Kurzbeschreibung

Ein Kulturjournalist evoziert die mannigfaltigen Stimmen des neuen Berlin und beschreibt die Attraktivität der neuen/alten deutschen Hauptstadt, deren Stärke in ihren Mängeln zu liegen scheint und die eine Spannung erzeugt, von der sich besonders junge kreative Leute mit einer Portion Wagemut angesprochen fühlen.

Die Attraktivität der Metropole Berlin (6. Juli 2006)

  • Wolfgang Büscher

Quelle

Stadt der Spieler

Berlin hat alles verloren: Seine Industrie, seine Subventionen und die Illusionen der neunziger Jahre. Und jetzt? Wovon sollen 3,4 Millionen Berliner leben? „Berlin muss Las Vegas werden“, sagt der Architekt Hans Kollhoff. Begegnungen und Beobachtungen in einer ernüchterten Stadt.

„Wir fahren nach Berlin!“ – der Schlachtruf von Fußballfans im ganzen Land gibt Antwort auf eine praktische Frage: Wohin, wenn etwas so Großes bevorsteht wie das WM-Finale? Jede große Freude will ihren Ort. Jede Sehnsucht. „Nach Berlin“, das ist der Mythos, der Hype, der Sog einer jeden Großstadt, die diesen Namen verdient: Kommt alle her, die ihr mühselig und beladen seid! Hier ist alles größer, schöner, höher.

Sicher, im Fall von Berlin ist dieser Sog paradox. Mühselig und beladen ist die Stadt ja selbst. Heillos verschuldet. Und nichts in Sicht, was 3,4 Millionen Berliner ernähren könnte. Kein big daddy wird kommen und, sagen wir, 20.000 neue Arbeitsplätze spendieren. Als Berlin über Nacht die Mauer verlor und gleich darauf seine Subventionen, da gab es ein böses Erwachen. Erst 1989 endete hier die Nachkriegszeit. Erst da begriff Berlin in schmerzhaften Erkenntnisschleifen, dass es Berlin nicht mehr gab – das dramatische, tolle Berlin, auf das einst die Völker der Welt geschaut hatten.

In den ersten, wilden Jahren nach 1989 wurde es zu New Berlin hochgeschrieben. Man zog hin. Bezog Posten. Projektierte. Baute. Bis man merkte, es reicht nicht. Man wässert den märkischen Sand mit Millionen, und er schluckt sie einfach weg. Kaum dreht man sich um, ist der Sand wieder trocken. So ausgedörrt ist diese Stadt, so durstig nach Sinn und Geld, sie schluckt und schluckt, aber das große Berlin-Ding kommt nicht ins Fliegen.

Da kippte die Stimmung. Nun wurde Berlin runtergeschrieben. Seine Taxifahrer. Seine Faulenzerjugend mit Latte Macchiato. Sein Partybürgermeister mit den übernächtigt wirkenden Augen. Es war die Saison der Berlin-Hasstraktate. Bleibt nur die Frage: Warum sind trotzdem (fast) alle da?

Denn der Sog hält an. Er nimmt sogar zu. 1,6 Millionen Berliner haben die Stadt seit 1991 verlassen, 1,66 Millionen sind nach Berlin gezogen – ein regelrechter Bevölkerungsaustausch! Mit jeder Milliarde, die Berlin sich mehr verschuldet, so scheint es, fliegen der Stadt weltweit mehr Herzen zu. Ist es die Lust am Ruinen-Chic einer ehemaligen Weltstadt? Ein Riecher für billige Mieten? Oder doch die Ahnung, am richtigen Ort zu sein? Sind die Berlin-Ritter der Neunziger zu ungeduldig gewesen – kommt Berlins Stunde erst noch?

Es gibt Leute, die das glauben. Sie ziehen sogar her, eine bunte Karawane aus Malern, Rentnern, Investoren. Londoner, New Yorker, Pariser Künstler, die es leid sind, dort allein für die exorbitanten Mieten zu arbeiten. Westdeutsche Pensionäre, die ihr kulturfernes Reihenhaus gegen eine Berliner Citywohnung tauschen, um wenigstens jetzt dort zu sein, wo die Opern wohnen, die Theater und großen Museen. Auch alte Gegner kaufen sich ein. Mancher Bonner aus der Initiative gegen den Regierungsumzug besitzt heute eine Wohnung im seinerzeit heftig bekämpften Berlin. Amerikanische Schauspieler, die hier gedreht haben, bleiben, weil sie die Stadt mögen – das Zart-Rohe ihrer alten Häuser und jungen Gesichter, den schrundigen Charme von Berlin.

Natürlich, die Preise. Nirgendwo in der westlichen Welt kann man so hip und so opulent in einer Großstadt leben und zugleich so billig. Nirgendwo ist Raum so preiswert. Wenn Berlin irgendetwas im Überfluss hat, dann sind es Zeit und Raum.

Eine kleine Wanderung die Schönhauser Allee hinab ruft asiatische Städtebilder auf, mit ihrem Kleinstgewerbe als Überlebenskunst, ihren Rucksacktouristen auf der Suche nach hübschen Mädchen und billigem Bier. Bangkok-Bilder. Ein winziges Internet- und Telefon-Café. Eine „China-Perle“. Tattoostudios. Massagen. Szenekleidung für den Hippie, den Hooligan. Ein Waffenladen, ein Reste-Shop, ein Backpacker-Hostel. Weitere Mini-Cafés plus Computer, plus dies und das. Die Geschäftstätigkeit spielt sich auf dem Stuhl vor der Tür in der Sonne ab, mit Zigarette und dem unvermeidlichen Latte Macchiato.

So ungefähr hatten sich Ettina und Sonja das auch vorgestellt, als sie ihre Ausbildung zur Modedesignerin abschlossen hatten. Ein Label namens Klonk, ein Laden am Helmholtzplatz in Prenzlauer Berg für 300 Euro, eine kleine, ausgefallene Kollektion. Sachen, die man selber trägt. Kunden, mit denen man stundenlang plaudert. Ein nettes, entspanntes Berliner Leben unter ihresgleichen.

Das lief auch so, bis eines Tages dieser Japaner eintrat, der eigentlich Franzose ist. Dieser Yann kam herein, weil ihm die Dekoration gefiel. Laub unter der Decke, Papierradios hingen herab, Papierfernseher. Die Kleider gefielen ihm auch. Er arbeite, erklärte er den beiden jungen Frauen, für eine japanische Firma mit 70 Modeläden in Japan und weiteren in New York und anderswo und bot ihnen an, nach Tokyo zu kommen, um dort einen neuen Laden zu gestalten. So einen wie hier. Wie in Berlin.

Es gibt ihn jetzt, die beiden haben ihn in Tokyo eingerichtet. „Wut Berlin“ heißt er. Und aus Ettina und Sonja sind Frau Schultze und Frau Lotz geworden. Geschäftsfrauen, 26 und 31 Jahre alt, mit einem neuen Laden in Mitte. Es ist erst ein Anfang. Man wird sehen. Aber es ist der Sprung vom low budget am Prenzlauer Berg zum high speed einer kleinen globalen Berliner Modefirma.

„Wir sind professioneller geworden“, sagen sie, „härter.“ Erstaunlich, wie selbstverständlich die zwei weltweit agieren. Der ständige aufgeregte Vergleich mit New York, den das Berlin der achtziger Jahre pflegte, käme ihnen nur noch komisch vor. Viele ihrer Freunde leben in New York oder kommen von dort und leben jetzt hier. Oder eben aus Tokyo oder sonstwo. „Wenn du in New York sagst, du bist aus Berlin, erntest du ein aufgeregtes, begeistertes ‚Wow!‘.“ So sind die Verhältnisse heute.

Noch etwas ist erstaunlich – die illusionslose Klarheit, mit der die beiden sich selbst sehen. „Wir verkaufen den Berlin-Hype in die Welt.“

Ettina Schultze hat ein eigenartiges Phänomen beobachtet. „Sein Ruf eilt Berlin voraus. Er schafft erst die Realität, die normalerweise einen Ruf nach sich zieht. Er bringt Leute überall in der Welt dazu, in der Stadt etwas zu sehen, was erst dadurch wahr wird, dass sie diesem Ruf folgen.“

In einem Café am schattigen Ludwigkirchplatz im Westen der Stadt sitzt früh um neun, wenn die Berliner Luft noch frisch ist, ein nachdenklicher Investmentmakler mit Sitz in Wien und Berlin. Er kommt gerade aus London. „Die Ersten“, sagt Peter Forstner, „die im großen Stil in Berlin Immobilien kauften, waren Amerikaner und Briten. Inzwischen kauft fast ganz Europa, besonders aktiv sind Dänen, Iren und Österreicher, aber auch Russen und Israelis. Meist Fondsgesellschaften.”

So stark sei die Nachfrage, dass Berlin derzeit einen regelrechten Verkäufermarkt habe. „Wer verkauft, kann wählerisch sein: lieber an Briten oder lieber an Wiener?“

Mentale Eigenheiten hat Forstner auch bei den Investoren festgestellt. „Angelsachsen kaufen nicht gern in Kreuzberg, wegen des hohen Ausländeranteils. Sie bevorzugen Prenzlauer Berg und Mitte. Österreichern ist das egal.“

Was aber darf man aus diesem globalen Run auf Berlin schließen? Ist er die Morgenröte eines bevorstehenden Berliner Aufschwungs oder bloß ein Irrtum des dummen Kapitals – es rennt halt immer dahin, wo die Preise am tiefsten sind, und wundert sich hinterher, dass der Gewinn ausbleibt?

„Eigentlich“, sagt Forstner, „würde man die Finger von Berlin lassen. Eigentlich sollte man denken: Investor, sei vorsichtig! Wer soll die Mieten zahlen, die du brauchst, um Gewinn zu machen? Berlins Kaufkraft ist schwach, seine demografische Kurve sinkt, und die vielen Graffiti schrecken zusätzlich ab. In Hamburg ist alles picobello, da laufen Citypfleger herum und picken jeden Schnipsel auf.“

Eigentlich. Aber? „Aber der Berlin-Tourismus boomt. Die Berliner Hotellerie boomt, sie hat die größten Zuwächse in Europa.“ Es werden sogar noch mehr Luxushotels gebaut, das Hotel de Rome beim Gendarmenmarkt zum Beispiel. Der Sog also, der Mythos, der Hype: Wir fahren nach Berlin! Ist es das? Funktionieren auch Investoren so?

Was soll ein ehrlicher Makler dazu sagen, er ist kein Prophet. „Berlin“, sagt Forstner, „hat nach wie vor etwas Ambivalentes. Ich denke, es dauert noch einmal zehn Jahre, bis das Gesicht des neuen Berlin erkennbar wird. Aber es ist klar, Investoren, die jetzt hingehen, schauen auf etwas anderes als auf die nackte Analyse der Lage.“

Etwas anderes. So ähnlich haben es Ettina und Sonja auch genannt. So gesehen, sind Investoren und Subkultur Brüder im Geiste der Berliner Utopie. Es lässt sich billig einkaufen in der Berliner Ambivalenz, wenn man Millionen hat – und genauso nett darin schaukeln, wenn man jung ist und illiquid, aber voller Ideen. Läden wie Klonk gibt es viele. Wer es ganz billig will und das Risiko kurzfristiger Kündigung nicht scheut, wählt einen Zwischennutzungsvertrag in einem unsanierten Platten- oder Altbau in Friedrichshain, Prenzlauer Berg und allmählich auch im Wedding. Die Tete der jungen Kreativen zieht von Viertel zu Viertel, von Straße zu Straße, und der Tross der Makler und Investoren folgt ihr auf dem Fuße und vermietet die sanierten Lagen an Geschäftstüchtigere: Kanzleien, Galerien, indische oder Thai-Restaurants. So war es in New York in den achtziger Jahren auch.

Armut als Standortvorteil also. Billig plus Mythos. Der Berliner Bürgermeister Klaus Wowereit drückt es etwas partymäßiger aus: „Arm, aber sexy“ hieß sein Vorschlag für die Identität des neuen Berlin in der Glamour-Zeitschrift Gala. Ist das die Kapitulationserklärung einer Stadt, die einmal Metropole war? Vielleicht ist es einfach die Berliner Art, in der Realität anzukommen. Jedenfalls ist daran abzulesen, wie sehr Berlin sich gerade wandelt.

Erstens, Armut schändet nicht mehr. Berlin schämt sich nicht mehr dafür. Es trägt seine monetäre Minderbemitteltheit wie einen Nylonnerz.

Zweitens, die Zeit der Phrasen ist vorbei. Die Parolen der Berlin-Propaganda der neunziger Jahre – Brücke zwischen Ost und West, bald vier, fünf, sechs Millionen Einwohner – sind verrauscht. Berlin ist, was es ist. Nur, was ist es?

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Es ist Sommer, und an so einem Abend auf einem großstädtischen Platz zu sitzen, den man selbst geschaffen hat, unter den eigenen hohen Kolonnaden, ist ein rares Vergnügen. Sein Architekt Hans Kollhoff ist von seinem Büro am nahen Kurfürstendamm herübergeschlendert, um beim Italiener seine Lieblingspasta zu ordern, die mit Spargel, und von den Kolonnaden aus das Treiben der Anwohner und ihrer Kinder zu betrachten, die sich bis in die Nacht hier tummeln. Mal nachschauen, wie es seiner Piazza so geht. Er hat sie in langjährigem Ringen gegen die Grünen durchgesetzt, die hier alles grün haben wollten, was sonst?

Kollhoff ist einer der Architekten, die das neue Berlin geprägt haben. Im Streit darum, wie es aussehen solle, vertritt er eine feste Position: die Stadt der Häuser; das steinerne Haus in steinerner Stadt – als Adresse unter Adressen. Nicht lauter bunte, beziehungslose Kunstwerke egomanischer Architekten. Es ist das Plädoyer für eine Kleiderordnung. Im Grunde eine moralische Position, denn die ästhetische Regel macht Gesellschaft erst möglich.

Wollte man sich seine ideale Stadt figürlich vorstellen, es wäre eine Gesellschaft in Anzug und Abendkleid, und wer sich unterscheiden wollte, täte es, indem sie oder er besonders gut sitzende Kleider trüge. Nicht etwa dadurch, dass man sich piercte und tätowierte. Sein Berliner Wahrzeichen ist der hochelegant aufragende, dunkelrote Kopfbau am Potsdamer Platz – backsteingotische Antithese des gläsernen Sony-Hochhauses vis-à-vis.

Und dann sagt Hans Kollhoff auf die Frage, ob er eine Chance für Berlin sehe:

„Ja. Las Vegas.“

Am ehesten habe Berlin Chancen, wenn es werde wie die Spielerstadt in Nevada. „Es liegt in der Pampa wie Las Vegas in der Wüste. Dieses Artifizielle muss man unterstützen.“

Aber ist die totale Künstlichkeit von Las Vegas nicht das gerade Gegenteil einer konservativen Idee wie der von der steinernen Stadt?

„Was man seit hundert Jahren beklagt“, sagt Kollhoff, „dass Berlin nicht die Substanz von London hat, das ist doch der Vorteil. Bildungslabor und Vergnügungsort, diese Mischung hat etwas ungeheuer Zeitgenössisches. Kreativität plus billige Mieten. Ich bin viel in Italien. Die Italiener sind ganz wild auf Berlin.“

Für ihn liegen die Prioritäten auf der Hand: „Festspiele ausbauen. Ein Opernfestival, warum nicht? Kein Opernhaus schließen, das ist doch das Pfund, das wir haben. Und die Spielbank stärken – eine richtig große nach Berlin. Ich weiß, es gibt ein föderalistisches Problem, wenn ich das sage, dann rebelliert Baden-Baden.“ Aber die Hauptstadt sei ausgeschlachtet worden nach dem Krieg. „Der föderalistische Erfolg der Bundesrepublik ging auf Kosten Berlins.“ Regierung, Banken, Industrie – alles flüchtete westwärts. Bonn, Frankfurt, München, Stuttgart teilten das Fell des Berliner Bären und legten so den Grund neuen Reichtums.

„Das kann und will niemand rückgängig machen, aber es müsste doch einen Ausgleich geben.“ Das sagte sich auch der Regierende Bürgermeister und klagte beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, der Bund möge Berlins seit der Wiedervereinigung explodierte, auf sagenhafte 60 Milliarden Euro angewachsene Schulden tilgen – die Stadt allein könne das nicht schaffen, trotz des harten Sparkurses ihres Finanzsenators Thilo Sarrazin. Das Urteil wird noch in diesem Sommer erwartet.

Was hält Kollhoff eigentlich von seinem Bürgermeister und dessen Partystil?

„Wowereit – im Grunde sind doch alle froh, dass er da ist. Er tut mehr für die Stadt, als es scheint. Er hat Berlin aus dem Ost-West-Mief herausgeholt, das ist seine historische Leistung. Er lebt und agiert jenseits von Ost-West-Kategorien.“

Ein leicht verwegenes Lächeln erscheint. „Wowereit ist ein Las-Vegas-Typ.“

Hans Kollhoff meint das anerkennend.

Wie porös die Stadt immer noch ist! Nach einer Bauwelle ohnegleichen. Wer vom Brandenburger Tor südwärts geht, in Richtung des neuen Potsdamer und Leipziger Platzes, dem bietet sich eine Aussicht auf offenen Horizont. Als ende die Stadt hinter der Grasschneise, die sich zwischen den Hochhäusern beider Plätze erstreckt. Berlin scheint abzubrechen dort hinten. Ein ähnlicher Effekt stellt sich ein, wenn man aus dem neuen Bahnhof tritt (der übrigens nicht Hauptbahnhof heißen sollte wie in Bielefeld, sondern Berlin Central). Man steht vor einer weiten, asphaltierten Fläche, die an einen leeren Kirmesplatz erinnert. In der Ferne Kuppeln: Reichstag, Sony-Center, allerlei ambulante Festzelte. Auf einem steht „Afrika“.

Solche fatamorganische Leeren tun sich vielerorts auf. Nein, Berlin sitzt nicht auf Taille. Es ist sich selbst zu weit, noch immer. So groß war die Stadt einmal gewesen, das politische, gesellschaftliche, industrielle Zentrum eines bedeutenden Reiches, dass die Jahre seit 1990, trotz riesiger Investitionen, nicht gereicht haben, sie wieder prall auszufüllen. Mit Leben, Unternehmungen, Gebäuden.

Selbst da, wo es gelang, die Leere wenigstens baulich zu füllen wie in der hochverdichteten Friedrichstraße, die im Sommer vor Hitze, Handygesumm und Absatzgeklacker flirrt wie irgendeine Großstadtavenue der Welt, stehen Etagen leer. Da ist die Leere nur in große steinerne Kästen gepackt. Das ist unschön für jene Investoren, die in den baunärrischen Neunzigern ihr Geld in die vielen neuen Bürohäuser steckten – und schön für die, die jetzt erst kommen, wo alles hübsch billig ist.

Es gibt aber mindestens zwei Berlin – das innerhalb der Ringbahn und das außerhalb. Sie trennt die innere Stadt, in der Mythen und Investitionen blühen und die Berlin-Bilder in alle Welt funkt, von der äußeren Stadt, wo Hotels »Berliner Bär« heißen und die Leute so uncoolen Tätigkeiten nachgehen wie Motorräder und Reihenhäuser bauen und im Gartencenter Geranien verkaufen.

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Hier draußen ist sogar noch Industrie. Alle sind nicht fort. Gero Wiese, der Geschäftsführer von Gillette, erklärt in seinem holzgetäfelten Besprechungsraum aus den dreißiger Jahren, wie das geht. Gillette ist eine deutsch-amerikanische Firma seit der Vorkriegszeit, heute gehört sie zu Procter & Gamble. Simpel gesagt, versorgt Boston die Bärte der westlichen und Berlin-Tempelhof die Bärte der östlichen Hemisphäre mit Rasierklingen. Jeweils gut tausend Leute arbeiten in diesen beiden Stammwerken. Auch Gillette verlagerte nach dem Mauerbau, wie viele Berliner Unternehmen, einige technische Abläufe nach Westdeutschland. Aber schon vier Jahre später, 1965, kehrte die Firma nach West-Berlin zurück. „Es war übertrieben, zu gehen.“

Und heute – die Globalisierung, die niedrigen Arbeitskosten in Osteuropa?

Wiese nickt. Sicher. Dann erklärt er die spezielle Situation seiner Firma. „Unsere Maschinen, die Rasierklingen herstellen, enthalten zwanzig Computer. Dafür brauchen wir hochqualifizierte Facharbeiter, die haben wir hier, in Osteuropa müssten wir erst langwierig welche heranbilden.“

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Die Regieanweisung für die letzte Begegnung lautet: Mitternacht. Penthouse, offene Tür zur Terrasse. Weiter Blick über Berlin. Weißwein. Ernst Freiberger sitzt am Tisch und denkt übers Leben nach, was zählt und was nicht, und über Berlin – was geht und was nicht.

Mit dem Leben ist es einfach. Als Freiberger viel, sehr viel erreicht hatte als bayerisch-berlinischer Unternehmer – sein Lebensmittelimperium verkauft, das riesige Areal am Spreebogen entwickelt, 150.000 Quadratmeter Bruttogeschossfläche, damals das größte Bauprojekt der Stadt, vermietet unter anderem ans Bundesinnenministerium –, da sagte er sich, jetzt gehe ich auf Reisen, ein Jahr lang. Es wurden dann zweieinhalb Jahre daraus: 1998 bis 2001. Er hat alle Kontinente besucht, neunzig Länder, hat Tagebuch geführt und über jede Reise ein Buch geschrieben. „Nur für mich.“ Und – was zählt?

„Von meinen Reisen bleiben nicht der schönste Strand, die schönsten Frauen, das schönste Essen. Es bleiben Familie, Religion, Gastfreundschaft.“

Es bleibt ein Mann um die fünfzig, der mit seiner Firmengruppe jährlich Hunderte Millionen Euro umgesetzt hat und der sich nebenher um das Gespräch der Weltreligionen müht, deren Vertreter er alljährlich in seinen bayerischen Heimatort Amerang lädt, eine Frucht seiner Reisen.

Und was ist, was wird mit Berlin, seiner Wahlheimat seit bald dreißig Jahren?

„Ich bin kräftig dabei, in Berlin zu investieren.“ Wenn er sich frage, wovon die Stadt leben solle, dann fielen Industrie und Finanzdienstleistungen ja wohl aus. Diese Claims haben sich andere Städte gesichert. Und so beschreiben die Berliner Unternehmungen des Ernst Freiberger den Horizont dessen, was hier eine Chance haben könnte.

„Wachstumsmärkte sind der kreative Bereich, der Tourismus – und der Medizinbereich. Da kenne ich mich aus, ich besitze in Bayern eine Gruppe von Krankenhäusern. Nun bin ich dabei, in Berlin eine Klinik zu planen.“

Etwas Großes, versteht sich. Außerdem baut er sein Spreebogenareal um, das Hotel, die Gastronomie, ein Ärztezentrum. Macht zusammen 500 bis 600 Arbeitsplätze. Dazu kommt sein neues Großprojekt: das frühere Haupttelegrafenamt an der Museumsinsel. „Ich habe Helmut Jahn gebeten, die Planung zu übernehmen.“ Den bekannten Chicagoer Architekten. „Solche Dinge würde ich nicht tun, wenn ich nicht an Berlin glauben würde.“

Das Berlin, das sich abzeichnet, ist eines nach der Industrie und nach den Subventionen. Und nach den Illusionen der neunziger Jahre. Es wird eine Stadt sein, die mit dem nachkriegsdeutschen Ideal der überall ähnlichen Lebensverhältnisse, ja der Gleichheit nichts mehr zu tun haben wird. Ein Teil Bangkok. Ein Teil Las Vegas. Ein Teil Tempelhof. Ein Teil Berlin, D.C. Und wenn es gut geht, ein Teil High Tech obendrein. Mit Leuten wie Professor Bernd Michel. Mit Herzzentren und anderen hochspezialisierten Kliniken, die reiche Patienten aus aller Welt anziehen. Mit Festivals, Opern und Luxushotels für die Abende und die Nächte. Und mit tätowierten Jungs aus der Vorstadt, die an der Terrasse des Adlon vorbeistromern und die Gäste anstarren und obszöne Bemerkungen machen. Ja, auch das. Das gibt es jetzt schon.

Das Aushalten der Gegensätze zwischen Arm und Schwerreich, Schrebergarten und place to be, absoluter Welt und absoluter Provinz, neuen Russen und alten Zehlendorfern, Anatoliern und Philharmonikern übt die Stadt seit sechzehn Jahren. Sie ist ganz gut im Training. Sie hat sich eine ordentliche Portion Lakonie und Gleichmut neu antrainiert, alte Berliner Tugenden.

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Es muss nicht rummelig zugehen wie in den Tagen der Fußballweltmeisterschaft, es kann ausgesprochen gutbürgerlich sein. Spielen nicht heute Abend die Philharmoniker in der Waldbühne? Die Berliner lieben diese jährlichen Sommerkonzerte auf ihre Art. Aus Picknickkörben holen sie gebratene Hähnchenteile, Rotwein und gute Laune hervor, wenn die Sonne untergeht und sich das Himmelsblau immer dunkler färbt, und dann, ganz am Ende, spielt das Orchester die Berliner Luft, und alles pfeift den schmissigen Refrain. Dann ist Berlin selig, ganz bei sich selbst, dann ist es Avustribüne und Sportpalastwalzer und Herbert von Karajan, alles auf einmal. Viva Las Vegas!

Quelle: Wolfgang Büscher, „Stadt der Spieler“, Die Zeit, 6. Juli 2006.