Kurzbeschreibung

Der Regierungsstil von Bundeskanzlerin Angela Merkel, aber auch ihr politischer Werdegang, so dieser konservative Journalist, setzen sich grundlegend von dem ihrer (männlichen) Vorgänger ab. Ihre Argumentation sei abwägend und faktenorientiert; Entscheidungen seien mehr pragmatisch als ideologisch. Damit verunsichere sie auch die Gegenseite, da sie nicht leicht auf eine Position festzulegen sei. Von Gegnern werde ihr dies auch als Führungsschwäche ausgelegt.

Ein neuer Regierungsstil (22. November 2006)

  • Günter Bannas

Quelle

Sie inszeniert sich nicht

Angela Merkels Stil

Bundeskanzlerin Angela Merkel pflegt einen anderen Politikstil als ihre Vorgänger – in der Darstellung ihrer selbst, im Umgang mit anderen, im Herbeiführen von Kompromissen. Mit den besonderen Umständen ihrer Kanzlerschaft, also dem Bündnis mit der SPD in der großen Koalition und auch der nie dagewesenen Dominanz einer Partei – ihrer Partei – im Bundesrat, hat das wenig zu tun. Frau Merkel ist ein anderer Mensch als ihre Vorgänger Helmut Schmidt, Helmut Kohl und Gerhard Schröder.

Sie inszeniert sich nicht – es sei denn mit dem Versuch, mit der Verweigerung eines Sich-in-Szene-Setzens zu beeindrucken, einem Versuch, den die anderen möglichst nicht erkennen sollen. Frau Merkel verfügt nicht über die raumfüllende Präsenz Kohls, sie pflegt nicht die Manager-Attitüde Schmidts. Und der „Kerle unter sich“-Habitus Schröders ist ihr vollkommen fremd. Ein Teil der Eigenschaften, die ihr auf der Innenseite der Politik zugeschrieben werden, darunter auch die Behauptung, sie führe nicht, rührt daher. Schröders Ausbruch am Abend der Bundestagswahl, die CDU-Vorsitzende solle die Kirche im Dorf lassen, denn sie werde nicht zur Kanzlerin gewählt werden, entsprang der eigenen Vorstellung Schröders, wie ein Kanzler zu sein habe: eine beeindruckende Verkörperung der Macht. Ihr aber sei, so hat Frau Merkel jetzt im Fernsehen berichtet, dabei die Frage durch den Kopf gegangen: „Hast du ein Faktum vergessen?“

Für die Kanzlerin ist es bezeichnend, daß sie im Gespräch mit einem maßgeblichen Repräsentanten des Koalitionspartners die Bemerkung machte: „Mein Problem ist nicht die Bundestagsfraktion. Mein Problem sind die Ministerpräsidenten.“ Früher, als sie noch nicht die Aussicht hatte, Bundeskanzlerin zu werden, hat sie sich unter Hinweis auf die alteingesessenen und sich seit Jahrzehnten kennenden Parteikollegen ähnlich äußern können. Inzwischen hat sie in vielen Gesprächen mit Ministern der SPD die Umstände und Bedingungen ihrer Kanzlerschaft erläutert. Die eigene politische Vergangenheit in der CDU zählte dazu: Einem ziemlich kleinen Landesverband, dem von Mecklenburg-Vorpommern, gehört sie an; sie war nicht in der Schülerunion und auch nicht in der Jungen Union; die Geschichte der alten Bundesrepublik, mithin des Regierungs- und Parteiensystems mit seinen Untiefen, personellen Netzen und politischen Strömungen, mußte sie sich lesend und zuhörend aneignen. Daß sie dort ankam, wo sie nun ist, haben ihr jene am wenigsten zugetraut, die selbst ein Auge auf das Kanzleramt warfen und werfen. Von Schröder bis Merz ärgern sie sich bis heute, daß sie sich verschätzt und verkalkuliert haben.

Das Wort vom „Durchregieren“, das Frau Merkel noch zu Zeiten gebrauchte, als sie auf eine Koalition mit der FDP hoffte, hallt noch immer nach und wird Tag für Tag widerlegt. Die CDU-Ministerpräsidenten demonstrieren ein um das andere Mal, daß sie – auch zu Lasten der Bundeskanzlerin – auf eigene Interessen in den Ländern und in der Partei achten. Bei den Beratungen im Frühsommer über die Gesundheitsreform ließen sie die Frau Merkel die Grenzen ihres Einflusses als Bundeskanzlerin und CDU-Vorsitzende spüren. Frau Merkel hatte sich mit der SPD-Führung auf eine weitgehende Steuerfinanzierung des Gesundheitswesens verständigt. Eine Front der Ministerpräsidenten von Stoiber (Bayern) über Koch (Hessen) bis Rüttgers (Nordrhein-Westfalen) machte Modell und Absprachen zu Makulatur. Am Ende nahm die Kanzlerin Zuflucht zu dem Argument, daß die Steuerfinanzierung des Gesundheitssystems – so angeblich die SPD – 40 Milliarden Euro erfordere. Dafür müßten aber die Steuern zusätzlich erhöht werden. Der Plan wurde fallengelassen. Doch auf beiden Seiten – bei den Ministerpräsidenten der Union wie auch in der SPD-Führung – belegt der Vorgang je nach Bedarf die angeblich unzureichende Durchsetzungsfähigkeit Frau Merkels.

Womöglich kennzeichnet der Vorfall auch den Argumentationsstil Frau Merkels. Auch der hat sich während ihrer Kanzlerschaft nicht verändert. Als wäre sie nicht Akteur, sondern Beobachter, kann sie unterschiedliche Positionen mit ihren Vorzügen und Nachteilen darstellen, abwägend und auch mit politisch überraschenden Momenten versehend. Am Ende weiß die Gegenseite nicht, was sicher ist und was sie will. Sie kann sich auch als Suchende präsentieren und als jemand, der nicht auf alle Fragen eine vorgefertigte Antwort habe. Mitunter geht sie so akribisch ins Detail, daß die Frage laut wird, wohin die Denkbewegung noch führen solle und ob die Details Sache eines Regierungschefs seien. Die mit ihr Tag für Tag zu tun haben, fragen oft, was Frau Merkel eigentlich im Sinn habe.

Vorsichtig wird aus dieser Wahrnehmung der Vorwurf abgeleitet, wieder einmal würden den Bürgern Motive, Grundsätze und Ziele der Regierungspolitik nicht ausreichend erklärt. Im Sommer hatten die drei Parteivorsitzenden der großen Koalition in Bayreuth verabredet, es anders und besser zu machen. Die großen Linien der Koalitionsregierung sollten deutlich werden und die Spitzenpolitiker nicht immer nur nächtens über Referentenentwürfe sprechen müssen. Noch ist es nicht ganz anders geworden.

Kommt die Rede auf den Niedergang der Union und das geringe Ansehen der Koalition in den Meinungsumfragen, so fehlt es nicht an Verweisen auf das diffuse Bild, das die große Koalition in der Öffentlichkeit bietet. Vor allem die Art der Auseinandersetzungen über die Gesundheitspolitik gilt als Zeichen der Schwäche. Innerhalb der Union wird auf die Kompromisse verwiesen, die die Partei beim Antidiskriminierungsgesetz eingegangen ist. Derzeit scheint es so, als habe der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Rüttgers im Bündnis mit dem bayerischen Ministerpräsidenten Stoiber den programmatischen Teil der Politik übernommen. Rüttgers' Bestreben, das sozialpolitische Profil der CDU zu schärfen, ist nicht nur von parteitagstaktischen Erwägungen motiviert. Die empörten Reaktionen der SPD-Spitze kennzeichnen die Auswirkungen auf das Klima der großen Koalition. Sollte es bei den Vorstellungen der nordrhein-westfälischen CDU bleiben, wird ein Teil der politischen Führungsarbeit der Koalition ausgelagert – hin zu den Ländern.

Das erste Jahr ihrer Kanzlerschaft hat Frau Merkel ohne personelle Blessuren überstanden – nimmt man das Zerwürfnis mit dem FDP-Vorsitzenden Westerwelle einmal aus. Das ist gegenwärtig nicht von Bedeutung und könnte sich allenfalls später einmal auswirken. Nicht ein Minister wurde entlassen oder ging von sich aus, was nicht selbstverständlich ist: In Schröders erstem Jahr waren es gleich drei. Die weiblichen SPD-Minister, die schon mit Schröder am Kabinettstisch saßen, sind zufriedener als früher. Die Beratungen verlaufen unter der Leitung von Frau Merkel weniger entlang einer von Männern bestimmten Hackordnung, und niemand wird mehr in den Sitzungen vor den Kollegen abgefertigt – was dann früher gerne als „Machtwort“ des Kanzlers kolportiert wurde. Das Einvernehmen unter Frauen sucht Frau Merkel auch im Bundestag zu dokumentieren, wenn sie auf der Regierungsbank mit Kabinettskolleginnen sogar minder bedeutender Ressorts das Gespräch sucht. Freilich verlaufen die Sitzungen auch weniger strukturiert, und erste Stimmen werden laut, es werde doch zu viel herumgeredet, sonntags in einer Kabinettssitzung über die Europapolitik etwa, ohne daß etwas zu entscheiden gewesen sei.

Die Bundeskanzlerin redet nicht überheblich und schlecht über andere. Ärger über Verteidigungsminister Jung (CDU), weil dessen öffentliche Äußerungen unterschiedliche Perspektiven offenbarten? Ärger über Wirtschaftsminister Glos (CSU), weil der zum falschen Zeitpunkt eine neue Debatte eröffnete, die dem Koalitionsfrieden zuwiderlief? Mit beiden Ministern versteht sich Frau Merkel im Grundsatz. Punktuelle Kritik kleidet sie in das Gewand wohlmeinender Ratschläge. In anderen Fällen ist sie nicht ganz so frei. Mit Arbeitsminister Müntefering scheint sie ein Vertrauensverhältnis aufgebaut zu haben, das schon zu Lasten des Vizekanzlers ging – in dessen Partei. Sogar mit dem SPD-Fraktionsvorsitzenden Struck, der die Führungsqualitäten Frau Merkels am lautesten und ganz öffentlich in Zweifel zog, hat die Bundeskanzlerin „ein Bier“ getrunken. Vielleicht haben die beiden über vergleichbare Probleme gesprochen. Seither können beide die Leistungen loben, die die Koalition bisher erbracht hat – die Grundzüge einer Gesundheitsreform, die Absprachen über die Reform der Unternehmenssteuer, die Verabschiedung der Föderalismusreform und die Gemeinsamkeiten in der Außenpolitik zählen dazu. An diesem Mittwoch vor einem Jahr wurde Frau Merkel zur Bundeskanzlerin gewählt. Sie wird ihre Politik in der laufenden Haushaltsdebatte des Bundestages erläutern.

Quelle: Günter Bannas, „Sie inszeniert sich nicht. Angela Merkels Stil“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. November 2006, S. 3.