Quelle
„Jetzt weiß ich, daß ich hier keine wahren Freunde habe“
Das Selbstbewußtsein der Türken mischt sich nun mit Verbitterung, Zorn und Aggression
Die mörderischen Überfälle von Mölln und Solingen haben die Türken zutiefst geschockt. Auch in den vergangenen Jahren hatte es Tote auf seiten der Türken gegeben. Ramazan Avci in Hamburg, Mete Ekşi in Berlin, Mehmet Demiral in Mülheim wurden von Rechtsextremisten angegriffen und getötet. Aber sie wurden einzeln attackiert; oft kam es zu einem Streit oder zu einer Rauferei, man konnte wenigstens in die Augen seiner Mörder schauen und versuchen, sich zu wehren. Mit den nächtlichen feigen Brandstiftern hat das Ganze eine neue Qualität gewonnen.
Schon Mölln hatte man kommen sehen. Seit zweieinhalb Jahren wurden in Deutschland (Ost und West) Asylbewerberunterkünfte angezündet. Der Fehler der Türken war, daß sie den wachsenden Haß nicht auf sich bezogen und dachten, der richte sich in erster Linie gegen die Asylbewerber. Nach Demonstrationen konnte man Stimmen hören wie „Gott sei Dank sind wir von solchen Überfällen verschont“ oder „wie gut, daß die Deutschen eine schreckliche Vergangenheit haben, aus der sie lernen können“.
Die Überfälle von Mölln und Solingen fallen in eine Zeit, die für die Türken in Deutschland in verschiedener Hinsicht eine Wende markiert. Da ist zum einen die neue Rolle der Türkei in ihrer Region und die politischen sowie ökonomischen Verbesserungen in der Heimat, die ein neues Selbstbewußtsein bei der türkischen Bevölkerung erzeugt haben. Die Türken sind niemals ein Kolonialvolk gewesen und haben in ihrer Geschichte keine Unterwerfung erlitten. Als Nation fühlen sie sich stark und stolz. Die zweite große Veränderung, die in den letzten Jahren eintrat, ist, daß die Mehrheit der Türken in Deutschland sich für ein endgültiges Verbleiben hier entschieden hat. Vor allem die zweite und dritte Generation, die hier aufgewachsen ist, betrachtet Deutschland als ihre Heimat und wollen es nicht mehr verlassen.
Trauer und Zorn sind die richtigen Worte, um die Stimmung unter den Türken in Deutschland zu beschreiben. Sie trauern nicht nur um die toten Landsleute, sondern auch um sich selbst, um ihre in Deutschland verbrachten Jahre und um ihre Zukunft. Die Brücken in die Heimat wurden in dem Glauben, hier auf Dauer heimisch werden zu können, abgebrochen. Jetzt blicken sie in einen tiefen Abgrund, der sich vor ihnen öffnet und so urdeutsche Namen trägt wie Hoyerswerda, Hünxe, Rostock, Mölln und Solingen. Die Mörder haben große Keile zwischen die Türken und die Deutschen geschlagen.
„Ich hatte die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt, nun ziehe ich den Antrag zurück“, sagt eine junge Frau. Eine andere leidet unter Depressionen, seit sie den deutschen Paß bekam. Ein anderer sagt: „Ich dachte, ich käme mit den Deutschen gut aus, jetzt weiß ich, daß ich hier keine wahren Freunde habe.“ Vor allem die Jüngeren sind tief getroffen. „Unsere Eltern haben hier gearbeitet, sie zahlten Steuern und konsumierten viel, sie trugen zum Wirtschaftswunder der Deutschen bei. Wir finanzieren heute den Aufbau in Ostdeutschland mit. Ist das der Lohn dafür?“
Das starke Selbstbewußtsein der Landsleute mischt sich mit Verbitterung, Zorn und Aggression. Die Mehrheit der Türken kann die Straßenschlachten, die sich manche in den vergangenen Tagen in einigen deutschen Städten lieferten, nicht gutheißen. Gegen Gewalt sind sie alle. Aber um der Ehrlichkeit willen muß man sagen, daß sie sich auch alle ein bißchen über Autobahnblockaden und Sitzstreiks freuen. Endlich kommt ein Signal, das besagt: „Mit uns könnt ihr nicht alles machen, einmal ist Schluß!“ Darin herrscht große Übereinkunft. Und auch darin, daß die deutschen Politiker viel zu lange gezögert haben. Die kühnsten Behauptungen werden aufgestellt, daß beispielsweise der Staat absichtlich so lange gezögert hat, die Rechtsradikalen hart zu bestrafen. Daß man insgeheim auf die abschreckende Funktion der Überfälle auf potentielle Asylbewerber hoffte. Daß man gedacht hat: „Vielleicht ekeln wir damit einige Ausländer aus dem Land, so daß die Arbeitsplätze für die Ostdeutschen frei werden.“ Diese Vermutungen sind unter den Türken in Deutschland zur Zeit durchaus ein Gesprächsthema. Hier muß man auch etwas über das Verhalten von Bundeskanzler Kohl aussagen: Daß der ehrwürdige Bundespräsident heute an den Trauerfeierlichkeiten teilnimmt, ist begrüßenswert, aber die Türken hätten viel mehr begrüßt, wenn nicht der oberste Repräsentant dieses Staates, sondern der oberste aktive Politiker daran teilgenommen und ein Wort an die Türken gerichtet hätte.
Es sollte niemanden wundern, wenn ausländische Jugendliche heute ihrer Wut freien Lauf lassen. Was hat der Staat diesen jungen Menschen, die sich ihren Geburtsort nicht selbst aussuchen konnten, denn gegeben, daß er heute von ihnen Ruhe und Besonnenheit verlangt? Hat der Staat sie nicht von Anfang an zum „Problem“ abgestempelt und sie größtenteils der Obhut von Sozialarbeitern und Pädagogen überlassen? Warum wird ein hier geborener Jugendlicher türkischer Abstammung nicht automatisch eingebürgert? Warum muß er sich am frühen Morgen mit Asylbewerbern in eine Schlange vor der Ausländerbehörde stellen, um den wichtigen Stempel zu bekommen? Welche Spuren hinterlassen solche Schikanen in den Seelen junger Menschen? Warum werden sie immer noch als „Ausländer“ bezeichnet, obwohl sie keine andere Heimat mehr haben als die deutsche?
Die in der Ausweglosigkeit wurzelnde Wut der jungen Türken wird gewiß von links- und rechtsgerichteten türkischen Fanatikern ausgenutzt. Diese Gruppierungen, ein Überbleibsel der 70er Jahre, haben verschwindend geringe Mitgliederzahlen und üben sonst keinen Einfluß auf die türkische Bevölkerung in Deutschland aus. Das belegen auch die Verfassungsschutzberichte. Die Extremisten vermögen aber in solchen explosiven Zeiten junge Leute zu beeinflussen. Sprüche wie „Wir lassen uns nicht lebendig verbrennen“ kann man in diesen Tagen nicht nur auf Demonstrationen in Solingen hören, sondern auch in Berliner Kaffeehäusern. Wer sich heute über zerbrochene Scheiben empört, hätte jedoch auch am vergangenen Wochenende aus Empörung über verbrannte Menschen auf die Straße gehen müssen, um glaubwürdig zu sein.
Die Mehrheit der Türken in Deutschland will hier bleiben und in Ruhe leben. Sie hat es satt, immer mit dem Hauptwort „Problem“ in einem Atemzug genannt zu werden. Es muß endlich Schluß sein mit der Rede von der sogenannten „Ausländerproblematik“. Die „Ausländer“ haben Namen wie Ahmet und Ayşe, sie haben Gesichter und individuelle Lebensläufe und sie erwarten von der deutschen Gesellschaft, daß sie sie endlich akzeptiert und ihnen die schon viel zu lange vorenthaltenen Bürgerrechte gewährt. Durch die Anerkennung der Doppelstaatsbürgerschaft, durch schnelle unbürokratische Einbürgerungen würde ein Signal gesetzt werden. Die Türken wissen mittlerweile sehr gut, daß in einer Demokratie Menschen ohne Wahlrecht nur Bürger zweiter Klasse sind. Aus dieser Recht- und Stimmlosigkeit wollen sie ausbrechen.
Wie ein Jugendlicher allerdings treffend formuliert, „schauen die Neonazis nicht auf den Paß, bevor sie jemanden ermorden“. Die deutsche Gesellschaft muß mit den Mördern und Gewalttätern in ihren Reihen endlich abrechnen. Vom Innenminister wird erwartet, daß er den Polizeiapparat sowie den Verfassungsschutz so effektiv wie möglich einsetzt, um neue Brandstiftungen zu verhindern. Die jungen Täter, die erst nach dem Anschlag gefaßt werden, sollen sich nicht mehr in der Gewißheit wiegen, daß die Mehrheit des deutschen Volkes hinter ihnen steht. Nicht nur abschreckende Strafen sind erforderlich sondern auch die Ausschließung der Neonazis aus der Gemeinschaft.
Daß die Türken in Deutschland nackte Angst haben, wollen viele aus Stolz nicht zugeben. Diese Angst ist real. Jeder Türke, der in einer verschlafenen deutschen Kleinstadt in einem rein von Türken bewohnten Haus lebt, kann sich seines Lebens nicht mehr sicher sein. Den Landsleuten wird empfohlen, in der Dunkelheit U- und S-Bahnen zu meiden, jeden Verdächtigen, der ums Haus schleicht, sofort der Polizei zu melden und bei jedem Überfall Anzeige zu erstatten. Ein deutscher Freund, der lange in der Türkei lebte, sagte einmal: „Ihr Türken und wir Deutschen haben eins gemeinsam: Wir wollen beide unbedingt von allen geliebt werden.“ Allerdings: Dazu muß man erst einmal am Leben bleiben.
Quelle: Dilek Zaptcioglu-Rogge, „Jetzt weiß ich, dass ich hier keine wahren Freunde habe“, Der Tagesspiegel, 3. Juni 1993.