Kurzbeschreibung

Der Artikel untersucht die komplizierte Beziehung zwischen Angela Merkel und Helmut Kohl von ihrer ersten Begegnung im Jahr 1990 bis zu ihrer letzten im Jahr 2012. Unter Helmut Kohl hatte Merkel als Ministerin in verschiedenen Ressorts gedient, bevor sie an die Spitze der CDU aufstieg und selbst Kanzlerin wurde. Merkels Rolle bei der Kritik an Kohls Rolle in der Finanzaffäre der CDU belastete ihr Verhältnis, ohne es zu zerstören.

Angela Merkel und Helmut Kohl (1. Juli 2017)

Quelle

Das Machtverhältnis

Helmut Kohl hat Angela Merkel gefördert – auf seine Art. Dann brach sie mit ihm und wurde selbst Kanzlerin. Über eine durch und durch ambivalente Beziehung.

Vor einiger Zeit erzählte Angela Merkel im Beisein von Helmut Kohl, wie es war, als sich die beiden das erste Mal trafen. Anlass für die Anekdote war am 27. September 2012 eine Veranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung zur Erinnerung an das konstruktive Misstrauensvotum, mit dem Kohl 30 Jahre zuvor Bundeskanzler geworden war. Merkel trat als Hauptrednerin zu seinen Ehren auf. Dieser Abend, an dem sie von der ersten Begegnung berichtete, war auch der Abend, an dem sie Helmut Kohl zum letzten Mal begegnete.

Im Wahlkampf 1990 hatte Kohl die ostdeutsche Bundestagskandidatin zu sich bestellt. Vor dem Besuch im Bonner Kanzleramt blätterte Merkel noch ein wenig im Programm der CDU, um von ihrem Parteivorsitzenden nicht auf dem falschen Fuß erwischt zu werden. Kohl aber hatte nur eine Frage: Als Physikerin habe sie viel mit Männern gearbeitet – wie sie sich denn mit Frauen verstehe. Eine überraschte Merkel antwortete: „Gut, keine Probleme.“ Im Januar 1991 berief der Kanzler sie zur Bundesministerin für Frauen und Jugend.

Es war der Beginn einer einzigartigen politischen Erfolgsgeschichte – und einer Kette aus persönlichen Enttäuschungen, Verletzungen und Demütigungen. Doch die Geschichte von Kohl und Merkel ist letztlich ein Lehrstück über die disziplinierende Kraft der Macht. Dass diese Geschichte in der CDU spielt, ist kein Zufall: Keine andere Partei versteht sich selbst so sehr als Mittel zum Zweck des Machterhalts.

Sie hat ihm viel zu verdanken: Als Bürgerin die deutsche Einheit, als Politikerin die ersten Jahre ihres Aufstiegs. Das vergisst sie ihm nie. Als aber 1999 schwarze Konten und dubiose Zahlungen bekannt wurden, sagte sich die damalige CDU-Generalsekretärin von ihrem Förderer los, weil sie Schaden für die Partei fürchtete. Das hätte nämlich auch Schaden für sie bedeutet. Sie biss, wie es Kohl einst mit Blick auf Richard von Weizsäcker formulierte, die Hand, die sie gefüttert hatte. Anderen Christdemokraten hatte Kohl das nie verziehen. Aber wie war das eigentlich bei Merkel? []

Merkel hat nach 2012 wiederholt mit Kohl telefoniert, später nur noch mit seiner Frau, weil er nicht mehr sprechen konnte. Zum 25. Jahrestag der Einheit 2015 wollte sie ihn nach Berlin einladen. Doch es ging nicht mehr. Nun hat sich die Kanzlerin ein paar Tage lang mit der Rede beschäftigt, die sie auf der Trauerfeier an diesem Samstag in Straßburg halten wird. Was bleibt von dieser durch und durch ambivalenten Beziehung? []

Merkel wurde Kohls „Mädchen“. Sein paternalistischer, man könnte auch sagen: herablassender Blick auf Merkel offenbarte sich nicht nur in diesem Wort. []

Aber es war eben auch dieser Helmut Kohl, der sie zur Umweltministerin machte – ein Vertrauensbeweis, nachdem er ihren Vorgänger Klaus Töpfer wegen des Verdachts der Illoyalität abserviert hatte. Weil dieses Amt ihr, der Naturwissenschaftlerin, mehr zusagte, freute sie sich so sehr über die Ernennung, von der sie kurz vor einem Flug erfuhr, dass sie sich und einer Mitarbeiterin in der Lufthansa-Maschine zwei Gläser Sekt bestellte.

Das Umweltministerium war eine Art Stahlbad für Merkel. [] Bei den Klimaverhandlungen in Kyoto aber rief Kohl immer wieder an, erkundigte sich und ermutigte sie. Zu hohe Radioaktivität beim Transport von Atommüllbehältern bescherte Merkel ihren ersten Skandal und heftige Attacken eines Oppositionspolitikers namens Joschka Fischer. Auch da hielt Kohl zu ihr. []

„Schauen Sie, ich habe alles von Helmut Kohl gelernt“, hat Merkel kurz vor dessen Tod gesagt. Dann korrigierte Sie sich: „Sehr viel gelernt.“ Merkel kann unbeirrbar sein, wie es Kohl auch war. Wie er ist sie pragmatisch, ergebnisorientiert, getreu seinem Motto: Entscheidend ist, was hinten rauskommt. Die Verbundenheit mit den USA, das Verständnis, dass Deutschland nur in Europa Erfolg haben kann, die Solidarität mit Israel. Das alles war auch Kohl.

Aber von ihm lernen hieß für Merkel auch, manches anders zu machen, mal absichtlich, mal versehentlich, mal notgedrungen. Die Vorstellung, dass die CDU modernisiert werden muss, teilte sie mit Kohl; seine Fähigkeit, den Konservativen in der Partei das Gefühl zu geben, er nehme Rücksicht auf sie, hatte Merkel nie. Sozialdemokraten waren für Kohl immer der Gegner, für Merkel nicht. Auch seine Unversöhnlichkeit hatte sie nicht. Einer wie Volker Kauder, der Merkel 2002 offen sagte, er halte sie nicht für die richtige Kanzlerkandidatin, wäre bei Kohl nichts mehr geworden. Und anders als Kohl in seinen letzten Amtsjahren, als er Unerledigtes mangels Erfolgsaussichten vor sich herschob, ist Merkel in der Lage, sich von aussichtslosen Unterfangen zu befreien und dafür Kritik, Ärger und Spott auszuhalten. Deshalb ist ein Sozi heute Bundespräsident, deshalb gibt es bald die Homo-Ehe. Der Kanzler Kohl war dicker als Merkel. Aber sie ist dickfelliger.

Genau zehn Jahre nach dem Mauerfall stand am 9. November 1999 in den Zeitungen ein Zitat von Kohl, er habe „nichts gewusst“, und eines von Merkel, die „lückenlose Aufklärung“ forderte. Am 22. Dezember erschien ihr Gastbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, in dem sie die CDU aufforderte, sich von Kohl zu lösen: „Wir kommen nicht umhin, unsere Zukunft selbst in die Hand zu nehmen.“ Am 10. April 2000 wurde sie CDU-Vorsitzende.

Über die Zeit danach sagt jemand, der das durchaus beurteilen kann, es habe keine erkennbaren Versuche aus Oggersheim gegeben, sie zu stürzen. „Kohl war so: Hätte er jemanden gesehen, um sie abzulösen – sofort.“ Aber da war niemand. Und für die persönliche Rache das Wohl der Partei zu gefährden, hätte er nicht riskieren können. Kein zweites Mal. Stattdessen diktierte Kohl im Hobbykeller seines Hauses voller Ingrimm seine Memoiren und schimpfte über die Europapolitik der Oppositionspolitikerin Merkel: „Die hat keine Ahnung.“

Dann wurde sie Kanzlerin. Im Februar 2006, nur wenige Monate nach Merkels Wahl, empfing sie ihn – man könnte auch sagen: besuchte er sie – im Kanzleramt. Zusammen gingen beide in den Kabinettssaal, Kohl stellte sich hinter den Kanzlerstuhl, Merkel hinter den Stuhl des Vizekanzlers. Auf einem Foto, das damals entstand, lächeln sie sich an, es sieht aufrichtig herzlich aus, beide wirken geradezu fröhlich. Die Aufnahme ließ Kohl rahmen; er setzte eine handschriftliche Widmung an den Rand: „Für Angela Merkel mit allen guten Wünschen.“ Das Bild steht bis heute in ihrem Büro, auf Augenhöhe im Bücherregal. Es war seine Form der Anerkennung dafür, dass Merkel die Sozis aus dem Kanzleramt verdrängt hatte. Sie hatte geliefert, was man von einer CDU-Vorsitzenden erwarten musste: die Macht. Und in gewisser Weise hatte sie auch die Scharte ausgewetzt, die er verursacht hatte.

Doch wahrscheinlich ist auch das Foto in Merkels Bücherregal nur eine Momentaufnahme; erzählt auch dieses Bild nur einen Teil der Wahrheit. Erst vor ein paar Wochen hat die Kanzlerin ihr Verhältnis zu Kohl so beschrieben: „Wir hatten eine schwere Zeit nach der Spendenaffäre. Danach haben wir einfach zugunsten der Partei, der CDU, die Heimat für uns beide ist, versucht, auch trotzdem gut zusammenzuarbeiten.“ Das klang nicht mehr nach der Fröhlichkeit vom Februar 2006. Es klang mehr nach Pragmatismus, nach einem Handel zum gegenseitigen Nutzen, basierend auf einem Gleichgewicht des Schreckens: Merkel konnte auf Kohl nie ganz verzichten, weil er in der CDU noch immer viele Anhänger hatte. Kohl wollte die Kanzlerin nie ganz verdammen, weil es den Bruch mit der Partei bedeutet hätte.

Merkel und Kohl – das war in den Jahren ihrer Kanzlerschaft eher ein Zweckbündnis. Eines, wie es auf der anderen Seite Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine 1998 eingegangen waren. Das christdemokratische Duo fand sich wieder, als die Macht erobert war. Dann aber hielt man zumindest so zusammen, dass sie nicht mehr gefährdet wurde. Bei den Sozialdemokraten war es umgekehrt: Man hielt zusammen, bis die Macht errungen war, danach zerbrach das Duo.

In den Jahren der Kanzlerschaft Merkels hielt sich Kohl zunächst zurück. []

Merkel wiederum kalkulierte das machtpolitisch Notwendige. Nie wurde das so offensichtlich wie im Wahlkampf 2009. Da besuchte die Kanzlerin ihren Vorgänger in Oggersheim. Es gab Mozzarella, Tomaten und Kuchen. Die Bilder, die damals entstanden, waren das Gegenteil von 2006: gestellt, steif, freudlos. Statements? Keine. Nur eine Erklärung des Regierungssprechers: „Kohl und Merkel sprachen über zwei Stunden in privater, harmonischer Atmosphäre vor allem auch darüber, wie sie persönlich in ihrem ganz unterschiedlichen Lebensumfeld die entscheidenden Wochen und Monate nach dem Mauerfall erlebt haben.“

Er hätte auch sagen können, sie sprachen über das Einzige, was sie wirklich verband.

Quelle: Nico Fried, „Das Machtverhältnis“, Süddeutsche Zeitung, 1. Juli 2017.