Quelle
Die von Helmut Kohl eingeräumten Vorgänge haben der Partei Schaden zugefügt
Den 30. November 1999 haben viele als das Ende der Ära Kohl bezeichnet. Das war der Tag, an dem Helmut Kohl im Präsidium der Partei und vor der Presse eine Erklärung abgab, in der er die politische Verantwortung für eine von den üblichen Konten der Bundesschatzmeisterei praktizierte getrennte Kontenführung übernommen hatte. Und sofort hieß es auch, vielleicht liege in diesem Ende der Ära Kohl auch eine Chance.
So schnell aber kann nur sprechen, wer das volle Ausmaß der Tragik dieses 30. November 1999 nicht an sich heranlässt – der Tragik für Helmut Kohl, der Tragik für die CDU. Diese Tragik wird beim Blick zurück auf das Jahr, auf die vierzehn Monate davor umso deutlicher: Was für eine Niederlage am 27. September 1998 – erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland wurden ein Kanzler und seine Regierung vom Volk abgewählt. Was für Wahlsiege 1999 – die Europawahl haushoch gewonnen, Bremen und Berlin klar gehalten, SPD-Bastionen in Hessen, im Saarland und in Brandenburg gestürmt, absolute Mehrheiten in Thüringen und Sachsen errungen, sensationelle Ergebnisse bei den Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen erzielt. Was für ein Comeback Helmut Kohls – vom abgewählten Kanzler zum Ehrenbürger Europas, umjubelt in Deutschlands Fußgängerzonen, gefeiert am zehnten Jahrestag des 9. November. Und dann das: anonyme Spenden, getrennte Kontenführung, Rückzahlungen, Kohls Erklärung am 30. November 1999, Kohls Aussagen in der ZDF-Sendung „Was nun, Herr Kohl?“.
Die von Kohl eingeräumten Vorgänge haben der Partei Schaden zugefügt. Nicht nur sind ihr für die von ihm angegebenen und angenommenen 1,5 bis 2 Millionen Mark Spenden, die nicht in Rechenschaftsberichten aufgeführt wurden, 50 Pfennig pro Spenden-Mark staatlicher Zuschüsse – also insgesamt bis zu einer Million D-Mark – entgangen; nicht nur drohen ihr Rückzahlungen in Millionenhöhe; die Partei – und nicht nur er allein – muss sich auch dafür rechtfertigen, wie ein solches Vorgehen nach der Flick-Affäre möglich sein konnte. Ein Wort zu halten und dies über Recht und Gesetz zu stellen mag vielleicht bei einem rechtmäßigen Vorgang noch verstanden werden, nicht aber bei einem rechtswidrigen Vorgang. Es geht um die Glaubwürdigkeit Kohls, es geht um die Glaubwürdigkeit der CDU, es geht um die Glaubwürdigkeit politischer Parteien insgesamt.
Kohl hat der Partei gedient. 25 Jahre war er Parteivorsitzender, das ist die halbe Geschichte der CDU. Vier Bundestagswahlen konnte er als Spitzenkandidat gewinnen, 1998 reichte es nicht mehr – nicht mehr für Kohl und nicht mehr für die CDU. Spätestens jetzt war klar, nichts würde mehr so sein, wie es war. Die Zeit des Parteivorsitzenden Kohl war unwiederbringlich vorüber. Nie wieder würde er die CDU als Kanzlerkandidat in eine Bundestagswahl führen können. Seither wird von seinen Leistungen in der Vergangenheit gesprochen, ist von einem Denkmal die Rede – vom Denkmal des Kanzlers des Nato-Doppelbeschlusses gegen die Bedrohung durch die Sowjetunion, des Kanzlers der Einheit, des Kanzlers der europäischen Einigung.
Die Menschen – in der Partei zumal – hängen an Helmut Kohl. Die fünfundzwanzig Jahre des Parteivorsitzenden Kohl werden mit den in Rechenschaftsberichten verschwiegenen Konten mit Sicherheit nicht ausreichend beschrieben. Das reicht vielleicht für das Finanzamt oder die Bundestagsverwaltung, nicht aber für ein Mitglied der Gemeinschaft CDU. Wir haben ganz andere Erfahrungen mit und Erinnerungen an Helmut Kohl. Die Partei hat eine Seele. Deshalb kann es für uns nicht die Alternative „Fehler aufklären“ oder „das Erbe bewahren“ geben. Wenn es um das Bild Helmut Kohls, um seine Leistungen und um die CDU geht, gehört beides zusammen. Denn nur auf einem wahren Fundament kann ein richtiges historisches Bild entstehen. Nur auf einem wahren Fundament kann die Zukunft aufgebaut werden. Diese Erkenntnis muss Helmut Kohl, muss die CDU für sich annehmen. Und nur so wird es der Partei im Übrigen auch gelingen, nicht immer bei jeder neuen Nachricht über eine angebliche Spende angreifbar zu werden, sondern aus dem Schussfeld auch derjenigen zu geraten, die ihr Interesse an der Aufklärung der Vorgänge nur heucheln, diese Vorgänge aber in Wahrheit nur nutzen wollen, um die CDU Deutschlands kaputtzumachen.
Vielleicht ist es nach einem so langen politischen Leben, wie Helmut Kohl es geführt hat, wirklich zu viel verlangt, von heute auf morgen alle Ämter niederzulegen, sich völlig aus der Politik zurückzuziehen und den Nachfolgern, den Jüngeren, das Feld schnell ganz zu überlassen. Und deshalb liegt es auch weniger an Helmut Kohl als an uns, die wir jetzt in der Partei Verantwortung haben, wie wir die neue Zeit angehen. Wir kommen nicht umhin, unsere Zukunft selbst in die Hand zu nehmen. Auch in diesem Jahr haben wir die Wahlen nicht wegen und nicht trotz Helmut Kohl gewonnen. Wir haben sie vielmehr wegen unserer Geschlossenheit und unserer Kampagnen gegen Gerhard Schroeders chaotische Politik gewonnen. Die Partei muss also laufen lernen, muss sich zutrauen, in Zukunft auch ohne ihr altes Schlachtross, wie Helmut Kohl sich oft selbst gerne genannt hat, den Kampf mit dem politischen Gegner aufzunehmen. Sie muss sich wie jemand in der Pubertät von zu Hause lösen, eigene Wege gehen und wird trotzdem immer zu dem stehen, der sie ganz nachhaltig geprägt hat – vielleicht später sogar wieder mehr als heute.
Ein solcher Prozess geht nicht ohne Wunden, ohne Verletzungen. Wie wir in der Partei aber damit umgehen, ob wir dieses scheinbar Undenkbare als Treuebruch verteufeln oder als notwendige, fließende Weiterentwicklung nicht erst seit dem 30. November 1999 begreifen, das wird über unsere Chancen bei den nächsten Wahlen in den Ländern und 2002 im Bund entscheiden. Ausweichen können wir diesem Prozess ohnehin nicht, und Helmut Kohl wäre im Übrigen sicher der Erste, der dies verstünde.
Wenn wir diesen Prozess annehmen, wird unsere Partei sich verändert haben, aber sie wird in ihrem Kern noch dieselbe bleiben – mit großartigen Grundwerten, mit selbstbewussten Mitgliedern, mit einer stolzen Tradition, mit einer Mischung aus Bewahrenswertem und neuen Erfahrungen nach der Ära des Parteivorsitzenden Helmut Kohl – und mit einem Entwurf für die Zukunft.
Quelle: Angela Merkel, „’Die von Helmut Kohl eingeräumten Vorgänge haben der Partei Schaden zugefügt’“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. Dezember 1999, S. 2.