Kurzbeschreibung

Der Verfasser dieses Artikels bemerkt, dass die Suche nach dem perfekten Urlaubserlebnis für die Deutschen oft mit einer schweren Enttäuschung ende. Er argumentiert, unrealistische Erwartungen hätten zu einer Kultur des Beschwerens geführt, die ihren deutlichen und eloquenten Ausdruck in der Zahl schriftlicher Beschwerden an Reiseveranstalter finde. Der Autor findet Ironie in dem Umstand, dass in vielen Fällen der Wunsch der Deutschen, durch Reisen ihren Horizont zu erweitern erst ihre tatsächliche Engstirnigkeit enthülle. Sein weit ausholender Artikel endet mit einer Beschreibung des Tourismus in den neuen Bundesländern.

Deutsche Urlaubsgewohnheiten (1. April 2004)

  • Thomas Niederberghaus

Quelle

Wie die Deutschen Urlaub machen

„Urlauben“ ist ein sehr deutsches Tätigkeitswort. Wir mühen uns um Horizonterweiterung, ziehen wegen Kakerlaken vor Gericht. Und glauben: Touristen, das sind immer die anderen.

Hunderttausende deutscher Urlauber setzen sich nach den Ferien an den Computer, um ihrem Herzen Luft zu machen. Die wortreich zu Papier gebrachten Beschwerden lesen sich zum Beispiel so: „Aus Altersgründen, ich bin 61, meine Frau 59, hatten wir das ebenerdige Appartement Nr. 234 genommen. Da das Haus nur mit Deutschen belegt war, ließen wir die Balkontür nachts offen. Am Morgen des dritten Tages wurde nicht nur ich, sondern viele Nachbarn durch die grellen Schreie meiner Frau geweckt, weil ein großer Schäferhund über die Brüstung gesprungen war und meiner Frau im Schlaf die Beine geleckt hat. Sie war dadurch nicht nur minutenlang gelähmt, sondern so geschockt, dass der ganze Urlaub buchstäblich vor den Hund ging. Da Sie für die Sicherheit Ihrer Gäste verantwortlich sind, fordere ich für dieses Erlebnis von Ihnen zunächst mindestens den halben Reisepreis für meine Frau zurück.“

Auf keinen anderen Tagen des Jahres lastet ein derartiger Erwartungsdruck wie auf dem Urlaub, sieht man von Weihnachten einmal ab. Es ist gut möglich, in der Ferienzeit in eine Krise zu stürzen oder einer Depression zu verfallen. Was psychologisch schwer zu lösen ist, wird schnell auf die äußeren Umstände projiziert. Krabbelt eine Kakerlake durchs Bad oder hängt ein Gecko kopfüber von der Zimmerdecke im Hotel, folgt Monate später der Gang zum Kadi. Kleinste Irritationen führen zu großen Beschwerden. Man macht sich keine Vorstellung davon, was in den Rechtsabteilungen deutscher Touristik-Konzerne los ist. Aus Reise-Angestellten sind Beschwerdemanager geworden, denn die Bundesbürger haben sich den Titel „Weltmeister des Klagens“ redlich erarbeitet.

Deutschland war die erste Nation in Europa, die das Reiserecht im Bürgerlichen Gesetzbuch verankerte. Damit sollten handfeste Kriterien für eine Klage geschaffen werden und einzelne Rechtsstreitigkeiten weniger dem richterlichen Ermessen überlassen bleiben. Der Jurist Otto Tempel erfand dazu die so genannte Frankfurter Tabelle. Akribisch listet sie auf, wie viel Prozent vom Reisepreis angesichts welcher Mängel zurückgefordert werden können. Ungeziefer bringt 10 bis 50 Prozent. Kakerlaken zählen jedoch erst bei mehr als 10 Exemplaren.

Keine andere Nation beharrt auf der perfekten Urlaubswelt so sehr wie die deutsche, und kaum eine andere Nation kennt Urlaub als Tätigkeitswort: Urlauben! Wer urlaubt, legt nicht die Hände in den Schoß; die Linguistik zeigt, dass Urlaub mitnichten das Gleiche bedeutet wie Ferien, also Ruhe- oder Feiertage. Der aktive Urlaub beginnt damit, die Frankfurter Tabelle in den Koffer zu packen (manche legen die Kakerlaken gleich dazu) und vor Ort nach Missständen statt nach Schönheiten zu suchen. Angefeuert wird das deutsche Beschwerdetum von der Boulevardpresse. In schöner Regelmäßigkeit veröffentlicht sie kurz vor Beginn der Reisesaison die Frankfurter Tabelle wie ein Grundrecht auf Rabatt. Was sie nicht veröffentlicht, ist die Tatsache, dass nur ein Bruchteil aller Klagen den erhofften Erfolg bringt.

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Kleine Touristen-Typologie

Dass Reiseveranstalter dazu nicht gern Auskunft erteilen, liegt auf der Hand; solche Fälle können dunkle Schatten auf die Sonnenseite des Unternehmens werfen. „100 Meter zum Meer“, wie es in Katalogen steht, bedeutet nämlich nicht zwingend „100 Meter zum Strand“ – das Prekäre am Kauf einer Urlaubsreise liegt im Gegensatz zum Kauf einer Stereoanlage darin, dass das Produkt weder vor noch während des Kaufes, vielleicht nicht einmal danach angemessen beurteilt werden kann. Die Beschwerdemanager sagen nur so viel: Geklagt wird in allen Bevölkerungsschichten. Der Berliner Klempnergeselle macht sein vermeintliches Urlaubsrecht genauso geltend wie die Bielefelder Arztgattin, der Hamburger New-Economy-Manager wie der Geschichtslehrer aus Passau.

Diese vier Charaktere sind mit Bedacht gewählt. Verkörpern sie doch in beispielhafter Weise jene vier unterschiedlichen Urlaubertypen, mit denen Reiseveranstalter bei der Erstellung ihrer Angebote rechnen.

Da wäre zunächst der Berliner Klempnergeselle als Pauschalurlauber. Er reist im Sommer nach Mallorca oder im Winter schon mal in den Diani-Beach-Club in Kenia, wobei er auch im Februar auf der Fahrt zum Flughafen Berlin-Schönefeld kurze Hosen und weiße Söckchen trägt. Am Strand erweitert er seinen Horizont, macht Tauchschnupperkurse oder eine Tagessafari in den Tsavo-Nationalpark. Die Massai, die abends beim Büfett einmal trommelnd um die Tische tanzen, sind für ihn noch „echte Neger“, und nach Rückkehr aus dem Urlaub begrüßt er die Kollegen mit: „Jambo, jambo!“

Die Bielefelder Arztgattin würde so etwas nicht tun. Sie ist Kreativurlauberin, bucht zwar pauschal, aber eben doch irgendwie besonders. Als die Kinder noch klein waren, kraxelte die Familie einmal durch die Berge von Nepal. Eine echte Strapaze! Danach ging es nur noch in den Robinson-Club, Kinderbetreuung inklusive. Ist der Nachwuchs aus dem Haus und findet der Mann keine Praxisvertretung, aquarelliert naturtrüb sie in der Provence oder töpfert in der Toskana. Mit dem Alter ist sie empfindlicher geworden, was das Essen angeht, und braun zu sein ist für sie nicht mehr ein Zeichen gelungener Erholung. In ihrem Gepäck hat sie im Zweifelsfall einen John le Carré, und auf dem Rückflug kauft sie im Duty-Free-Shop Bodylotion von Biotherm für ihre Söhne ein.

Der Passauer Geschichtslehrer hat im Hartschalenkoffer neben dem Baedeker auch ein Aufzeichnungsgerät für das Gespräch mit dem Reiseleiter sowie Stift und Block und einen kleinen Zollstock. Er ist der klassische Bildungsurlauber. In Ägypten misst er die Grabkammern aus, und vierzig Grad Celsius bringen ihn nicht davon ab, seinen Wollpullunder anzubehalten. Sieht er im Hotel einen Schuhputzer, läuft er schnell weiter und denkt: Ich bin doch kein Neokolonialist!

Von dem dynamischen Hamburger New-Economy-Manager wird er stets etwas belächelt, denn wer wirklich etwas auf sich hält, ist heutzutage Trendurlauber. Dessen Ziele sind Hotels, egal, in welchem Land sie stehen, Hauptsache, sie sind „designt“, haben eine Lounge und beschallen ihn 24 Stunden lang mit Chillout-Musik. Men’s Health liegt im Samsonite des Trendurlaubers ganz oben – Urlaub heißt für ihn auch, am Waschbrettbauch zu arbeiten. Der Trendurlauber hat sein 3500-Euro-Mountainbike oder sein Surfboard zum Wellenreiten dabei. Er reist schon mal allein, was ihn an Studentenzeiten erinnert, als er noch auf eigene Faust mit Brustbeutel unterwegs war.

Erinnerungsfoto mit Totenverbrennung

Es gehört zum Ritual, dass sich der Individualtourist geradezu zwanghaft vom Pauschaltouristen abgrenzt. Er selbst würde sich nie als Tourist bezeichnen, sondern reklamiert für sich den vornehmer klingenden Begriff Reisender. Bemerkt er in einem türkischen Badeort am Nachbartisch deutsche Pauschaltouristen, spricht er selbst nur noch Englisch. Und hört er von Klagen wie der des bayerischen Ehepaares, das sich von den Einheimischen in Afrika gestört fühlte, sagt er: Igitt, ist das menschenverachtend! Er selbst bringt es mit Leichtigkeit fertig, einer Totenverbrennung auf Bali beizuwohnen und dabei für ein Foto vor dem offenen Sarg mit Priester und Tänzerinnen zu posieren, auf dem die Balinesen keine Miene verziehen. Allerdings kann er sich nicht vorstellen, was passieren würde, wenn Rucksacktouristen aus Borneo eine Münsterländer Aussegnungshalle stürmten und die Kamera in Anschlag brächten, während der Pastor noch das Gegrüßet seist Du Maria betete. Natürlich beschimpft der deutsche Individualtourist den deutschen Pauschaltouristen, der seine Gewohnheiten um die Welt trage und sich in Hotelanlagen verbarrikadiere.

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Das von der Werbung propagierte „Bacardi-Feeling“ ist zum Beispiel eine Chimäre. Nur eine Minderheit (etwa fünf bis sechs Prozent der deutschen Urlauber) macht seit je eine Fernreise ins außereuropäische Ausland. Spanien hingegen ist seit 1986 das begehrteste ausländische Urlaubsziel der Deutschen. Allein nach Mallorca flogen 1975 bereits sieben Millionen Bundesbürger, 1995 waren es dreizehn Millionen. Für den Endverbraucher haben diese Daten vor allem einen Vorteil: Dem Individualreisenden weisen sie den Weg in Länder, in denen er die deutschen Massen meiden kann, den deutschen Massen weisen sie den Weg zu sich selbst.

Aus Angst vor Terror hinters Lenkrad

Die deutlichste Wende im Reiseverhalten der Bundesbürger zeigt sich jedoch in der Wiederentdeckung des Autos. 36 von 100 Urlaubern nutzten im vergangenen Jahr den Pkw, in der kommenden Saison will fast jede zweite Familie mit Kindern im Auto verreisen. Angst vor terroristischen Anschlägen und ökonomische Zwänge werden in der 20. Tourismusanalyse des Hamburger BAT Freizeit-Forschungsinstituts als Gründe angegeben. Und möglicherweise heißt es dann wieder wie in den fünfziger Jahren: „Ohne Autoverkehr kein Fremdenverkehr“.

Damals fuhren die Westdeutschen vorzugsweise an den Gardasee, aus dem Radio schepperte Lili Marleen. Die Campingplätze waren Massenlager, von Stacheldraht umzäunt. Protestplakate mit Aufschriften wie „Überall ist Gitter und das ist bitter, überall ist Draht und das ist schad“ konnten den Kollektivspaß jedoch nicht trüben. Man wusch und bügelte und kochte unter den Augen der Mitmenschen. Klassenlos zeigte sich die Gesellschaft in Badehose – von den Campingplätzen in der DDR oder Bulgarien unterschied sich das nicht wesentlich. Kaum waren die Weitgereisten zurück, tropften in Partykellern die Kerzen von den italienischen Korbflaschen. Hausfrauen tauschten Spaghettirezepte aus.

Was in den fünfziger Jahren mit der Fahrt im VW-Käfer über die Alpenpässe begann, ist jetzt vollendet: Der deutsche Bürger ist zu Europas willigstem Konsumenten des Urlaubsglücks geworden. Im Urlaub gönnt er sich so etwas wie Leben, während er im Alltag verbissen sein Geld und seine Emotionen anspart. Deutschland ist das Land, das ihn mit Steuern und Arbeit und Praxisgebühren und Kürzungen quält, und daran möchte er in den schönsten Wochen des Jahres nicht erinnert werden. Deutschland ist nicht das Land des süßen Nichtstuns, der großen Auftritte seiner Kellner, des leichten Flirts. Vielleicht sind sich die Deutschen deshalb in nichts so einig wie darin, dass der Urlaub im Ausland am schönsten ist. Mit anderen Worten: Sie müssen flüchten, und das tun sie auch.

Früher Castro, heute Westerwelle

Im Schnitt verbringen 70 von 100 Deutschen ihren Haupturlaub im Ausland. Dass es im zurückliegenden Jahr etwas weniger waren (62 Prozent), lag vornehmlich daran, dass vielen das Geld fehlte. Geldnot geben als Grund vor allem die Ostdeutschen dafür an, zu Hause zu bleiben. Deren Reiselust ist etwa so schnell gesunken, wie die Arbeitslosenzahlen gestiegen sind. Dabei waren sie vor 1989 nicht minder mobil als die Westdeutschen, wie Heike Bähre in ihrer wissenschaftlichen Arbeit Tourismuspolitik in der Systemtransformation schreibt.

Ostdeutsche waren offen für die Welt, nur war die Welt nicht offen für sie. Neben Bulgarien, Rumänien und der damaligen Tschechoslowakei konnten sie sich nur im eigenen Land erholen. Dafür jedoch wurde vom Staat alles getan. Reisen sollte für jeden möglich sein. Dass jeder Betrieb ein eigenes Ferienheim zu unterhalten hatte, war ökonomisch ebenso töricht wie die Tatsache, dass Einheimische in den Kaufhallen „an der Schlange der Urlauber vorbei zur Kasse marschierten und bevorzugt bedient wurden“. Die staatlich geförderte Mangelwirtschaft führte zu obskuren Konflikten. Eine Ostberliner Verkäuferin von Unterhosen und Kindersocken beklagte sich zum Beispiel in einem Brief über den „touristischen Abverkauf bestimmter Sortimente durch ausländische, vor allem polnische Bürger“.

Klaus Wenzel hat die Wende ebenso gut überstanden wie sein Hotel Neptun in Warnemünde an der Ostsee. Als riesiger Betonklotz ragt es in den Himmel, alle Zimmer haben Meeresblick. „Vor der Wende war es hier international, Ägypter kamen, Amerikaner, Australier und Neuseeländer, unsere Angestellten waren dreisprachig geschult“, sagt der Hoteldirektor. In der DDR war das Neptun Vertragshotel der Gewerkschaft, Wenzel empfing Gäste wie Fidel Castro. Heute kommen fast ausschließlich deutsche Gäste – wie zum Beispiel Guido Westerwelle.

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Mit der gleichen Ideologie, mit der die westliche Tourismusindustrie in den sechziger und siebziger Jahren die Entwicklungsländer in Südostasien und Nordafrika zum touristischen Ausverkauf bekehrte („Wir bringen Geld und Arbeit“), zog sie nach dem Fall der Mauer auch in die neuen Bundesländer. Das Hotel Neptun zum Beispiel wechselte als „Steuersparmodell“ bis heute fünfmal den Besitzer. Gleichwohl hat sich die Ostsee, vor allem die Küste in Mecklenburg-Vorpommern, zum beliebtesten inländischen Urlaubsziel der Deutschen entwickelt. Und damit Bayern auf Platz zwei verdrängt.

Nach dem heißen Sommer 2003 mäkelt kaum noch jemand über das schlechte Wetter. Allerdings ist der Deutsche im eigenen Land ein noch schwierigerer Gast als anderswo. Während er unter der Sonne des Südens schon mal eher aus sich herausgeht, ein wenig lockerer und freizügiger wird, bleibt er hierzulande Realist. Er neigt nicht zur Zügellosigkeit und ist, wie es Klaus Wenzel sagt, stets mit der Preis-Leistungs-Schere im Kopf unterwegs. „Da unterscheidet sich der Leipziger nicht vom Hamburger.“ An den Osten des Landes habe der deutsche Urlauber den Anspruch, dass alles billiger sein solle, zu seiner Zufriedenheit müssten Angestellte freundlicher und kompetenter sein als im Westen.

Möglicherweise hat der deutsche Urlauber heute einiges mit dem Comic-Kaufmann Dagobert Duck gemein. Der zieht ohne Gnade und Rücksicht auf Verluste durch die Welt und lebt nach dem Motto: Überstehen ist alles. Nur ist der deutsche Urlauber weniger flexibel als Dagobert Duck. Und vor allem ist er weniger flexibel, als es das Marketing von ihm erwartet. Er setzt sich nicht nur wieder ans Lenkrad des eigenen Autos, sondern zeigt sich auch vor dem Urlaub rührend konservativ. Im Zeitalter des Internet, in dem jedes Hotel und jede Ferienanlage und jeder Reiseveranstalter mit eigener Homepage vertreten ist, holt er sich seine Informationen nach wie vor aus dem Reisebüro.

Er blättert durch die Kataloge der Veranstalter und verlässt sich wie eh und je auf seine eigene Reiseerfahrung. „Selbst für die Info-Elite mit Abitur oder Hochschulabschluss“, schreiben die Hamburger Freizeitforscher, „sind Auskünfte des Reisebüros entscheidungsrelevanter als das Online-Angebot.“

Und nach den Ferien werden sich wieder Hunderttausende von Bundesbürgern an den Computer setzen, um ihrem Herzen Luft zu machen. Denn nichts ist schwerer zu ertragen als eine Reihe von schönen Tagen.

Quelle: Thomas Niederberghaus, „Wie die Deutschen Urlaub machen“, Die Zeit, Nr. 15, 1. April 2004.