Quelle
Im Reich der Stille
Für Chinesen ist es eine Traumreise: Autobahnfahren in Deutschland. Möglichst schnell, in einem großen Mercedes. Sie fahren durch ein Land, das alt aussieht.
Da ist es, das Schild. Guofeng Wang hat seit 30 Kilometern darauf gewartet. Eigentlich schon seit seiner Ankunft gestern, eher noch, seit er die Reiseunterlagen nach China geschickt bekam – vielleicht sogar sein ganzes Autofahrerleben lang. Und jetzt zieht es so klein und beiläufig am Straßenrand vorbei, dass man es fast übersieht, das weiße Schild mit den vier diagonalen Streifen, diese deutsche Sehenswürdigkeit: das Ende der Geschwindigkeitsbegrenzung.
Guofeng Wang, 58 Jahre alt, geboren, aufgewachsen und wohlhabend geworden in Shanghai, gibt Gas. Der Wagen schlingert ein wenig, die Tachonadel steigt auf 120… chinesische Höchstgeschwindigkeit… 130… auf der Autobahn zerstäubt der Regen, auf der Motorhaube spiegelt sich der Stern… 140… 150… draußen teilt sich der Spessart links und rechts der Straße, Wolkenfetzen hängen in den dunklen Tannen… 160… 170… in den Tälern das rot-weiße Geschachtel der Einfamilienhäuser. Deutschland sieht sehr deutsch aus an diesem Morgen, das Auto riecht sehr nach Auto, und die Frauenstimme vom Navigationssystem sagt: „Prepare to follow the road.“
Wang fährt jetzt 180.
Zwei dunkle Mercedes-Limousinen jagen von Frankfurt nach Würzburg. Hinter getönten Scheiben sitzen fünf Herren aus Peking und Shanghai, alle mit digitalen Kameras vor ihren Bäuchen und Mobiltelefonen in ihren Gürtelhalftern. Nach jeder Zigarettenpause wechseln sie sich beim Fahren ab, Guofeng Wang, Qing Li, Pingsheng Ding, Xin Lui und Kan Chen – nicht steinreich, aber sehr gehobener Mittelstand. Je 2000 Euro haben sie beim deutsch-chinesischen Reiseunternehmen Caissa für einen Urlaub bezahlt, der in China als Traumreise gilt: Autobahnfahren in Deutschland. Frankfurt, Würzburg, München, Baden-Baden, Frankfurt in sechs Tagen. Deutschland, schnell, schnell, mit kurzen Stopps an Postkartenklischees. Die Männer bereisen einen Mythos, der für sie schwer zu begreifen ist wegen seiner seltsamen Mischung aus Mittelalter und Hochmoderne. Deutschland – der Reiseleiter Jun Ding sagt „Doi Tse Lan“ dazu –, Doi Tse Lan also, das sind zum einen die Märchen der Brüder Grimm, die die fünf Männer als Kinder in der Schule lasen. Und das sind zum anderen schnelle, teure Autos, die sie jetzt auch in China kaufen können. Vor allem aber ist Doi Tse Lan dieses verzagte Land, in dem der Transrapid erfunden wurde, aber nicht gebaut wird. Er fährt nun in Shanghai.
Guofeng Wang und seine vier Begleiter beschleunigen in einem entschleunigten Land. Denn sie sind nicht nur in diesem Augenblick, auf dieser Autobahn, auf der Überholspur. Sie sind es auch global. Fünf Männer aus einem Land, das gerade sein erstes Wirtschaftswunder erlebt, reisen durch ein Land, das sein letztes Wirtschaftswunder hinter sich zu haben glaubt. Fünf Männer aus einem Land der Zuversicht reisen durch ein Land des Missmuts.
Guofeng Wang muss bremsen jetzt. Vor ihm ist ein Wohnmobil ausgeschert. Es sind sehr viele Wohnmobile unterwegs in Doi Tse Lan.
Auf dem Frankfurter Flughafen, einen Tag ist das her, hatten sie ihre Rollköfferchen zum Mietwagenstand gezogen, dem ersten Ziel dieser Reise. Mehrmals ging das Sehnsuchtswort Mercedes über den Tresen, schließlich kamen die Schlüssel mit dem Stern zurück. Als die Dame am Schalter fragte, worauf sie sich am meisten freuten, hatten sie schüchtern genickt, gelächelt und nur ein Wort gesagt:
„Speed.“
Fünf Männer waren wieder Kinder. Fünf Männer in einer indifferenten Kleidungsmischung aus dunkelblauen Anzugjacketts, schwarzen Buntfaltenhosen und Hawaii-Hemden, ein Stilmix, der vermuten lässt, dass eine Gesellschaft nach Jahren der Uniformierung noch ihr neues Outfit sucht. Zum Unterschreiben der Verträge setzte Guofeng Wang schließlich eine dicke braune Brille auf, eine Art Parteitagsbrille. Ein Relikt des alten China.
Draußen standen die Autos schwarz glänzend in der Sonne, zweimal E-Klasse. Eine blonde Hostess stellte die Klimaanlage auf 22 Grad und das Navigationssystem auf englische Sprache, dann erklärte sie die Gangschaltung, wobei der sechste Gang von besonderem Interesse war. Die Männer machten erste Fotos, und jeder setzte sich einmal auf den Fahrersitz, Qing Li, der in Shanghai einen Mazda 6 besitzt, Pingsheng Ding, der einen alten VW Santana fährt, und Guofeng Wang, der sich vor zwei Jahren sein erstes Auto kaufte, einen GM Sail auf Opel-Corsa-Basis. Dann ließen sich auch Xin Liu und Kan Chen vorsichtig in die Sitze gleiten, die beiden Jüngsten, die noch keine Autos haben. Chen, ein kleiner, schmaler Mann, 32 Jahre alt, fuhr einen der Wagen vorsichtig zwei Meter aus der Parklücke heraus und wieder zurück. Einmal drückte er versehentlich auf die Hupe. Es gab viel nervöses Lachen.
Schließlich erklärte Reiseführer Ding noch einmal die Rechts-vor-links-Regel, man trat die Zigaretten aus, stieg ein. Die Türen machten plopp-plopp, ruckelnd fuhren die Wagen an und reihten sich wenig später auf der Autobahn ein. Auf einer deutschen Autobahn! Dreispurig! Mit den berühmten blau-weißen Schildern! Es war genau wie in der Werbebroschüre, die sie schon im Reisebüro in China erhalten hatten: auf dem Titel der Slogan „Im Autoland Auto fahren, ohne Limit!“, darunter ein Mercedes vor Schloss Neuschwanstein, dann 30 Seiten mit 70 Bildern, von denen kein einziges eine Sehenswürdigkeit zeigt, sondern nur gelbe und blaue Straßenschilder. Auffahrten, Abfahrten, Autobahnkreuze, als ob es kein Deutschland jenseits der Leitplanken gäbe. Auf der letzten Seite noch 39 wichtige Begriffe für den Urlaub; der erste lautet „Polizeikontrolle“. Weitere Hinweise im Prospekt: Das Hotelpersonal in Deutschland ist ungewöhnlich unfreundlich. In Restaurants muss auch der Tee bezahlt werden. Und: nicht schmatzen oder schlürfen.
So präpariert, fuhr der kleine Konvoi unter einem dramatischen Gewitterhimmel in das deutsche Abenteuer, am Horizont duckte sich die Silhouette von Frankfurt am Main, von der der Reedereimanager Qing Li später sagen sollte, sie sei ziemlich mickrig, verglichen mit der Skyline von Shanghai.
Nach drei Kilometern überschritten die Chinesen dann zum ersten Mal die 120, nach vier Kilometern gingen sie mit 140 das erste Mal auf die linke Spur, nach sechs Kilometern wurden sie dort zum ersten Mal von einem BMW verdrängt, und nach neun Kilometern standen sie in ihrem ersten deutschen Stau.
Würzburg. Das Navigationssystem leitet die Gruppe von der Autobahn hinauf zur Festung Marienburg, dort steigen die fünf aus ihren klimatisierten Reisekapseln und laufen hinauf zur Burg, die Hände hinterm Rücken verschränkt. Ein Regenschauer hat die Stadt gewaschen, nun glänzt sie in der Sonne mit ihren Kirchtürmen, Sonnenuhren, Wetterhähnen. Irgendwo schlägt eine Glocke an.
Guofeng Wang schaut auf den Main hinab und auf die Heile-Welt-Kulisse, auf die engen Gassen und die Tauben auf den roten Dächern. Hoch sitzen die Augenbrauen in Wangs Stirn, was seinem Gesicht einen staunenden Ausdruck verleiht. Plötzlich sagt er, das liebe er an Doi Tse Lan: „Blue sky, white clouds, fresh air. Silence.“ Blauer Himmel, weiße Wolken, frische Luft. Stille.
In China sind das zurzeit Zeichen von Luxus und Rückständigkeit zugleich. Schon jetzt ist China der zweitgrößte Ölkonsument der Erde, die Küstenstädte gleißen im Neonlicht der Verschwendung. Mittlerweile muss die Regierung den Strom rationieren, weil der Verbrauch schneller wächst, als Kraftwerke gebaut werden können. Frische Luft und Stille gibt es zwar noch auf dem Land, aber nicht mehr in Shanghai, wo 14,5 Millionen Menschen am chinesischen Wirtschaftswunder arbeiten, 29000 Einwohner pro Quadratkilometer. Im Hamburg sind es 2250. Für Guofeng Wang ist Deutschland ein beschauliches, entleertes Land.
Eine Reise, aus europäischer Sicht war das in den vergangenen Jahrzehnten der neugierige Blick auf rückständigere Länder – mal arrogant, mal mitleidig, immer aber mit der Gewissheit, nach zwei Wochen in die hochentwickelte Heimat zurückkehren zu können. Stets war es der Westen, der sich derart überlegen über die anderen beugte. Jetzt steht Guofeng Wang über Würzburg und blickt hinab auf eine Welt voller Kopfsteinpflaster und dicker Mauern, mit Efeu bewachsen. Kein Schornstein, keine Chipfabrik, kein Wolkenkratzer, nichts. Und die Sozialleistungen sieht man von hier oben nicht.
Reiseleiter Ding holt zu einer weiten Armbewegung aus, zeichnet mit der Hand die Hügel am Horizont nach und erklärt seinen Gästen die deutsche Kleinstaaterei mit ihren Kurfürsten und Königen. „Im Prinzip haben die Deutschen deshalb auch die EU gegründet und den Euro eingeführt“, sagt er dann. „Damit sie mithalten können mit Amerika, mit Japan, vielleicht auch mit China.“
Bedächtiges Nicken.
Plötzlich ist Globalisierung mehr als nur ein Wort in der Antrittsrede des Bundespräsidenten. Die Welten verschieben sich; Guofeng Wang macht mit seiner Olympus-Kamera gerade eine Momentaufnahme. Ist es die Zukunft oder die Vergangenheit, die er fotografiert? Besichtigen hier Vertreter einer neuen Hochkultur die Relikte einer alten Hochkultur? Es ist ja überall zu lesen in Doi Tse Lan: Das 19. Jahrhundert war das europäische, das 20. Jahrhundert war das amerikanische – und das 21. Jahrhundert wird das asiatische sein.
Aber stimmt das überhaupt, Herr Wang?
[…]
Die Straßen sind voll an diesem Tag. Wieder Wohnmobile. Kombis. Fahrräder auf Autodächern. Doi Tse Lan macht Urlaub. Ach ja, die Deutschen haben ja 30 Tage Urlaub! Jedes Jahr? Guofeng Wang hat 15. Im letzten Jahr hat er nicht einen genommen, im vorletzten auch nicht. „Too much work“, sagt er. Er arbeitet von Montag bis Samstag. Sicher hätte die FDP den Mann aus der Volksrepublik gern als Redner auf ihrem Parteitag.
Am Horizont erscheinen bleistiftspitz die Türme von Rothenburg ob der Tauber. „Prepare to keep right“, sagt das Navigationssystem… 100… 90… 80… gelbes Ortseingangsschild wie im Prospekt, und wieder altes Europa. Chinesische Reisegruppen begegnen japanischen Reisegruppen, japanische Reisegruppen begegnen amerikanischen Reisegruppen, durch die Gassen schallt das Hufgeklapper von Touristenkutschen. Kan Chen fotografiert Pferdeäpfel. Ein bis zur Unkenntlichkeit getunter BMW lenkt von den anderen Sehenswürdigkeiten ab. In den Geschäften stehen Nussknacker und Bierkrüge, in den Schaufenstern spiegelt sich das ratlose Gesicht von Qing Li. Er zögert kurz und fragt dann, ob in Rothenburg noch Menschen wohnen.
So rauschen sie durch die Tage. Von Würzburg nach Rothenburg und von Rothenburg nach Dinkelsbühl, ein wie vor Jahrhunderten konserviertes Städtchen, Leuchtreklame verboten. Im Rathaus überreicht der Oberbürgermeister den „kinesischen Freunden“, wie er sie nennt, Urkunden, die bezeugen, dass seine Gäste die Romantische Straße befahren haben. Fast devot bittet er dann, »allen Kollegen in Kina« von Dinkelsbühl zu erzählen. Es gibt schon jetzt mehr asiatische als amerikanische Touristen in seiner Stadt, viele Japaner, doch die Chinesen sind die Zukunft. Seit zwei Jahren erst dürfen sie privat nach Deutschland reisen. 2020 rechnet man weltweit mit 130 Millionen reisenden Chinesen pro Jahr. Da will Dinkelsbühl nicht abseits stehen. Der Bürgermeister gibt der Vorhut der 130 Millionen schnell noch einen Bildband mit.
Dann rasen sie weiter nach Süden, mit 240 Stundenkilometern der Alpenwand am Horizont entgegen, in lang gezogenen Kurven durchs grüne Allgäu, das aussieht, als habe ein Tourismusmanager jedem Hügel ein Kirchlein aufgesetzt. Die Gruppe besichtigt Neuschwanstein, das Münchner Hofbräuhaus, dann fährt sie in den Schwarzwald. Inmitten von Rentnern, die ihre Knirps-Regenschirme wie Schlagstöcke tragen, schieben sich die fünf zum Titisee. Guofeng Wang kauft eine Kuckuksuhr und eine Armbanduhr für 400 Euro, Pingsheng Ding eine Kuckucksuhr für 200 Euro. Ihre Tage beginnen um acht Uhr morgens mit dem Hotelfrühstück und enden spätestens um zehn Uhr abends auf den Zimmern. Sie gehen an sechs Tagen fünfmal chinesisch essen, schlürfen und schmatzen ein bisschen und überprüfen dauernd die Bilder ihrer Digitalkameras. Niemand schert aus der Gruppe aus.
[…]
In Metzingen im Nordschwarzwald, inmitten der deutschen Provinz, lärmt nun die Welt. Noch eine Nacht in Deutschland, noch eine Chance, sich ein imageträchtiges Stück westlicher Welt zu kaufen. Der wahre Ortskern Metzingens besteht aus einem Parkhaus und einem Betonblock, an dessen Fassade HUGO BOSS geschrieben steht, Fabrikverkauf. Nebenan bieten Levi’s, Nike und Esprit Waren zweiter Wahl an. Aus den Umkleidekabinen dringt Russisch, Japanisch, Chinesisch. Schwäbelnde Frauen rollen metallene Kleiderstangen voller Anzüge über grau gestrichenen Beton. Männer tragen Einkaufstaschen, so groß wie bei Ikea. Frauen mit Etiketten an den Ärmeln drehen sich vor Spiegeln. Die fünf reden jetzt schnell, ihr Chinesisch wird hart, fast peitschenartig. Reiseleiter Ding hat ihnen 90 Minuten gegeben. Sie reiben Stoffe zwischen Daumen und Zeigefinger. Sie blättern durch knisternd verpackte Oberhemden. China wird Markenland, neue Schichten suchen sich neue Symbole. Guofeng Wang, der Mann, der früher Mao-Blau trug, setzt wieder seine Parteitagsbrille auf und studiert die Etiketten. Qing Li sagt, Boss sei derzeit ein reizvoller Begriff in China: „Boss like boss, you understand?“
[…]
Am Ende zieht Li eine Kreditkarte aus seinem Versace-Portemonnaie und zahlt 244 Euro für fünf Poloshirts und zwei Paar Nike-Turnschuhe. Er liegt damit fast genau im für das Reiseland Deutschland so lukrativen Durchschnitt: Chinesische Touristen geben hier pro Tag 240 Euro aus, europäische nur 100. Und er bestätigt ein Sprichwort, das besagt, künftig werde China die Produktionsstätte der Welt sein, Amerika die Kornkammer und Europa, wenn es gut geht, die Boutique.
Der letzte Tag. Noch einmal spannt sich der Himmel hoch und blau über Doi Tse Lan. Rechts der A5 sonnt sich der Schwarzwald, und zwei dunkle Mercedes-Limousinen rollen »wieder mit großer Geschwindigkeit nach Frankfurt«, so hatte es auch im Prospekt gestanden. Der Tacho zeigt 150… 160… 170… im Radio beginnen die Nachrichten. Der Sprecher berichtet vom Streit über die Frage, ob die Deutschen künftig 40 Stunden pro Woche arbeiten sollen. Guofeng Wang, der müde von 1400 Kilometern auf der Rückbank sitzt, würde das auch gern schaffen: nur 40 Stunden pro Woche arbeiten. Draußen greift der Wind in die Kornfelder. Wang sagt, dass er bald wiederkommen will nach Doi Tse Lan. Mit seiner Frau. Er möchte, dass sie den blauen Himmel kennen lernt, die weißen Wolken, die frische Luft, die Stille.
Quelle: Henning Sußebach, „Im Reich der Stille“, Die Zeit, Nr. 31, 22. Juli 2004