsleute, von denen sie so lange getrennt waren.

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Politische Fragen überwogen, sie erstreckten sich von Hitler („Ohne Krieg ein großer Staatsmann?“) über die sogenannten Errungenschaften der DDR bis zu aktuellen Fragen, wie viele ehedem „volkseigene“ Betriebe wohl todgeweiht sind und wie mit der Stasi-Altlast verfahren werden soll.

Es ging auch um Sprachkenntnisse und Urlaubsziele, um Gott und die Weltmeinung über das womöglich nun allzu große und allzu mächtige Deutschland. Gefragt wurde, ob die Berufstätigen mit ihrer Arbeit zufrieden sind, wie die Familien ihre Freizeit verbringen und nach welchen Maximen sie leben.

Um ein Bild vom Alltagsleben zu gewinnen, kamen auch der Tagesablauf, Trinkgewohnheiten und Tabakkonsum zur Sprache.

Geraucht wird etwa gleich viel. In den DDR-Jahrzehnten hat die mindere Qualität des Tabaks die Zahl der östlichen Raucher nicht geringer werden lassen. Dem Alkohol sprechen West-Deutsche etwas häufiger zu als Ost-Deutsche.

Im Osten steht man früher auf und geht eher schlafen. Um 22.30 Uhr liegen an Werktagen drüben die meisten schon flach, während hüben eine knappe Mehrheit noch fernsieht, plaudert, liest oder döst. Der TV-Konsum ist nur ein wenig zeitversetzt, die Zahl der Fernsehstunden etwa gleich: Knapp drei Stunden sind es pro Werktag und Mann oder Frau.

Zu den Zielen der bis zum Beginn der Perestroika moskauhörigen DDR-Führung gehörte es, in ihrem Lande Russisch anstelle von Englisch als wichtigste Fremdsprache durchzusetzen. Fünf Generationen von Schülern empfanden dies als lästigen Zwang, und nur wenige lernten auch nur eine russische Vokabel mehr, als ihnen notwendig schien, um nicht aufzufallen.

Die Bilanz des Versuchs, einer Bevölkerung eine Fremdsprache aufzuzwingen, die sie partout nicht lernen wollte: Die Russisch- und die Englisch-Kenntnisse der ostdeutschen Bundesbürger sind etwa gleich.

Bis weit in ihre Freizeit hinein unterscheidet sich das Leben der einen und der anderen Deutschen.

Der Zeitvertreib, der wenig oder nichts kostet, ist hier wie dort gleich beliebt: das Fernsehen sowieso, auch die Lektüre von Zeitungen und Büchern, Besuche bei Freunden, die Arbeit im Garten.

Kinos und Discos sind im Osten etwa so stark besucht wie im Westen, obwohl sie nach der Währungsunion teurer geworden sind. Aber da scheint den Jüngeren das Vergnügen immer noch im rechten Verhältnis zum Preis zu stehen.

Deutlich höher ist der Anteil der West-Deutschen, die selbst Sport treiben, Theater oder Konzertsäle besuchen oder in Restaurants essen gehen. Der Staat drüben hat es einst versäumt, seinen Bürgern solche Möglichkeiten hinreichend zu eröffnen (im Sport kam es den SED-Greisen auf die Spitze, nicht auf die Masse an), und den meisten Ost-Deutschen ist all dies derzeit zu teuer. Wahrscheinlich kommt fast überall das eine zum anderen, mit der Folge, daß der Durchschnitts-Deutsche im Osten abends öfter zu Hause bleibt als der im Westen.

An Wochenenden und im Urlaub ist es anders. Die relativ wenigen Autos in der Ex-DDR sind noch mehr unterwegs als die vielen in der Alt-BRD.

Die Sucht der so lange zu Trabis verdammten Autofans nach schnelleren und komfortableren West-Wagen ist einer der stärksten gesamtdeutschen Eindrücke dieses Jahres. Aber noch auf weite Sicht werden die Unterschiede in der Motorisierung groß bleiben. Im Westen haben drei von vier Haushalten ein Auto auf der Straße oder in der Garage stehen (genauer gesagt: mindestens ein Auto, denn zu jedem fünften Haushalt gehört ein Zweitwagen). Im Osten verfügt noch immer kaum mehr als jeder zweite Haushalt über einen Pkw.

Die Automobile sind überdies wesentlich älter und schwächer. Die Hälfte aller Wagen ist mindestens acht Jahre alt (im Westen ein Viertel). Im Westen haben nur 4 Prozent der privaten Pkw, im Osten 43 Prozent weniger als 45 Pferdestärken.

In ihrer Ausstattung sind die östlichen Haushalte gegenüber den westlichen noch weit zurück. Von den 16 Konsumgütern, die auf einer Emnid-Liste standen, gibt es nur wenige in etwa gleicher Zahl wie in westlichen Wohnungen: Fahrräder, Bohrmaschinen, Klaviere und Zweitfernseher. Aber die weite Verbreitung solcher TV-Geräte ist noch eine Folge der Planwirtschaft: Der staatliche Handel nahm keine Altgeräte in Zahlung, und so wanderten sie in Kinder- und Schlafzimmer.

Noch einige Zeit wird verstreichen, bis es den ehemaligen DDR-Bürgern so gut geht wie den anderen Deutschen in der alten BRD. Als die Befragten um eine Prognose gebeten wurden, wann dieses Ziel wohl erreicht werde, streuten die Antworten breit. Durchschnittszahl der im Westen Befragten: 9,4 Jahre, der im Osten Befragten: 7,3 Jahre.

Schwer wiegt, daß es in der Ex-DDR trotz Währungsunion und politischer Einheit bislang kaum wirtschaftliche Fortschritte, sondern fast nur Stillstand und Rückgang gab. Würden die West-Deutschen vom Berg ihres Wohlstandes hinabgeraten in ein dem heutigen Ostdeutschland ähnliches Tal der Schwierigkeiten, so wäre des Klagens und Maulens kein Ende. Wie Tag und Nacht unterscheidet sich die Situation in der Alt-BRD und in der Ex-DDR.

Die allgemeine wirtschaftliche Lage in ihrem Teil Deutschlands nennen 77 Prozent der West-Deutschen „sehr gut“ oder „gut“, hingegen 78 Prozent der Ost-Deutschen „schlecht“ oder „sehr schlecht“.

Ihren Arbeitsplatz halten im Westen 91 Prozent der Berufstätigen für sicher, im Osten 52 Prozent für unsicher.

Bei etwa gleichen Preisen haben dort 46, hier 11 Prozent der Familien ein Nettoeinkommen von weniger als 1500 Mark. Spitzenbezüge von mehr als 4000 Mark im Monat haben dort 1, hier 30 Prozent.

Dieser Kontrast wird kaum dadurch abgeschwächt, daß die Mieten in der Ex-DDR extrem niedrig sind: 86 Prozent der Befragten zahlen weniger als 100 Mark im Monat.

Obwohl die einen im Licht, die anderen im Schatten leben, stimmen sie in vielen, sogar in den meisten Meinungen überein – ganz gleich, ob die Interviewer allgemeine Themen nannten oder aktuelle Fragen stellten. Da wirkt kaum nach, daß die Deutschen vier Jahrzehnte lang in verschiedenen Systemen lebten und daß sie sich noch vor gut einem Jahr kaum kannten und nur über Bildschirme und Briefe sowie bei seltenen Besuchen voneinander erfuhren.

Sogar die Einstellung der Deutschen in Ost und West zu den Parteien unterscheidet sich nur hinsichtlich der SPD und der PDS.

Drei der vier alten Bundestagsparteien haben hüben und drüben etwa gleich hohe Wähleranteile. In der Zeit der Untersuchung ermittelte Emnid für die Union je 43 Prozent, für die FDP hier 9 und dort 7 Prozent, für die Grünen hier 7, für die Liste „Grüne/Bündnis 90“ dort 12 Prozent.

Nur weil die SED-Nachfolgerin PDS es Ende September/Anfang Oktober in Ostdeutschland auf 10 Prozent brachte (im Westen lag sie bei knapp 1 Prozent), ergab sich überhaupt ein Unterschied. Weil der SPD diese linken Stimmen fehlten, mußte sie sich mit 24 Prozent begnügen; im Westen lag sie um diese Zeit bei 37 Prozent.

Wird nach dem „besten Kanzler“ gefragt, so werden in Ost und West Schmidt und Brandt häufiger genannt als Kohl. Bei den West-Deutschen steht Adenauer in noch höherem Ansehen als diese drei seiner fünf Nachfolger, bei den Ost-Deutschen nicht. Für sie ist der erste Kanzler eine so ferne Figur der BRD-Geschichte, daß er ihnen auch mit der Vereinigung nicht nähergerückt ist.

Die Zahl derjenigen, die Kohl für den Größten halten, ist im Osten doppelt so hoch wie im Westen: Dort sind es 20, hier 10 Prozent. Diese Minderheiten bestehen fast nur aus Unionsanhängern.

„Stolz darauf, ein Deutscher zu sein“, sind zwei Drittel der Bundesbürger diesseits wie jenseits der Elbe. Fremd ist solch Stolz im Westen nur jedem vierten, im Osten jedem fünften.

Seit langem erforschen die Demoskopen die Einstellung der Bundesbürger zu sogenannten Lebensfragen. Auch da erwiesen sich die Unterschiede zwischen den West- und den Ost-Deutschen als gering, allenfalls waren die Mehrheiten verschieden groß.

Den meisten ist ein höheres Einkommen wichtiger als mehr Freizeit (nur die Akademiker denken umgekehrt). Auf die Frage, ob sie „im Leben etwas leisten“ oder „sich nicht mehr als nötig abmühen“ wollen, fand die Leistungsvariante im Osten sogar noch mehr Zustimmung als im Westen (75 gegenüber 55 Prozent).

Trotz Tschernobyl hat es noch nach der Wende in der DDR eine Mehrheit für die Nutzung der Kernkraft gegeben, wie eine SPIEGEL-Umfrage im Dezember vorigen Jahres zeigte. Als Emnid die Frage nun wiederholte, war die Mehrheit anderer Meinung – der gleichen wie die Mehrheit im Westen:

Die meisten Befragten in West und Ost sprachen sich dafür aus, keine neuen Werke zu bauen und die bestehenden stillzulegen, entweder im Laufe der Zeit (so 49 und 46 Prozent) oder sogar sofort (so 16 und 12 Prozent).

Was das Abtreibungsrecht betrifft, so ist die (vorerst weiter geltende) DDR-Regelung, daß ein Schwangerschaftsabbruch in den ersten drei Monaten straffrei bleibt, nach der in ganz Deutschland vorherrschenden Volksmeinung besser als der entsprechende Paragraph 218 in der Bundesrepublik:

In Ost und West sprachen sich Mehrheiten der Männer und der Frauen, der Wähler aller Parteien für die Dreimonatsfrist oder sogar für völlige Straffreiheit aus. Nur unter den katholischen Kirchgängern findet sich eine Mehrheit für die heutige bundesdeutsche Regelung (Straffreiheit lediglich bei medizinischer oder sozialer Indikation) oder für ein noch strengeres Gesetz (Straffreiheit nur bei Gefahr für das Leben der Frau).

Bei aktuellen Themen gibt es eine gesamtdeutsche Übereinstimmung sogar dann, wenn östliche und westliche Interessen womöglich kollidieren.

Je zwei Drittel sprachen sich für eine Entschädigung der Eigentümer aus, die in der DDR enteignet worden sind.

Und davon, daß mehr als die Hälfte der früheren „volkseigenen“ Betriebe „nicht mehr konkurrenzfähig sind und wohl stillgelegt werden müssen“, sind weitaus die meisten überzeugt (West: 78 Prozent, Ost: 76 Prozent).

Die West- und die Ost-Deutschen haben ähnliche oder gleiche Grundeinstellungen, obwohl es einen gewichtigen weltanschaulichen Unterschied zwischen ihnen gibt: Im einig Vaterland kommen eine überwiegend christliche und eine überwiegend heidnische Bevölkerung zusammen.

Im Westen sind nur 7 Prozent der Erwachsenen, im Osten zehnmal so viele (66 Prozent) nicht getauft worden oder aus der Kirche ausgetreten.

Dem entsprechen die Antworten auf andere einschlägige Fragen. Daß es „Gott gibt“, glauben 61 von 100 West-Deutschen, aber nur 21 von 100 Ost-Deutschen. Jeder zweite im Westen, aber nur jeder siebte im Osten nimmt an, daß es ein Leben nach dem Tode gibt (51 gegenüber 14 Prozent).

Eine weitere Frage zeigt, daß östliche Heiden ihre Überzeugung ernster nehmen als westliche Christen. Die Frage, ob ihnen die Religion für ihr eigenes Leben etwas bedeute, verneinten 91 von 100 Konfessionslosen dort, aber auch 52 von 100 Protestanten und 40 von 100 Katholiken hier.

Wer in der DDR Protestant oder Katholik geblieben ist, hat vielfachem Druck des Staates und der Staatspartei widerstanden, ihn vom Glauben abzubringen. Aber nun haben es die Bischöfe – die evangelischen wie die katholischen – übernommen, die Zahl der Ost-Christen weiter zu vermindern.

Sie ließen sich im Einigungsvertrag die Einführung der Kirchensteuer garantieren und lösten damit eine Welle von Austritten aus. Viele, die jahrzehntelang freiwillig etliche DDR-Mark gezahlt haben, sind nicht bereit, sich nun zwangsweise mehr D-Mark vom Lohn oder Gehalt abziehen zu lassen.

Auch in anderer Hinsicht werden die ostdeutschen Bischöfe über kurz oder lang dem schlechten Beispiel ihrer westdeutschen Amtsbrüder folgen: Sie wollen durchsetzen, daß an den staatlichen Schulen der Religionsunterricht eingeführt wird. Diese Mission mit Staatshilfe und auf Staatskosten soll Kinder und Jugendliche für den Glauben erwärmen, der sie als Erwachsene vermutlich kaltlassen würde. Das Vorhaben wird nicht am Widerstand der Bevölkerung scheitern, wie die Emnid-Umfrage zeigt. Auf die Frage, was sie von der Einführung des Religionsunterrichts halten, war die häufigste Antwort: „Ist mir egal“ (42 Prozent; dafür: 29 Prozent; dagegen: 26 Prozent).

Nahezu jeder Vergleich mit ihren Landsleuten im Westen müßte eigentlich die ehemaligen DDR-Bürger mit Neid und Ungeduld erfüllen. Aber die SPIEGEL-Untersuchung liefert Belege nicht für, sondern gegen diese Vermutung. Ostdeutschland ist kein Tal des Jammerns.

Am deutlichsten machte dies das Leipziger Institut. Seine Interviewer baten diejenigen, die Verwandte oder Bekannte im Westen haben, deren Lebensstandard mit dem eigenen zu vergleichen. Weitaus die meisten erklärten ihren eigenen Standard für niedriger.

Als diesen Befragten die Zusatzfrage gestellt wurde, ob sie „dieser Unterschied belastet“, fielen die Antworten eindeutig aus. 73 von 100 beschwert der eigene Rückstand nicht.

Die Frage, ob sie mit ihrer Wohnung zufrieden sind, bejahten 79 Prozent der West-Deutschen, aber auch 72 Prozent der Ost-Deutschen. Dabei ist es für niemanden ein Geheimnis, daß die Wohnungen im Westen größer und besser ausgestattet sind, daß sie außerdem von den privaten Vermietern besser instand gehalten werden als die Wohnungen in der Ex-DDR von den dortigen Kommunen.

Wer die ostdeutsche Zufriedenheit mit Wenigem verstehen will, muß sich in Erinnerung rufen, wie grau und hoffnungslos die Gegenwart und die Zukunft der DDR-Bevölkerung noch Mitte vorigen Jahres schienen, bevor das Volk auf die Straße ging und die Mauer brach. Zwei Spätfolgen des langen tristen Lebens in der DDR treten in den Ergebnissen der Untersuchung deutlich zutage.

Die eine: In hohem Maße fühlen sich die Ost-Deutschen ihren Landsleuten im Westen unterlegen, was die Eigenschaften betrifft, die sie in ihrem neuen Leben brauchen.

Die andere: Es gibt eine starke, geradezu explosive Stimmung dagegen, daß viele SED-Bonzen dabei sind, sich als Herren der Zukunft zu etablieren.

Als Emnid die 2000 Ost-Deutschen bat, sich in einigen Punkten mit den West-Deutschen zu vergleichen, konnten sie zwischen drei Antworten wählen: Die einen oder die anderen seien überlegen, oder es gebe keinen Unterschied.

Jedesmal entschieden sie sich am häufigsten für die selbstkritische Antwort:

42 Prozent erklärten sich für unterlegen in der „Fähigkeit, Probleme zu meistern“. 50 Prozent fanden, in der „Leistungsbereitschaft“ könnten sie nicht mithalten. Und sogar 68 Prozent meinten, ihr „Selbstbewußtsein“ sei geringer.

Das Leipziger Institut legte eine Liste mit 20 Eigenschaftspaaren (von „bescheiden – überheblich“ bis „geschäftstüchtig – nicht geschäftstüchtig“) vor und bat, nacheinander erst die West-Deutschen, dann die Ost-Deutschen einzustufen. Sieben Felder standen zur Wahl, um die Meinung zu differenzieren.

In fünf Punkten urteilten die meisten über die West-Deutschen kritischer. Sie seien überheblicher, rücksichtsloser, egoistischer, mißtrauischer und weniger kinderfreundlich.

Die meisten werden es wohl auch für negativ halten, daß die West-Deutschen nach ihrer Meinung „stärker aufs Geld bedacht“ sind. In einem weiteren Punkt sehen die Ost-Deutschen keinen Unterschied: Den Humor haben weder die einen noch die anderen gepachtet.

Aber in nicht weniger als 13 Eigenschaften erklärten sie sich für unterlegen. Die West-Deutschen sind nach Meinung der ostdeutschen Mehrheit

zuverlässiger,

pflichtbewußter,

gründlicher,

disziplinierter,

selbständiger,

entschlußkräftiger,

weltoffener,

flexibler,

fleißiger,

selbstbewußter,

toleranter,

ideenreicher und

geschäftstüchtiger.

Schaut man die Daten genauer an, so treten die Schwächen noch deutlicher zutage, die sich die Ost-Deutschen selbst zusprechen.

Liegen die Mittelwerte dicht beieinander, so sehen die Ost-Deutschen nur einen relativ geringen Unterschied. Demnach nehmen sie an, daß die anderen Deutschen nicht viel zuverlässiger, fleißiger, toleranter, pflichtbewußter und disziplinierter seien.

Liegen die Mittelwerte weit auseinander, so halten sie die West-Deutschen für deutlich überlegen. Das gilt für die Entschlußkraft und die Selbständigkeit, mehr noch für die Geschäftstüchtigkeit und am stärksten für das Selbstbewußtsein.

Nur 34 Prozent der Befragten halten die Ex-Bürger der DDR für „selbstbewußt“, aber 91 Prozent sagen dies über die West-Deutschen.

Die Honeckers, Mielkes und Genossen haben das Vertrauen in die eigene Kraft zerstört.

Werden die Ost-Deutschen nach der Vergangenheit gefragt, so wird deutlich, in welch hohem Maße sie dem System und seinen Funktionären die Schuld an ihren Schwächen und an ihren derzeitigen Schwierigkeiten geben.

Den Spruch der Bonzen, in ihrem Arbeiter-und-Bauern-Staat könne „jeder nach seinen Fähigkeiten“ arbeiten, haben die meisten als Hohn empfunden. Auf die Frage, welche Kriterien vor der Wende über den „Erfolg im Beruf“ entschieden, nannten sie am häufigsten „politische Aktivität“ und „Beziehungen“, während nach ihrer Meinung in der Bundesrepublik „Leistung“ und „Ausbildung“ ausschlaggebend sind. Und daß es im SED- und Stasi-Staat „im großen und ganzen gerecht zuging“, meinen nur 22 Prozent seiner einstigen Untertanen, obwohl sie von den Interviewern gebeten wurden, „von den Beziehungen und Verfehlungen der SED-Spitzen mal abzusehen“.

Der Begriff „Kommunismus“ ist den allermeisten unsympathisch, und den „Sozialismus“ verwerfen sie gleich mit. Der „Genosse“ stößt auf noch mehr Abneigung als die „Planwirtschaft“. Die Anrede, die in der Arbeiterbewegung nie auf Kommunisten beschränkt war und in der SPD (West) bis heute gebraucht wird, ist in Ostdeutschland zum Schimpfwort geworden.

In den Zorn über die Vergangenheit mischt sich Empörung über die Versuche vieler Gestriger, ihre Posten und Pfründen in die Zukunft zu retten.

Als Emnid eine Liste mit sieben Berufsgruppen vorlegte, die stärker mit dem SED-System verbunden waren als andere, sprachen sich große Mehrheiten dafür aus, daß „möglichst wenige im Amt bleiben“ sollen.

Die Aversion gegen „Leiter von größeren Betrieben“ und gegen „Verantwortliche für Handel und Versorgung“ ist noch größer als gegen Richter und gegen Offiziere der Volksarmee und der Volkspolizei – vermutlich, weil sie das parteitreue Fehlverhalten vieler Funktionäre in den Betrieben und Kaufhallen hautnäher erleben und erleiden mußten und ihnen um so stärker mißtrauen.

Es gibt kein Vertrauen zu den Wendehälsen, die „früher wichtige Funktionen und Ämter innehatten und jetzt erklären, daß sie für eine demokratische Erneuerung sind“. Auf die Frage, wie vielen „man glauben kann, daß sie es ehrlich meinen“, antworteten 1 Prozent „fast allen“, 11 Prozent „vielen“, aber 43 Prozent „einigen“ und 36 Prozent sogar „kaum jemandem“.

Wann immer in den Fragen des Bielefelder und des Leipziger Instituts anklang, die Diskussion um die Vergangenheit könne beendet werden, widersprach die Mehrheit.

73 Prozent der Ost-Deutschen lehnen es ab, „nach dem Ende der DDR einen Schlußstrich unter die 40 Jahre“ zu ziehen; sie verlangen, erst müsse geklärt werden, „wer sich schuldig gemacht“ hat.

Und sogar 80 Prozent sind dagegen, daß die Aktenberge der Stasi vernichtet werden.

Zwei Drittel der früheren DDR-Bürger nehmen an, daß sie selbst bespitzelt wurden und daß ihre Namen in den Akten stehen: 27 Prozent sind dessen „sicher“, 39 Prozent halten es für „wahrscheinlich“.

Quelle: „Den Neuen fehlt Selbstvertrauen“, Der Spiegel, 12. November 1990, S. 115–28.