Kurzbeschreibung

Im September 1991 überfielen Rechtsradikale Asylbewerberunterkünfte im sächsischen Hoyerswerda. Die Ausschreitungen waren der Auftakt zu einer Welle fremdenfeindlicher Gewalt in den frühen 1990er Jahren, die sich sowohl in ost- als auch in westdeutschen Städten verbreitete. 1992 wurden 17 Menschen Opfer der Gewalt gegen Migranten, darunter zwei türkische Frauen und ein Mädchen, die in dem unten geschilderten Brandanschlag im schleswig-holsteinischen Mölln ums Leben kamen. Nach diesem tödlichen Angriff ging die Gewalt weiter: im Mai 1993 setzten Skinheads im nordrhein-westfälischen Solingen das Haus einer türkischen Familie in Brand, wobei fünf Menschen, darunter drei Kinder, getötet wurden.

Brandanschlag auf türkische Familien in Mölln (24. November 1992)

  • Klaus Brill

Quelle

„Meine Kinder, die verbrennen!“

Für drei Menschen gibt es kein Entrinnen nach dem Brandanschlag in Mölln

Irgend jemand hat Blumen hingestellt, dunkelrote Nelken und weiße Margeriten darunter. Lose zusammengebunden lehnen sie dort, wo einmal die Schaufensterauslage war. Bis vor zwei Jahren befand sich hier ein türkisches Lebensmittelgeschäft, danach war das Gebäude nur noch Wohnhaus. Jetzt ist das Glas des Schaufensters zertrümmert, Schaufel, Besen und Schutt liegen vor dem Haus, nahe dem rauchgeschwärzten Eingang stehen zwei große schwarze Ledertaschen, wahrscheinlich von der Kripo. In einer Gondel am Ende einer ausgefahrenen Feuerwehrleiter schweben zwei Feuerwehrmänner über dem von Ziegeln entblößten, von Qualm geschwärzten Dachgestühl.

Dies ist das Haus Nummer neun in der Mühlenstraße von Mölln, ein hellgetünchtes Backsteingebäude. Es liegt mitten im Zentrum des Städtchens, das mit seinen roten Ziegelsteinbauten und Pflasterstraßen durchaus taugt als Abziehbild einer deutschen Provinzidylle und das mit Till Eulenspiegel auch einen passenden Schutzpatron sich erwählt hat. Von der Mühlenstraße sind es nur ein paar hundert Schritte bis zur vorweihnachtlich dekorierten Hauptstraße und zum Marktplatz.

In der Mühlenstraße Nummer neun wohnte bis Sonntag nacht seit mehr als 20 Jahren eine türkische Großfamilie mit Namen Arslan, zuletzt rund 25 Personen. „Die waren immer nett und zuvorkommend“, sagt Erika Fröhlich, eine 70jährige Nachbarin. „Mit denen haben wir nie Ärger gehabt, im Gegenteil.“ Hilfe erfuhr die gehbehinderte alte Dame von den türkischen Nachbarn, beim Schneeschippen beispielsweise. Darum ist für Erika Fröhlich wie für andere Nachbarn auch das Verbrechern, das an den Bewohnern des Hauses Mühlenstraße Nummer neun verübt worden ist, unfaßbar. „Das müßte aufhören, dieser Haß“, sagt sie.

Mitten in Mölln ist in der Nacht zum Montag von vermutlich rechtsradikalen Tätern ein Brandanschlag ohne Beispiel verübt worden, zunächst in einem von acht türkischen und kurdischen Familien mit insgesamt 43 Personen bewohnten Haus in der Ratzeburgerstraße Nummer 13, dann, eine halbe Stunde später, in der Mühlenstraße Nummer neun. Weinende und verängstigte Frauen und Männer standen in den Fenstern der beiden angezündeten Häuser, andere liefen auf der Straße zusammen.

In der Mühlenstraße schleppten junge Männer Decken herbei, hielten sie auf und animierten die in den oberen Stockwerken Eingeschlossenen, herunterzuspringen. Mehrere taten dies und konnten sich so retten, wenn auch teilweise nur mit Verletzungen, andere entkamen auf andere Art. Auch Kinder wurden in die Decken geworfen und entgingen so dem Verderben. „Ganz oben stand eine Frau, die schrie: Meine Kinder, die verbrennen“, berichtet der 19jährige Mustafa, der im Pyjama aus der Nachbarschaft zur Mühlenstraße Nummer neun gerannt war. Für drei Menschen – eine 51jährige Frau, ein zehnjähriges Mädchen und eine 20jährige – kam jede Hilfe zu spät. Die 51jährige Frau ist die Mutter der Großfamilie Arslan, sie wohnte seit zwei Jahrzehnten in Mölln. Das Kind, ihre Enkelin Gillis, war in der Mühlenstraße geboren und aufgewachsen, die 20jährige war zu Besuch aus der Türkei.

Unter den gut 17 000 Einwohnern Möllns leben derzeit 150 türkische Familien, rund 700 Personen. Türkische junge Männer treffen sich regelmäßig in einer Teestube in der Altstadt, so auch an diesem Montag. Mit ernsten Gesichtern sitzen sie an den Tischen, unter ihnen sind eine ganze Reihe, die in der Nacht als Helfer das grausige Geschehen miterlebt haben. Der Bürgermeister war am Vormittag in dem Lokal und hat mit den Anwesenden darüber gesprochen, was mit den nun obdachlos gewordenen Bewohnern der ausgebrannten Häuser werden solle.

Am Mittag kommt ein junger Mann gelaufen und teilt mit, daß sich in der Hauptstraße eine Demonstration formiert habe. Schüler des Berufsschulzentrums haben spontan beschlossen, den Unterricht vorzeitig zu beenden und ihren Protest kundzutun. Nicht alle machen mit, aber mehr als 200 sind es doch, die im Nieselregen schweigend durch die Stadt ziehen. „Wird sich die deutsche Geschichte wiederholen?“, steht auf einem schnell gefertigten Karton. Der Zug schwillt an auf etwa 500 Menschen, Passanten gesellen sich zu den Demonstrierenden, auch einige der zahlreich angereisten Journalisten, und auch die aus Kiel herbeigeeilte Präsidentin des schleswig-holsteinischen Landtages, Ute Erdsiek-Rave (SPD). Auch sie ist sichtlich schockiert über das Verbrechen, dessen Urheber zunächst unbekannt bleiben. Lediglich ein Nachbar des Hauses in der Ratzeburger Straße weiß zu berichten, daß er kurz vor Ausbruch des Brandes die quietschenden Reifen eines davonfahrenden Autos gehört habe.

Quelle: Klaus Brill, „Meine Kinder, die verbrennen!“, Süddeutsche Zeitung, 24. November 1992.