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Bleibt einfach alles, wie es ist? Vor der Bundestagswahl: Auch ohne Regierungswechsel kommt der Themenwechsel
Die erste gesamtdeutsche Wahl, kein Zweifel, ist ein historisches Ereignis. Doch was wird dabei schon anderes herauskommen als eine fast schon routinemäßige Bestätigung: Weiter so, Deutschland?
Das Wahlergebnis steht nach allem, was man erfragen und erspüren kann, im großen und ganzen schon fest. Allenfalls um die Margen geht es noch – und darum, wie die Kräfte im konservativliberalen Bündnis verteilt sein werden. Kann die FDP, wie 1980 beim letzten Wahlsieg der sozialliberalen Koalition, sich zu Lasten der Kanzlerpartei deutlich profilieren? Selbst die politischen Gegner der Regierung erwarten einen neuerlichen Sieg der Bonner Koalition. It’s time for a change, Zeit für einen Machtwechsel – eine solche Grundwelle der öffentlichen Meinung stellt sich nicht einmal im Oppositionslager ein.
Gab es also, gibt es gar keine Alternativen? Muß alles so kommen, so bleiben, wie es ist – weil der Prozeß der deutschen Vereinigung, in dessen Verlauf die Mauern barsten und die Betonköpfe wackelten, die politischen Verhältnisse hierzulande dauerhaft zementiert?
Davon kann keine Rede sein. Gewiß, wir haben keinen aufregenden Wahlkampf erlebt. Dafür aber war in diesem Jahr die Politik selber spannend wie selten zuvor. Sie war spannend, weil die Entwicklung immer wieder offen war für richtige oder falsche Weichenstellungen. Daran jedoch wird sich auch künftig nichts ändern. Der Schein der unpolitischen Stabilität entspringt einer optischen Täuschung.
Sicherlich gab es keine Alternativen zur schnellen Verwirklichung der staatlichen Einheit, also zur Politik der Regierung. Sehr wohl aber gab es Alternativen zur Politik der Opposition.
Die deutsch-deutsche Vereinigung, so lamentiert vor allem die SPD, habe alles andere in den Hintergrund gedrängt, sogar die Tatsache, daß Helmut Kohl noch im Frühjahr 1989 äußerst angeschlagen war. Wohl wahr – aber deshalb brauchten doch die Sozialdemokraten im Jahr der Einheit noch lange nicht ins Trudeln und ins Hintertreffen zu geraten – schon gar nicht als jene politische Kraft, die mit ihrer offensiven Entspannungspolitik eine wichtige Voraussetzung des jüngsten Wandels geschaffen hatte (was nun zum Ende des Wahlkampfes sogar Helmut Kohl vor dem Bundestag in seiner Regierungserklärung zum KSZE-Gipfel in aller Form anerkannt hat).
Die Einheit, so heißt es weiter, das war die Stunde der Exekutive; die Regierung habe handeln können, die Opposition nicht. Wohl wahr – aber das war in den Jahren zuvor, als die Bonner Regierung sehr viel schlechter dastand, im Prinzip auch nicht anders.
Nein, an der Rollenverteilung hat es nicht gelegen, sondern in erster Linie daran, wie Regierung und Opposition ihre Rolle wahrgenommen haben. Der Verweis auf dieses Jahr der Einheit taugt deshalb auch nicht dazu, die gegenwärtigen Schwächen der Sozialdemokraten zu verhüllen – er legt sie vielmehr schonungslos bloß.
Oskar Lafontaine, der Kanzlerkandidat der SPD, ist zwei fundamentalen Fehleinschätzungen erlegen. Zum einen hat er sich in seiner Art des historischen Materialismus schlicht verrechnet. Als er die „Kosten der Einheit“ selbst in der letzten Debatte des alten Bundestages zum Solo- und Horror-Thema machte, stieß er nicht nur die Bürger in der vormaligen DDR vor den Kopf; er unterschätzte außerdem die Tatsache, daß auch bei den westlichen Wohlstandsdeutschen das Gefühl der Zusammengehörigkeit und die Erleichterung über das Ende von Diktatur und Teilung per saldo stärker waren als die Angst ums liebe Geld. Die Unausweichlichkeit von Opfern – in welcher Form auch immer, als Steuern, Abgaben, steigende Zinsen – war den Bürgern von Anfang an so klar gewesen, daß sie des Kanzlers gegenteiliger Versicherung nie wirklich Glauben geschenkt haben.
Zum anderen aber hat sich Lafontaine in der Annahme getäuscht, er könne nur gegen den Kanzler antreten, wenn er partout das Gegenteil der Regierungspolitik verkündet und sich jedem Ansatz eines „harmonisierenden“, gar nationalen Konsenses entzieht. Darin ging der Kandidat so weit, daß er schließlich vergaß, was die SPD selber ursprünglich gefordert hatte: die zügig herbeizuführende Währungsunion noch vor der staatlichen Einheit.
Mag sein, daß auch eine andere Strategie den Kanzler nicht aus dem Sattel gehoben hätte. Aber die SPD wäre gewiß nicht derart fatal ins Abseits geraten, und die Seele der Partei wäre intakt geblieben. So jedoch war Oskar Lafontaine der erste sozialdemokratische Kanzlerkandidat, der in seiner Kampagne ausschließlich auf taktische Manöver und verborgene Ängste setzte. Daß Lafontaine damit nicht ankommt, stellt dem Durchschnittswähler ein ordentliches Zeugnis aus. Daß der SPD-Kandidat den Versuch gleichwohl unternehmen konnte, war ohne die fundamentalen Kalamitäten seiner Partei nicht denkbar. Wer sonst hätte denn an seiner Stelle kandidieren sollen?
Die SPD war in der deutschen Frage seit der DDR-Wende zutiefst gespalten. Willy Brandt, der verhindern wollte, daß die Sozialdemokraten in der „nationalen Frage“ auf der Strecke bleiben, und Oskar Lafontaine, der einen etwas aufgesetzten Internationalismus dagegenstellte – das war keine Doppelstrategie, sondern die personifizierte Glaubenslücke der gesamten Partei, die der Vorsitzende Vogel beim besten Willen nicht überbrücken konnte.
Eine alte Faustregel besagt, niemals gewinne die Opposition eine Wahl, allenfalls verliere sie die Regierung. Dieses Mal läßt sich der Satz umdrehen. Die Opposition – so sah es in der Woche vor der Wahl aus – hat mehr verloren als die Regierung gewonnen.
Muß aber deshalb alles so bleiben, wie es ist? Wird es selbst auf mittlere Sicht keine Alternativen geben?
Keineswegs. Auch ohne Regierungswechsel kommt der Themenwechsel. Die deutsche Frage ist nun ein für allemal beantwortet. Aus den Höhen der in ihren großen Zügen überschaubaren Deutschlandpolitik geht es nun zurück in die Niederungen der politischen Unübersichtlichkeit, auch der diffusen Parteikonstellationen. War das Ende der Teilung für uns Deutsche in erster Linie ein Stück Vergangenheitsbewältigung, die Löschung einer lastenden Hypothek, so rücken nun die Zukunftsfragen unserer Gesellschaft wieder nach vorn, auch die verdrängten Probleme. Nach der ersten gesamtdeutschen Wahl ist der politische Wettbewerb wieder offen.
Versetzen wir uns nur zurück ins Frühjahr 1989. Damals bedurfte es des Schocks erster Wahlerfolge der Republikaner, um alle anderen Parteien der Tatsache gewahr werden zu lassen: In der Bundesrepublik bildet sich wenn schon nicht eine „Zwei-Drittel-Gesellschaft“ aus, so doch eine Gesellschaft, in der die große Mehrheit der aufgestiegenen Besserverdienenden jene Minderheit vergißt, die in den beschleunigten Modernisierungsprozessen unserer Industriegesellschaft weder geistig noch gesellschaftlich mithalten kann. Das Ausfransen am rechten Rand war in Wirklichkeit mehr ein Problem von Oben und Unten. Die Partei der Republikaner ist binnen kurzer Zeit in sich zusammengesackt, aber das Problem hat sich nicht aufgelöst.
Im Gegenteil: Die Einheit hat die Schwierigkeiten nicht revidiert, sondern potenziert. Zur Oben-Unten-Schichtung im Westen der Republik ist nun noch eine weitere Kluft getreten: jene zwischen den 62 Millionen, die im Westen leben, und den 16 Millionen in den fünf neuen Bundesländern. Die sozialen Spannungen in der Bevölkerung der größer gewordenen Bundesrepublik nehmen also zu.
Schon im Frühjahr 1989 waren die Verteilungskonflikte am unteren Rand der Gesellschaft durch den Zustrom von Asylbewerbern, von Aus- und Übersiedlern zugespitzt worden. Solange der Kalte Krieg und mit ihm die Teilung Europas währten, konnte die europäische Wohlstandsgrenze hinter Mauer und Stacheldraht aufrechterhalten und verborgen werden. Bei offenen politischen Grenzen freilich lassen sich soziale Grenzen nicht mehr bequem zementieren.
In den letzten Jahren ist immer wieder das Ende des „sozialdemokratischen Zeitalters“ verkündet worden. Aber mit dem Mißerfolg einer Partei ist das Problem sozialer Gerechtigkeit noch keineswegs erledigt. Der gerechte Ausgleich bleibt eine politische Daueraufgabe; auch der Ausgleich zwischen den Ansprüchen der Gegenwart und denen künftiger Generationen, etwa auf dem Gebiet des Umweltschutzes. Das „solidarische Zeitalter“ muß erst noch richtig anfangen.
Von all diesen Dingen war im zurückliegenden Wahlkampf wenig die Rede. Das epochale Ereignis der deutsch-deutschen Vereinigung hat alle politischen Sinne gefangengenommen. Doch mit den historischen Ereignissen hat es nun erst einmal sein Ende. Keine Rede davon, daß es künftig keine gesellschaftlichen Konflikte und folglich keine parteipolitischen Alternativen mehr gäbe. Nur weiter so – das jedenfalls kann die Antwort bestimmt nicht für lange sein.
Quelle: Robert Leicht, „Bleibt einfach alles, wie es ist. Vor der Bundestagswahl: Auch ohne Regierungswechsel kommt der Themenwechsel“, Die Zeit, 30. November 1990.