Kurzbeschreibung

Unter der Leitung von Pfarrer Joachim Gauck entwarfen ostdeutsche Dissidenten ein Gesetz, das die vollständige Aufbewahrung und den freien Zugang zu dem Berg von Dokumenten gewährleisten sollte, die der Geheimdienst (Stasi) über seine eigenen Bürger gesammelt hatte.

Entwurf eines Gesetzes über die Stasi-Unterlagen (26. Mai 1991)

Quelle

Entwurf eines Gesetzes über die Sicherung und Nutzung der Daten und Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit der Deutschen Demokratischen Republik (26. Mai 1991)

§1

Zweck des Gesetzes

Zweck des Gesetzes ist,

1. die politische, historische, juristische und persönliche Aufarbeitung der Tätigkeit des Ministeriums für Staatssicherheit (nachfolgend MfS genannt) zu gewährleisten und zu fördern,

2. den einzelnen davor zu schützen, daß er durch den unbefugten Umgang mit den vom MfS über ihn gesammelten personenbezogenen Daten in seinen Persönlichkeitsrechten beeinträchtigt wird,

3. den Zugriff auf die personenbezogenen Daten des MfS für die Information und/oder Rehabilitierung und Entschädigung des Betroffenen zu ermöglichen,

4. Beweismittel im Rahmen von Strafverfahren, die im Zusammenhang mit der Tätigkeit des MfS durchgeführt werden, zur Verfügung zu stellen,

5. die parlamentarische und öffentliche Kontrolle der Sicherung und Nutzung der Daten und Unterlagen des MfS zu gewährleisten sowie

6. die Feststellung der offiziellen und inoffiziellen Tätigkeit für das MfS zu ermöglichen.

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Begründung

Allgemeines

I. Politische Begründung

Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) bildete zusammen mit der Staatspartei – SED – nahezu 40 Jahre das Rückgrat des totalitären Systems der Deutschen Demokratischen Republik. Die archivalischen Hinterlassenschaften dieses Ministeriums sind ein Kernstück der schriftlichen Überlieferungen aus der untergegangenen Deutschen Demokratischen Republik. Sie berichten personen- und sachbezogen aus allen Zweigen des gesellschaftlichen Lebens: der Wirtschaft, der Kultur, den Bildungseinrichtungen, Parteien, Organisationen und den Kirchen. Sie geben Einblick in die Arbeitsweise des Repressivapparates und bieten Zeugnis von der langjährigen Einschüchterung und Verfolgung wirklicher und vermeintlicher Gegner der Deutschen Demokratischen Republik, die zum größten Teil einfach Andersdenkende waren. Die politische, historische, juristische und persönliche Aufarbeitung der letzten 40 Jahre auf dem Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik ist ohne den Zugang zu diesen Beständen unmöglich.

Es waren wesentlich die Bürgerkomitees, die die Auflösung des Amtes für Nationale Sicherheit – in welches sich das MfS zu retten versucht hatte – erzwangen und damit auch den Erhalt der noch vorhandenen Teile der Unterlagen dieses Ministeriums gesichert haben. Vertreter der Bürgerkomitees wirkten an der Ausarbeitung des Volkskammergesetzes vom 24. August 1990 mit und erreichten durch energische Proteste die Vereinbarung vom 18. September 1990 zum Einigungsvertrag, die eine endgültige gesetzliche Regelung des Umgangs mit den Dateien und Unterlagen des MIS in Aussicht stellte. In dem von den Bürgerkomitees vorgelegten Entwurf, welcher diesem Gesetzentwurf zugrunde liegt, konnten sie die Erfahrungen eines Jahres im Umgang mit den „Stasi-Akten“ einbringen. Folgende Gründe und Überlegungen sprechen im einzelnen für ihren Vorschlag, in dessen Mittelpunkt die politische, historische, juristische und persönliche Aufarbeitung sowie die Rechte der Betroffenen stehen.

Die Auflösung des MfS und die Aufarbeitung seiner Tätigkeit waren eng miteinander verbunden. Die Kenntnis der Arbeitsweise und Strukturen des MfS war eine entscheidende Voraussetzung für die Auflösung des MfS. Es konnte nur das aufgelöst werden, was bekannt und wenigstens in Ansätzen durchschaubar war. Zu diesem Zweck bestanden von Anfang an Untersuchungsgruppen der Bürgerkomitees zur Auflösung der Staatssicherheit. Viele Fehler und Versäumnisse während der Auflösung erklärten sich aus dem geringen Stand der Aufarbeitung. Auch die damals neugewählten Parlamente konnten deshalb ihrer Verantwortung für die Auflösung des Staatssicherheitsdienstes nur unvollkommen gerecht werden. Die Geschichte der Auflösung des MfS wurde zu einem Kampf um die Aufdeckung seiner Tätigkeit. Informationen kamen nur Stück für Stück ans Tageslicht. Die Tatsache, daß noch immer sehr wenig über die Arbeitsweise und Strukturen des MfS bekannt ist, läßt Mißtrauen zurück, die Auflösung sei unvollständig und Teile des konspirativen Netzes des MfS könnten unaufgedeckt geblieben sein.

Für die Entwicklung einer demokratischen Kultur des wiedervereinigten Deutschlands ist die öffentliche und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der „Stasi-Vergangenheit“ eine unbedingte Voraussetzung. Es ist eine trügerische Hoffnung, die Probleme der Vergangenheit würden sich durch Vergessen lösen. Die aktive Auseinandersetzung mit der Tätigkeit des MfS und dem eigenen Handeln ist notwendig. Sie kann zu einer Quelle der Demokratisierung werden, indem sie selbstbewußtes Handeln der Bürger fördert und die Ablehnung von staatlichem Machtmißbrauch stärkt. Durch eine breite Beteiligung der Öffentlichkeit läßt sich ein politisches Rechtsbewußtsein entwickeln, dessen schwache Ausprägung undemokratischen Herrschaftsformen lange genug Vorschub leistete.

Die Aufarbeitung der Geschichte des MfS ist Teil der Information der Gesellschaft und jedes einzelnen über sich selbst. Gerade im Zusammenhang mit den „Stasi-Akten“ hat das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung seinen besonderen Wert: Der innere Friede des einzelnen und der Gesellschaft ist nur möglich, wenn bekannt ist, was mit jedem einzelnen und der Gesellschaft in den letzten 40 Jahren passiert ist. Wenn Ungewißheit fortbesteht, bleiben die „Stasi-Akten“ ein drohendes Geschwür. Nur durch Wissen läßt sich zurückgebliebene Angst vor der Allmacht der Staatssicherheit abbauen. Anliegen der in fast allen Landesparlamenten der neuen Bundesländer zur Stasi-Problematik gebildeten Sonderausschüsse ist es deshalb auch, die Aufklärung über die Tätigkeit des MfS voranzutreiben.

Die umfassende Aufarbeitung der Wirkungsweise der Repressivorgane – wie dem MfS – in einem diktatorischen System besitzt Bedeutung über die Grenzen Deutschlands hinaus. Sie kann Zeichen setzen für die Aufarbeitung ähnlicher Erscheinungen in anderen Ländern. Die vollständige Aufklärung von Unrecht, Willkür und Straftaten, der Umgang mit den dafür Verantwortlichen und deren Mitläufern hat Beispielwirkung für die Demokratiebewegungen in den Ländern des ehemaligen sozialistischen Blocks, einschließlich der UdSSR, und für all jene Länder, in denen Diktatur herrschte und herrscht. Auch dieser Verantwortung muß sich das wiedervereinigte Deutschland stellen.

Die Fortsetzung der Aufarbeitung ist eine wesentliche Voraussetzung für die Erreichung der bereits im Einigungsvertrag festgeschriebenen Zwecke des Umgangs mit den „Stasi-Akten“:

– der Wiedergutmachung und Rehabilitierung von Betroffenen,

– zur Feststellung der offiziellen und inoffiziellen Tätigkeit für das MfS,

– zur Aufklärung und Verfolgung von Straftaten im Zusammenhang mit der Tätigkeit des MfS.

Angesichts der Quellenlage – der bewußten „Säuberung“ der personenbezogenen Unterlagen des MfS durch dessen Mitarbeiter in der Schlußphase und während des Auflösungsprozesses; der fast vollständigen Vernichtung der Bestände der HVA (der Hauptverwaltung Aufklärung) — ist eine einheitliche Durchführung der Feststellung der offiziellen und inoffiziellen Tätigkeit für das MfS ohne Erschließung des gesamten noch vorhandenen Materials nicht möglich. Erst mit der umfassenden Aufarbeitung wird sich verhindern lassen, daß weiterhin ehemalige Mitarbeiter des MfS zielgerichtet Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens „auffliegen“ lassen.

Darüber hinaus ist eine Aufarbeitung auch der übrigen „DDR-Bestände“ (Staatsapparat, Parteien und Organisationen) notwendig, um die Verflechtungen des MfS mit anderen Institutionen und Organisationen aufzudecken. Nur so läßt sich zu einer abgewogenen und differenzierten Beurteilung der Verantwortung kommen und Kriterien für den Umgang mit ehemaligen Mitarbeitern der Staatssicherheit finden. Für den rechtsstaatlichen Zugriff auf die politischen relevanten Archivbestände der wichtigsten Parteien und Organisationen der Deutschen Demokratischen Republik, der deren vollständige und sofortige Nutzung ermöglicht, ist eine gesonderte Regelung dringlich.

Auch für die Verfolgung von Rechtsverletzungen durch Mitarbeiter des MfS und die Rehabilitierung ihrer Opfer ist die Aufarbeitung der Tätigkeit und Strukturen des MfS unabdingbar. Erst durch die umfassende Kenntnis des begangenen Unrechts wird der rechtsstaatliche Umgang mit Handlungen des MfS möglich, die zur Beschränkung der Freiheiten und Grundrechte der Bürger der Deutschen Demokratischen Republik führten: wie zum Beispiel Observation, Nötigung, Freiheitsberaubung, Mißbrauch der Psychiatrie u. a. Den Opfern muß durch die Aufarbeitung öffentliche Anerkennung verschafft werden.

Die Wissenschaft war und ist nicht auf die Aufarbeitung vorbereitet. Für die Aufarbeitung der Tätigkeit des MfS müssen institutionelle Rahmenbedingungen geschaffen werden, die eine unabhängige Untersuchung sichern.

Die Aufarbeitung sollte jedoch nicht ausschließlich Institutionen überlassen bleiben. Die Schaffung von Möglichkeiten für eine direkte Beteiligung der Bürger ist notwendig. Diesem Zweck dient die vorgesehene Einrichtung von Dokumentationszentren. Die Einsichtnahme der Betroffenen in die über sie durch das MfS gesammelten Daten spielt für die Aufarbeitung eine wichtige Rolle. Durch die Aufarbeitung ihrer eigenen Geschichte können sie zur Aufhellung der Geschichte des MfS beitragen.

Klares Ziel der Aufarbeitung ist die Information der Gesellschaft und jedes einzelnen über die Arbeitsweise und Strukturen des MfS sowie dessen Funktionieren in der Gesellschaft.

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Quelle: Entwurf eines Gesetzes über die Sicherung und Nutzung der Daten und Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit der Deutschen Demokratischen Republik (26. Mai 1991), Drucksache 12/692 vom 7. Juni 1991, Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Drucksachen, 12. Wahlperiode, Bd. 429, S. 3, 11–12.