Kurzbeschreibung

In einem umfassenden Essay denkt der britische Historiker Timothy Garton Ash über die neue deutsche Führungsrolle nach, erklärt das Zögern Berlins aufgrund der deutschen Geschichte und rät zur Zusammenarbeit mit seinen Nachbarn, um die Integration Europas zu stärken.

Timothy Garton Ash, “Die neue deutsche Frage” (2013)

Quelle

Die neue deutsche Frage

Es gibt eine neue deutsche Frage. Sie lautet wie folgt: Kann das mächtigste Land Europas beim Aufbau einer nachhaltigen, international wettbewerbsfähigen Eurozone und einer starken, international glaubwürdigen Europäischen Union die Führung übernehmen? Die Schwierigkeiten Deutschlands, auf diese Herausforderung überzeugend zu antworten, sind zum Teil das Ergebnis früherer deutscher Fragen und der darauf gefundenen Lösungen. In den Antworten von gestern liegt die Saat für die Fragen von heute.

Bevor ich diese historischen Zusammenhänge erkläre, sollten wir jedoch über all das nachdenken, was diese neue deutsche Frage nicht ist. Dreiundzwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung ist die erweiterte Bundesrepublik Deutschland eine so solide bürgerlich-liberale Demokratie, wie man sie auf der Welt nur finden kann. Sie hat nicht nur die enormen Kosten der Wiedervereinigung aufgefangen, sondern seit 2003 auch beeindruckende Wirtschaftsreformen durchgeführt, welche die Arbeitskosten im Konsens gesenkt und damit ihre globale Wettbewerbsfähigkeit wiederhergestellt haben.

Dieses Land ist zivilisiert, frei, wohlhabend, gesetzestreu, gemäßigt und vorsichtig. Seine vielen Tugenden könnte man als „die Banalität des Guten“ zusammenfassen. Auf die Frage der BILD-Zeitung, welche Gefühle Deutschland in ihr weckt, antwortete Angela Merkel einmal berühmt: „Ich denke an gut abgedichtete Fenster! Kein anderes Land kann so dichte und schöne Fenster herstellen.[1] Doch ganz so banal ist das Land nicht. Wenn ich die gut abgedichteten Fenster meines Hotelzimmers in Berlin öffne, blicke ich über die Straße Unter den Linden auf die beleuchtete, lichtdurchlässige Kuppel des Reichstagsgebäudes, das im Herzen der heute nach London aufregendsten Stadt Europas liegt.[2]

Ein israelischer Freund, der die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen hat, beschreibt mir Deutschland als ein „ausgeglichenes“ Land, und das ist genau das richtige Gefühl. Der französische Linkspolitiker Jean-Luc Mélenchon sorgte für Aufsehen, als er sagte, dass „unter den Menschen, die Lebensfreude haben, niemand Deutscher sein will“.[3] In diesem Fall muss es sehr viele Menschen geben, die keine Lebensfreude haben, denn laut einer BBC-Umfrage in 25 Ländern ist Deutschland das beliebteste Land der Welt – zehn Punkte vor Frankreich.[4]

Es hat auch Schwächen und Probleme. Wer hat die nicht? Deutschland hat eine rapide alternde Bevölkerung. Bei einer düsteren Extrapolation ohne Veränderung könnte das Verhältnis bis 2030 auf etwas mehr als einem Erwerbstätigen zu jedem Rentner sinken. Ohne Zuwanderung könnte die Bevölkerung von heute über 80 Millionen auf unter 60 Millionen im Jahr 2050 sinken. Die Zuwanderung muss daher einen großen Teil der Antwort auf die demografische Herausforderung darstellen, aber Deutschland hinkt hinter Frankreich und Großbritannien, ganz zu schweigen von Kanada und den Vereinigten Staaten, hinterher, wenn es darum geht, jene wichtigen, schwer fassbaren sozialen und kulturellen Signale auszusenden, die es Menschen mit Migrationshintergrund ermöglichen, sich mit ihrer neuen Heimat zu identifizieren.[5]

Aufgrund der irrationalen, kurzsichtigen politischen Entscheidung, nach der Katastrophe von Fukushima in Japan aus dem eigenen Kernkraftprogramm auszusteigen, und weil es sich stark auf Kohle und Gas verlässt, liegen die Energiekosten der deutschen Industrie etwa 40 Prozent über denen Frankreichs. Die deutsche Wirtschaft ist hervorragend darin, Dinge herzustellen, die Menschen in Ländern wie China kaufen wollen – Autos, Werkzeugmaschinen, Chemikalien –, aber schwächer bei Dienstleistungen. Deutsche Unternehmen sind hervorragend bei inkrementellen technologischen Verbesserungen, aber weniger gut bei den so genannten „disruptiven Innovationen“, wie man sie im Silicon Valley findet. Das Land, das im 19. Jahrhundert die moderne Forschungsuniversität erfunden hat, hat viele sehr gute Universitäten, aber keine, die mit Oxford oder Stanford konkurrieren könnte. Berlin rühmt sich eines wunderbaren Café Einstein, aber seit den 1930er Jahren arbeiten die Einsteins dieser Welt eher woanders.

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Im globalen Wettbewerb um die Wirtschaft sind die deutschen Unternehmen so zäh und gut organisiert wie einst die deutschen Regimenter im Krieg, und sie werden von ihrer Regierung geschickt und systematisch unterstützt. Geopolitisch jedoch zeigt dieses Deutschland absolut keine neo-wilhelminischen Ambitionen, seine Nachbarn oder irgendjemanden sonst zu dominieren. Der einzige „Platz an der Sonne“, den seine Bürger/innen suchen, befindet an den Urlaubsstränden des Mittelmeers. Die einzigen kriegerischen Siege, die es feiert, sind auf dem Schlachtfeld des Fußballs, einem Spiel, in dem es so gut ist, dass es manchmal sogar gegen sich selbst spielt. Das diesjährige Finale der europäischen Champions League in London fand zwischen zwei deutschen Mannschaften statt, Bayern München und Borussia Dortmund.

Zur Zeit der deutschen Vereinigung gab es Befürchtungen, dass Deutschland ein neues Mitteleuropa dominieren würde. In wirtschaftlicher Hinsicht hat Deutschland heute eine herausragende Stellung in Ostmitteleuropa. Deutsche Hersteller wie Volkswagen haben wichtige Teile ihrer Produktion verlagert, um die Vorteile der niedrigeren Löhne und der hochqualifizierten Arbeitskräfte in Ostmitteleuropa zu nutzen, während sie gleichzeitig innerhalb der EU bleiben. Wenn man die vier Visegrad-Länder – Polen, Ungarn, die Tschechische Republik und die Slowakei – als eine Einheit betrachtet, sind sie Deutschlands größter Handelspartner. Aber dieses neue Mitteleuropa wurde einvernehmlich geschaffen und wird von den meisten Slawen, Magyaren und Deutschen als weitgehend vorteilhaft für beide Seiten angesehen. Die deutsch-polnischen Beziehungen sind so gut wie seit tausend Jahren nicht mehr, und Polen ist heute der beste Freund Deutschlands in der EU. Im Jahr 2011 erklärte der polnische Außenminister Radek Sikorski denkwürdig: „Ich bin wahrscheinlich der erste polnische Außenminister in der Geschichte, der das sagt, aber es ist so: Ich fürchte die deutsche Macht weniger, als ich anfange, die deutsche Untätigkeit zu fürchten.“

Um zu verstehen, warum Deutschland so ungern die Führung übernimmt, muss man sich vergegenwärtigen, dass die während und nach der deutschen Vereinigung geschmiedete europäische Währungsunion kein deutsches Projekt war, um Europa zu dominieren, sondern ein europäisches Projekt, um Deutschland in die Schranken zu weisen. Auf die deutsche Frage von 1989 – was sollen wir mit dem sich rasch vereinigenden Deutschland tun? – antworteten der Franzose François Mitterrand und der Italiener Giulio Andreotti: es durch eine Währungsunion noch enger an Europa binden. Ja, es gab bereits Pläne für eine gemeinsame Währung als Ergänzung zum Binnenmarkt, Bundeskanzler Helmut Kohl war grundsätzlich dafür, und es gab wirtschaftliche Argumente für ihre Einführung. Aber der damals eilig beschlossene Zeitplan für die heutige Währungsunion und einige ihrer grundlegenden Konstruktionsfehler resultierten aus der Politik um die deutsche Einheit.

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Die Deutschen wurden nie in einem Referendum gefragt, ob sie die D-Mark aufgeben wollten, die für die westdeutsche Nachkriegsidentität das war, was die Königin für die britische Identität ist. Wären die Deutschen gefragt worden, hätten sie wahrscheinlich Nein gesagt; aber der mächtige Kohl hat es durchgesetzt. Im ersten Jahrzehnt des Bestehens des Euro haben sie sich an ihn gewöhnt, aber sie haben ihn nie lieben gelernt. Kaum jemand wies sie darauf hin, dass Deutschland der größte Nutznießer der gemeinsamen Währung war, da er hervorragende Bedingungen für die Exporte des Landes nach und außerhalb Europas schuf. Einer Schätzung zufolge betrug der kumulierte Handelsüberschuss Deutschlands mit dem Rest der EU seit der Einführung des Euro im Jahr 1999 bis 2011 mehr als 1 Billion Dollar.[6]

Dann kam die Abrechnung. Im Sturm der Finanzkrise von 2008, verstärkt durch die Hysterie an den Anleihemärkten, wurden alle Mängel dieser halbgaren Währungsunion brutal aufgedeckt. Diese offene europäische Frage musste nun angegangen werden. Da es sich um eine Frage der Wirtschaft, genauer gesagt der politischen Ökonomie, handelte, richteten sich alle Augen auf das Land, das nun – dank seiner eigenen langjährigen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und der Reformen nach 2003, aber auch dank des Euro – die unbestrittene führende Wirtschaftsmacht Europas war.

Deutschland hatte diese Führungsrolle in Europa nicht angestrebt. Nach 1990 wären die meisten Deutschen ganz froh gewesen, die Herausforderungen der nationalen Einigung zu meistern und ansonsten weiterhin reich und frei zu sein, in einer Art Großschweiz, mit hochwertigen Exporten und viel sonnigem Urlaub am Mittelmeer. Stattdessen bewirkte die Währungsunion, mit der Mitterrand Frankreich auf dem Fahrersitz Europas und Deutschland auf dem Beifahrersitz halten wollte, genau das Gegenteil. Sie brachte Deutschland auf den Fahrersitz wie nie zuvor. Plötzlich fanden sich die Deutschen dabei wieder, für die Rettung anderer zu zahlen, und ihre Regierung sagte den Ländern, die nun als „südeuropäisch“ zusammengefasst wurden, genau, was sie im Gegenzug tun sollten: Kürzt eure Haushalte, führt Strukturreformen durch, werdet mehr wie Deutschland.

So schlüpfte Deutschland ungewollt in die Rolle, vor der Bismarck sein Land in einer großen Rede vor dem Reichstag 1878 gewarnt hatte: der Schulmeister in Europa.[7] Oder besser gesagt, da die Inhaberin von Bismarcks Amt nun eine Dame war, die Schulmeisterin in Europa. Berlins Belohnung? Zypriotische Straßendemonstranten, die Plakate mit der Aufschrift „Hitler Merkel“ hochhalten, und Griechen, die den Deutschen vorwerfen, sich wie Gauleiter zu verhalten. In einer im Juni dieses Jahres durchgeführten Harris-Umfrage sagten 88 Prozent der Befragten in Spanien, 82 Prozent in Italien und 56 Prozent in Frankreich, dass Deutschlands Einfluss in der EU zu stark sei. Wie Merkel selbst einmal ironisch zu mir sagte: Wir sind verdammt, wenn wir nicht führen, und verdammt, wenn wir es tun.

Der pragmatische, zurückhaltende und schrittweise Ansatz der Bundeskanzlerin spiegelt zum Teil ihren persönlichen Stil wider. Aber ein Grund dafür, dass sich ihre Popularität in Deutschland in den Jahren der Krise so gut gehalten hat, ist, dass ihre offensichtliche Zurückhaltung, in jeder Phase der Krise in der Eurozone mehr als das scheinbar Unvermeidliche zu tun, die Zurückhaltung einer ganzen Nation sowohl widerspiegelt als auch definiert. Die einzige wirklich mutige und entschlossene Maßnahme in der Krise der Eurozone wurde bisher nicht von Deutschland, sondern vom italienischen Präsidenten der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, ergriffen, als er im Juli 2012 erklärte, die Bank werde „alles tun, was nötig ist“, um den Euro zu erhalten. Das Ergebnis ist, dass die Eurozone zwar überlebt hat, aber noch nicht gedeiht – vor allem nicht in den Schuldnerländern des Südens. In Spanien zum Beispiel liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei über 50 Prozent.

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Schon bald nach der friedlichen Wiedervereinigung Deutschlands in den Jahren 1989-1990 bezeichnete Fritz Stern sie unvergesslich als „zweite Chance“ für Deutschland. Die erste Chance hatte die wirtschaftlich dynamische Zentralmacht Europas in den Jahren vor 1914 erhalten. „Es hätte Deutschlands Jahrhundert werden können“, sagte Raymond Aron einmal zu Stern. Es hat diese Chance durch zwei Weltkriege und den Holocaust vertan. Jetzt hatte es eine weitere.

Fast ein Vierteljahrhundert später können wir getrost behaupten, dass Deutschland innenpolitisch seine zweite Chance gut genutzt hat. Es ist ein „europäisches Deutschland“, auf das Thomas Mann stolz sein könnte.[8] Nach außen, bei der Gestaltung einer neuen europäischen Ordnung und bei der Bewältigung der bei der Wiedervereinigung offen gebliebenen europäischen Frage, steht Deutschland jedoch erst jetzt vor der wirklichen Bewährungsprobe, wie es seine zweite Chance nutzt.

Obwohl der Begriff „Hegemon“ weit verbreitet ist, ist die Position Deutschlands in Europa heute eher die einer führenden als einer dominierenden Macht. Es handelt sich nicht um die hegemoniale Vormachtstellung des napoleonischen Frankreichs in Kontinentaleuropa oder der Vereinigten Staaten in der westlichen Welt nach 1945. Die Berliner Republik hat nur 16 Prozent der EU-Bevölkerung und 20 Prozent des BIP der EU. Diese unangenehme Zwischengröße ist neben der zentralen geografischen Lage des Landes ein wiederkehrendes Merkmal der modernen deutschen Fragen. „Zu groß für Europa, zu klein für die Welt“, witzelte Henry Kissinger berühmt. Doch heute geht es um die Frage, ob Deutschland überhaupt groß genug für Europa ist – nicht nur objektiv, sondern auch subjektiv, in seinem Geist und seiner strategischen Vorstellung.

Im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten ist der europäische Zentralstaat nur in einer der drei Hauptdimensionen der Macht überragend. Militärisch ist er nicht mit Großbritannien und Frankreich zu vergleichen. Nachdem es sich an der Intervention im Kosovo beteiligt hat, um dort einen weiteren serbischen Völkermord zu verhindern (meiner Meinung nach immer noch eine der Glanzstunden des wiedervereinigten Deutschlands), und sich erneut seinen westlichen Verbündeten in Afghanistan angeschlossen hat, ist es in einen eher selbstgefälligen Pazifismus zurückgefallen.[9] Ein hochrangiger Minister der Regierung spricht mit mir fast abschätzig über die „anständige“ Armee seines Landes, bevor er argumentiert, dass die wahren Schlachten des 21. Jahrhunderts geoökonomischer Natur sein werden.

Und soft power? Ja, wie die BBC-Umfrage unter fünfundzwanzig Ländern zeigt, hat die Bundesrepublik eine beträchtliche Anziehungskraft – Joseph Nyes klassische Definition von soft power. Doch das ist noch kein Vergleich zur kulturellen Anziehungskraft des Landes von Harry Potter, David Beckham, der Royal Shakespeare Company, der BBC, englischsprachigen Universitäten mit Studenten aus aller Welt, der königlichen Familie, der Olympischen Spiele in London und Mr. Bean.

Im Hinblick auf wirtschaftliche Macht gibt Deutschland den Ton an, vor allem Deutschland. Und auch bei der politischen Macht. In den Fluren und Räten von Brüssel warten alle darauf, welchen Weg Berlin einschlagen wird. Früher hatten alle Europäer ein gemeinsames Thema: Amerika. Jetzt haben sie zwei: Deutschland und Amerika. Bei der Suche nach deutschen Antworten auf die europäische Frage sind drei Bereiche von entscheidender Bedeutung: die Wirtschaftspolitik; die europäischen Institutionen, die diese Politik überwachen und legitimieren sollen; und nicht zuletzt die Poesie, die diese wirtschaftliche und institutionelle Prosa begleiten und die Europäer wieder an den Traum, den wir Europa nennen, glauben lassen soll.

Wenn ich mit deutschen Politikern und Beamten spreche, bin ich erstaunt, wo ihre eigenen Antworten beginnen. Es ist nicht Deutschland, Griechenland oder Italien; es ist China. Im Jahr 2012 kamen 46 Prozent der EU-Exporte nach China aus Deutschland. Großbritannien hat seine Finanzdienstleistungen globalisiert, doch kein europäischer Produktionssektor ist so international wie der deutsche. Was meine deutschen Gesprächspartner/innen für die anderen Länder der Eurozone wollen, ist, dass sie starke, wettbewerbsfähige, exportorientierte Volkswirtschaften wie Deutschland werden. Dann, und nur dann, hätten wir das, was sie die Selbstbehauptung Europas nennen, ein Europa, das in der Lage ist, in einer sich schnell verändernden Welt für sich selbst einzustehen. Daher ihr eisernes, schulmeisterliches Beharren auf einer Kombination aus Haushaltskonsolidierung und Strukturreformen in den schwächeren Volkswirtschaften der Eurozone.

Ihre größte Sorge gilt Frankreich, insbesondere unter seinem sozialistischen Präsidenten François Hollande. Frankreich ist sowohl das wichtigste Land für Deutschland in der Geschichte der europäischen Integration seit den 1950er Jahren als auch ein Land mit dramatischen Reformdefiziten. Wie soll der „Reformdruck“ auf Frankreich aufrechterhalten werden, wenn es durch die Kreditwürdigkeit Deutschlands praktisch geschützt ist? (Die Renditen französischer Staatsanleihen liegen viel näher an denen Deutschlands als die von Spanien oder Italien, weil die Märkte richtig einschätzen, dass Frankreich das letzte Mittelmeerland ist, das Deutschland jemals loslassen würde).

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Das Problem mit dem deutschen Rezept für die Eurozone ist, dass es – je nach Geschmack – entweder nicht oder nicht schnell genug funktioniert. Ein einfacher, theoretischer Punkt scheint mir besonders hervorzuheben. Deutschland, der Exportweltmeister, ist als das China Europas bezeichnet worden. So wie nicht jeder auf der Welt China sein kann, und wenn alle wie China wären, könnte China nicht China sein – denn wer würde dann seine Exporte kaufen –, so kann auch nicht jeder in der Eurozone Deutschland sein, und in dem unwahrscheinlichen Fall, dass sie wie Deutschland würden, könnte Deutschland nicht mehr Deutschland sein. Es sei denn, man geht davon aus, dass der Rest der Welt freudig seine Binnennachfrage ausweiten würde, um das erhöhte Exportangebot einer rein deutschen Eurozone zu kaufen.

Am Ende zählt nur, was funktioniert. Die Herausforderung für Deutschland nach der Wahl besteht darin, die politische Mischung zu finden, die der Eurozone das bringt, was alle wollen – Investitionen, Wachstum, Arbeitsplätze und damit auch geringere Ausgaben für die Arbeitslosenunterstützung und höhere Steuereinnahmen, die allein die Staatsverschuldung dauerhaft senken werden. Das Ergebnis wird natürlich von der Entwicklung der Weltwirtschaft abhängen, die z. B. in China kaum günstig ist.

Die Rhetorik der deutschen Politik ist nach wie vor streng dogmatisch, wobei die deutsche Wirtschaft oft wie ein Zweig der Moralphilosophie, wenn nicht gar der protestantischen Theologie klingt. Merkel, die Tochter eines ostdeutschen protestantischen Pfarrers, hat einmal unvorsichtig angedeutet, dass die südeuropäischen Schuldnerländer „für die Sünden der Vergangenheit büßen müssen“. Die Realität der Berliner Politik ist jedoch pragmatischer. So hat es beispielsweise Anfang dieses Jahres staatlich kontrollierte deutsche Banken ermächtigt, bei der Schaffung von Arbeitsplätzen für arbeitslose Jugendliche in Südeuropa zu helfen. Die Chancen auf mehr solchen konstruktiven Pragmatismus, einschließlich Lohnerhöhungen, die die deutsche Binnennachfrage ankurbeln könnten, würden sicherlich steigen, wenn die Sozialdemokraten an die Regierung kämen, vielleicht in einer Großen Koalition mit Merkels Christdemokraten.

Aber selbst wenn die Führungsfiguren des Landes bereit sind, alles zu tun, was sich als notwendig erweist, können sie die deutsche Bevölkerung mitnehmen? Die Deutschen sind verständlicherweise besorgt über die Gefahr, mit ihren eigenen hart verdienten Löhnen und Ersparnissen für die selbstverschuldeten Fehler anderer Europäer bezahlen zu müssen. Ich kann gar nicht mehr zählen, wie oft mir gesagt wird: „Wenn Außenstehende uns bitten, die Führung zu übernehmen, dann meinen sie Geld“.

Sie sind ebenfalls besessen von der Gefahr der Inflation. Eine Umfrage hat ergeben, dass die Deutschen die Inflation mehr fürchten als eine Krebserkrankung.[10] Wieder der Schatten der Geschichte: in diesem Fall das Trauma zweier dramatischer Inflationen, nach dem Ersten und nach dem Zweiten Weltkrieg. Doch wie der wirtschaftspolitische Korrespondent der liberalen Wochenzeitung Die Zeit in einer temperamentvollen Polemik argumentiert, missverstehen sie sowohl die Vergangenheit – es war die Deflation, nicht die Inflation, die Hitlers Aufstieg zur Macht unmittelbar vorausging – als auch die gegenwärtige Realität dieser Gefahr.[11]

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Wenn Deutschland es schafft, zusammen mit seinen Partnern in der Eurozone das wirtschaftspolitisch Notwendige zu tun, braucht Europa eine neue institutionelle Architektur, am dringendsten für die Überwachung der nationalen Haushalte in der Eurozone, aber schließlich für die gesamte Struktur der EU. Berlin ist heute eine Baustelle, mit riesigen Kränen und Baggern, die direkt vor den (glücklicherweise gut abgedichteten) Fenstern meines Hotelzimmers eine neue U-Bahn-Linie untertunneln, und direkt Unter den Linden wurde jetzt der Grundstein für eine wunderbare Rekonstruktion des preußischen Königsschlosses gelegt, das nach dem Zweiten Weltkrieg von den ostdeutschen Kommunisten abgerissen wurde. Berlin ist auch eine intellektuelle Baustelle, auf der alternative Entwürfe für Europa wie gigantische Balken herumgeschwenkt werden. Ein Freund drückt mir eine Postkarte in die Hand, auf der steht: „Die Europäische Republik ist im Aufbau“. Ein internes sozialdemokratisches Diskussionspapier fordert ein anderes Europa – ein anderes (und besseres) Europa.

Wird dies also die Bundesrepublik Europa sein, die Federal Republic of Europe? Wie andere europäische Länder auch, denkt Deutschland sicherlich zunächst durch das Prisma seiner eigenen Verfassungstradition an Europa, so wie sich die Franzosen eine zentralisierte laizistische Republik vorstellen und die Briten von einem „baggy commonwealth“ träumen. Föderal im deutschen Sinne könnte auch bedeuten, dass Befugnisse auf die nationale und staatliche Ebene zurückgeführt werden – was viele skeptische Europäer, und nicht nur englische Euroskeptiker, begrüßen würden. Aber die deutsche Debatte ist breiter angelegt.

Merkel selbst schwankt zwischen der Vorstellung einer größeren Rolle für das direkt gewählte Europäische Parlament und einer starken pragmatischen Präferenz für zwischenstaatliche Vereinbarungen, wie dem Fiskalpakt für die Eurozone vom letzten Jahr. Da in den deutschen Debatten die Bedeutung der demokratischen nationalen Souveränität immer stärker betont wird, was durch die Urteile des Verfassungsgerichts gefördert wird, wird auch gefordert, dass die Stimmen der nationalen Parlamente in Brüssel direkter gehört werden.

Die Deutschen jonglieren also, wie alle anderen auch, intellektuell mit drei Arten von Legitimität: supranational, durch eine Europäische Kommission, die von einem direkt gewählten Europäischen Parlament kontrolliert wird; intergouvernemental, in den Räten der EU, in denen Vertreter demokratisch gewählter nationaler Regierungen zusammenkommen; und die Beteiligung der nationalen Parlamente. Was auch immer am Ende aus der Brüsseler Wurstfabrik der Verhandlungen herauskommt, wahrscheinlich in einigen Jahren, wird nicht sauber und ordentlich sein, und es wird nicht nur in Deutschland gemacht werden: weniger eine Bundesrepublik Europa, mehr ein Heiliges Republikanisches Commonwealth.

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Wer spricht also für Europa? Ab dem 23. September, dem Tag nach der Bundestagswahl, muss das europäische Rätsel von Deutschland entschiedener angegangen werden. Aber dieses Deutschland ist weder objektiv noch subjektiv groß genug, um es allein zu lösen. Die Berliner Republik kann bestenfalls Erste unter Gleichen sein. Ihre Führung muss zurückhaltend sein, kooperativ, auf sorgfältig gepflegten Beziehungen zu kleinen wie zu großen Staaten aufbauend – das ist schließlich die unverwechselbare außenpolitische Tradition der Bundesrepublik. Und sie weiß es.

Deutschland braucht daher die Hilfe seiner europäischen Freunde und Partner. Nur gemeinsam können wir die Politiken und Institutionen, aber auch die frische Brise der Poesie schaffen, um das europäische Schiff wieder in Fahrt zu bringen. Die Antworten auf diese neue deutsche Frage werden nicht von den Deutschen allein gefunden werden.

Anmerkungen

[1] BILD-Zeitung, 30. November 2004. Sie hatte zuvor eine fast identische Frage beantwortet – „Was fällt Ihnen ein, wenn Sie an Deutschland denken?“ - und wollte damit wahrscheinlich die Suche der Journalisten nach nationalem Pathos entkräften. In ihrer Antwort auf die erste Frage sprach sie über das gemäßigte Klima in Deutschland, das, wie sie sagte, dafür sorgt, „dass wir keine Siesta brauchen!“ Ich danke Stefan Kornelius für den Hinweis auf das Original, das leicht von der Version in seinem Buch abweicht, Angela Merkel: Die Kanzlerin und ihre Welt (Hamburg: Hoffmann und Campe, 2013), S. 29.
[2] London gewinnt trotzdem mit einem Kopf Vorsprung, weil es im Gegensatz zu Berlin alles an einem Ort hat - Politik, Wirtschaft, Journalismus, Kultur, Think Tanks, Sport - und dazu noch die englische Sprache.
[3] Zitiert in Der Tagesspiegel, 11. Juni 2013
[4] BBC-Umfrage: „Deutschland beliebtestes Land der Welt“.
[5] Siehe meinen Artikel “Freedom and Diversity: A Liberal Pentagram for Living Together”, The New York Review, 22. November 2012.
[6] Schätzung von Jorge Braga de Macedo und Urho Lempinen, zitiert von Risto E.J. Penttila in “Germany Calls the Shots”, International Herald Tribune, 22. März 2013.
[7] Rede vom 19. Februar 1878, wiedergegeben in Bismarck: Die großen Reden, herausgegeben von Lothar Gall (Berlin: Severin und Siedler, 1981), S. 155. Dies ist die berühmte Rede, in der er vorschlägt, dass Deutschland eher danach streben sollte, ein „ehrlicher Makler“ zu sein.
[8] Unter uns gesagt, er könnte jedoch es ein wenig langweilig finden. Wo hinter diesen dichten und schönen Fenstern ist Dr. Faustus? Wo Lodovico Settembrini und Leo Naphta? Wo Felix Krull?
[9] Drei deutsche Gymnasien wurden kürzlich mit dem Aachener Friedenspreis ausgezeichnet, weil sie sich weigerten, Bundeswehr-Offiziere kommen zu lassen, um mit ihren Schülern über mögliche Karrieren bei den Streitkräften zu sprechen. Siehe Die Zeit, 20. Juni 2013. Ich danke Mark Lilla dafür, dass er mich auf diesen Fall aufmerksam gemacht hat.
[10] Allensbach Institut für Demoskopie, Sicherheitsreport 2012. Ich danke Zanny Minton Beddoes für diesen Hinweis, auf den ich zum ersten Mal in ihrem Economist-Sonderbericht über Deutschland, „Europe‘s Reluctant Hegemon“, 15. Juni 2013, stieß.
[11] Mark Schieritz, Die Inflationslüge. München: Knaur, 2013.

Quelle: Timothy Garton Ash, “The New German Question”, The New York Review of Books, 15. August 2013. Copyright © Timothy Garton Ash 2013. Online verfügbar unter: http://www.nybooks.com/articles/2013/08/15/new-german-question/

Übersetzung: Insa Kummer