Quelle
Die Einheit als Meisterstück
Helmut Kohl wurde in seinem Politikerleben von vielen unterschätzt. Er war ein Machtpolitiker ohne Wenn und Aber.
In der Nachbetrachtung wird Staatsmännern gerne historische Größe attestiert. Dieses Prädikat verdienten aber nur solche, so der Kulturhistoriker Jacob Burckhardt, deren Handeln auf den Gang der Weltbewegung Einfluss ausgeübt hätte. Das trifft fraglos auf Helmut Kohl zu, den sechsten Bundeskanzler, der von Oktober 1982 bis zum September 1998 das Amt innehatte. Viele, vor allem ausländische Politiker, sahen in Kohl freilich nur einen Übergangskanzler, ein Leichtgewicht. Allein Willy Brandt (SPD) hat nach der Bundestagswahl vom März 1983 geäußert, dass CDU/CSU wohl bis zur Jahrtausendwende die Macht in Händen halten werden. Er sollte fast Recht behalten.
Alle haben Helmut Kohl unterschätzt. Das mag vielleicht auch daran gelegen haben, dass sich dieser trotz unumstößlicher Grundsätze in der Außen- und Innenpolitik nicht so recht fassen ließ. Er verkörperte vieles in einem, wird aber mit dem etwas abschätzigen Begriff eines „Generalisten“ kaum beschrieben. Kohl, ein Mann der Mitte, war kein Nationalist, aber ein Patriot, er hasste politischen Extremismus von rechts bis links, er war konservativ, liberal und modern zugleich, er verkörperte Biedersinn und war dennoch weltoffen, er konnte jovial und schroff sein, aber er ging auch auf die Menschen zu, wusste sie für sich einzunehmen und hatte gerne Gesellschaft um sich.
Gespür für Talente: Das unterschied ihn in vielem vom misstrauischen Einzelgänger Konrad Adenauer (CDU), obwohl er ihn als Vorbild reklamierte, gewiss wegen dessen Führungsstärke. Schon zu Zeiten als rheinland-pfälzischer Ministerpräsident hatte Kohl damit begonnen, eine Runde von Gefolgsleuten um sich zu scharen. Spätestens nach seiner Wahl zum Parteivorsitzenden am 12. Juni 1973 hatte er diesen Kreis immer wieder vergrößert. Aus diesem Umfeld rekrutierten sich danach viele Politiker, die auch ganz genau wussten, dass sie ihren Aufstieg Helmut Kohl verdankten. Darüber hinaus besaß er ein untrügliches Gespür für Talente, denen er eine politische Karriere schmackhaft machte. Rita Süssmuth oder Klaus Töpfer (beide CDU) gehörten etwa dazu und beide gaben neuen Politikfeldern ein Gesicht. 1986 wurde das Bundesumweltministerium geschaffen und das Familienministerium um die Frauenpolitik ergänzt. Wer aber an der Person oder der Politik des späteren Kanzlers Kritik übte, hatte das Ende seiner Karriere schon bald vor Augen. Kohl konnte geben, aber rachsüchtig bei Undank sein.
Kohls Kanzlerschaft ruhte wie bei keinem seiner Vorgänger auf einer erfolgreichen Parteiarbeit. Man wird seine 25-jährige Ära an der Spitze der CDU nicht allein an der Bilanz seiner Regierungsjahre messen können. Im Gegensatz zu Adenauer maß Kohl der Staatspartei eine ganz andere Bedeutung zu und entstaubte sie zusammen mit Kurt Biedenkopf (CDU) erst einmal. Aus dem Kanzlerwahlverein altväterlicher Prägung schuf er eine moderne, sich allen gesellschaftlichen Schichten öffnende Partei. Kohl vermittelte ihr das Gefühl breiter Teilhabe. Er kannte die CDU bis in feinste Verästelungen. Die überraschende Ablösung Heiner Geißlers (CDU) im Spätsommer 1989 kam für Insider deshalb nicht aus heiterem Himmel, hatte sich doch der agile Sozialpolitiker in seiner Rolle als Generalsekretär allzu viel Macht angeeignet und verstand sich quasi als geschäftsführender Parteivorsitzender. Auch Helmut Schmidt (SPD) hat erst am Ende seiner Kanzlerschaft eingesehen, dass es ein Fehler gewesen sei, Brandt 1974 nicht als Parteichef abgelöst zu haben. Wer machtvoller Kanzler sein will, muss stets auch die Partei eindeutig hinter sich wissen.
Der Beginn der Ära Kohl 1982 lief keineswegs rund und war von zahlreichen kleinen Skandalen geprägt. Daran hatte auch der mitunter unüberlegt agierende Kanzler Schuld. Allzu oft verirrte er sich in pathetischen Gefilden und verlor dabei das feine Gefühl für historische Bezüge, etwas ungewöhnlich für eine Person, die als ausgesprochen belesen galt. Gorbatschow sah ihm aber schon bald den Vergleich mit Goebbels nach. Kohl war auch kein überragender Redner. Seine Rhetorik wirkte flach, ja mitunter unbeholfen und bemüht. Eine große Ansprache gibt es mit Ausnahme seines Aufsehen erregenden Fahrplans zur deutschen Einheit am 28. November 1989 nicht. Vielmehr war er ein Mann der Geste, und er wusste um die Kraft der Bilder. Die Aufnahme mit François Mitterrand, Hand in Hand vor dem Beinhaus in Verdun 1984, ging in die Geschichtsbücher ein. Seine eigene Kriegserfahrung hatte ihn tief geprägt. Der Tod seines Bruders Walter 1944 stand ihm vor Augen und der am Rhein Geborene wusste wie kein anderer führender Politiker, dass die Fortschreibung des guten Verhältnisses zu Frankreich das tragende Fundament der Einigung Europas ist.
Kohl musste stets damit leben, dass seine Partei populärer war als er selbst. Zudem hatte er vom Beginn seiner bundespolitischen Karriere an damit zu kämpfen, nicht nur vom mächtigen linksliberalen Hamburger Presseimperium als „Onkel aus der Provinz“ abqualifiziert zu werden. Das Unbehagen fing schon beim Namen an, nicht wissend, dass er sich von dem Beruf des Köhlers herleitete. Die Kampagnen gegen Kohl, die erst in der Phase der sich abzeichnenden Wiedervereinigung zum Stillstand kamen, fielen auf ihre Protagonisten selbst zurück. Zu den größten Fehlern des Magazins „Spiegel“ in den vergangenen Jahren habe gehört, so Augstein später, diesen Kanzler von Anfang an unterschätzt zu haben. Dass man mit Kohl auch gleich Millionen Deutsche verspottete, hatten die Kritiker indessen übersehen. Am Ende war Rudolf Augstein bekehrt. „Chapeau Kanzler“, rief er ihm im Juli 1990 zu.
Gelassener Staatsmann: In der zweiten Hälfte seiner 16 Jahre währenden Kanzlerschaft lernten die Deutschen dann einen Regierungschef kennen, der sich verändert hatte. Aus einer eher spröden, linkisch und wiederholt gereizt wirkenden Persönlichkeit, was sich vor allem in seinem rüden Stil Journalisten gegenüber offenbarte, wurde auf dem Zenit seiner Macht ein gelassener Staatsmann. Zwischen dem rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Helmut Kohl, der 1976 nur knapp als Kanzlerkandidat scheiterte, und dem Bundeskanzler, der 1998 abgewählt wurde, lagen Welten. Auch Kohls einst biederes Sprachgehabe war mitunter geistreicher Rhetorik gewichen, zumal in Pressekonferenzen. Er kam aber erst so richtig an, als er die Schärfe in seinen Reden vermied. Nach 1990 war er weltweit anerkannt und im Ausland beliebter als im eigenen Land. Er trat dort so auf, wie man sich den typischen Deutschen eben nicht vorstellt. Charmant, persönlich bescheiden, im privaten Leben zurückhaltend und er besaß auch nichts von der Kälte oder Besserwisserei eines Adenauer oder Schmidt. Die kleinen europäischen Staaten dankten es ihm. Er habe Luxemburg wie eine Weltmacht behandelt, hieß es jetzt in einer Würdigung. Der Mann, der seine Staatsgäste in die pfälzische Provinz zu regionalen Spezialitäten einlud, verkaufte Machtpolitik als gemütlichen Biedersinn. Dabei wirkte er verlässlich und umgänglich. Ihm nahm Europa das Bekenntnis zu einem vereinten und von Grenzen befreiten Kontinent aus tiefster Überzeugung ab. Kohls Kritiker hatten nie und nimmer damit gerechnet, wie wenig die deutsche Politik tatsächlich aus dem Zuwachs der Vereinigung erlösen sollte.
Helmut Kohl, der gut damit zurechtkam, verkanntester Spitzenpolitiker des Landes zu sein – auch Angela Merkel (CDU) teilte zu Anfang dieses Schicksal –, war indessen ein Machtpolitiker ohne Wenn und Aber. Er stellte alle seine Vorgänger in den Schatten und war ein Mann von großer Durchsetzungskraft. Dass er dabei Geduld an den Tag legen konnte, mutet erstaunlich an, eine Gabe, die seinen frühen Rivalen Rainer Barzel und Franz Josef Strauß (CSU) nicht zueigen war. […]
Die wesentlich durch eine ebenso mutige wie kluge Politik Kohls herbeigeführte Wiedervereinigung war sein Meisterstück. Internationale Rücksichtnahme eingeschlossen, hatte er schnell begriffen, dass die entspanntere Weltlage seit 1985 den Zusammenschluss beider deutscher Staaten möglich machen könnte. Die kurze Frist dazu hat er entschieden genutzt, er hatte, wie er selbst gerne sagte, „Fortune“ gehabt und dabei auch der politischen Zukunft des Kontinents das Wort geredet. Die Überwindung der deutschen Zweistaatlichkeit beendete zudem das Ende der Teilung Europas. Der Visionär Kohl war am Ziel. In seinen damals zu Tage tretenden, mitunter einsamen Entschlüssen zeigte sich einer seiner markanten Wesenszüge. War er von der Richtigkeit einer Sache überzeugt, so ließ er sich von nichts und niemandem beirren. Wahre Größe von Staatsmännern, so heißt es, zeige sich darin, im richtigen Augenblick das Richtige zu tun. Kohl hatte, wie keiner seiner Vorgänger und Nachfolger, ein untrügliches Gefühl für Stimmungen.
Europa zugewandt: Aber darauf konnte er sich gerade nach 1990 nicht mehr verlassen. Der Volkskanzler hatte die dramatischen Folgen des wirtschaftlichen Zusammenbruchs der früheren DDR unterschätzt. Er wäre besser beraten gewesen, in den kommenden Jahren zunächst Blut, Schweiß und Tränen denn blühende Landschaften vorherzusagen. Dass er sich nach der Einheit wieder mehr Europa zuwandte, war ein weiterer Fehler.
Im Vertrag von Maastricht 1992 gab Kohl dem Druck von Frankreichs Staatspräsident Mitterand nach, für die Pariser Zustimmung zur Einheit den Euro einzuführen – was angesichts der Dauerkrise um die Gemeinschaftswährung das Bild Kohls in der Historie verdunkeln könnte. Zu großen innenpolitischen Reformen konnte sich Kohl in den 1990er Jahren jedenfalls sich nicht mehr aufraffen und erst recht nicht zur Übergabe der Macht an einen Nachfolger. Eine denkwürdige Ära ging bei der Bundestagswahl im September 1998 zu Ende.
Die Nachkanzlerzeit war von Tragik begleitet. Die Spendenaffäre in der CDU, der darüber ausbrechende heftige Streit mit seiner eigenen Partei, der Tod seiner Ehefrau Hannelore im Jahr 2001, der Zerfall der Familie und nicht zuletzt die langjährige eigene Krankheit ließen ihn aus der Öffentlichkeit treten, nicht ohne Verbitterung. Dass er nicht wie Altkanzler Helmut Schmidt seinen Ruhm aufpolierte, konnte er wohl verschmerzen. Helmut Kohl – eine späte Lichtgestalt, undenkbar. Für die Mehrheit der Deutschen wird er als Kanzler von Einheit und Freiheit sowie als der überragende, entscheidende und prägende Staatsmann auf dem Weg zur Einheit Europas in Erinnerung bleiben.
Quelle: Bernd Haunfelder, „Die Einheit als Meisterstück“ (Nachruf), Das Parlament, Nr. 26, 26. Juni 2017, S. 9. Online verfügbar unter: https://www.das-parlament.de/2017/26/im_blickpunkt/-/512092