Kurzbeschreibung

Ein Zeitzeuge berichtet über die Ereignisse des 9. Oktober in Leipzig, beginnend mit den Vorkehrungen, welche das DDR-Regime am frühen Morgen angesichts der stadtweit angemeldeten Demonstrationen traf. Der Verfasser Wolfgang Schneider erinnert sich, dass die örtlichen kommunistischen Funktionäre und Polizeikräfte gewalttätige Ausschreitungen erwarteten und sich dementsprechend vorbereiteten. Letztlich blieb es unter den 70.000 „angsterfüllten und dennoch nicht weichenden“ Demonstranten ruhig und friedlich angesichts des massiven Sicherheitsaufgebots und die örtlichen Machthaber übten sich in Zurückhaltung. So wurde der Weg für weitere Demonstrationen mit der Parole „Wir sind das Volk!“ geebnet.

Triumph der Gewaltlosigkeit in Leipzig (Rückblick, 1990)

  • Wolfgang Schneider

Quelle

Über den Ablauf jenes schicksalhaften Montags ist schon viel geschrieben und noch mehr spekuliert worden. Ob es nun für diesen Leipziger 9. Okto­ber einen speziellen Schießbefehl gegeben hat, sei dahingestellt. Auch ist die noch ausstehende Klärung dieser Frage gar nicht von so entscheidender historischer Relevanz, galt doch uneingeschränkt der vom Vorsitzenden des Na­tionalen Verteidigungsrates, Erich Honecker, am 26. September erlassene Ge­heimbefehl Nr. 8/89, der in Hinblick auf zu erwartende „Krawalle“ eindeutig formulierte: „Sie sind von vornherein zu unterbinden.“ Und weiter wurde darin unmißverständlich angewiesen, daß „feindliche Aktionen offensiv verhindert werden sollen“.

Wie wortgetreu die Leipziger Einsatzleitung unter Vorsitz des amtierenden 1. Sekretärs der SED-Bezirksleitung, Helmut Hackenberg, diesen Befehl nahm, erwies sich schon am frühen Vormittag. In Betrieben wurde davor ge­warnt, nach 16 Uhr die Innenstadt zu betreten; Mütter sollten ihre Kinder bis 15 Uhr aus den Krippen und Kindergärten des Zentrums abholen; Schülern und Studenten wurde mit Relegation für den Fall der Beteiligung an „Aktionen“ gedroht. Gerüchte schwirrten durch die Stadt. Man munkelte von MG-Nestern auf zentralen Gebäuden, befürchtete den Einsatz von Fallschirmjägern und wollte erfahren haben, daß der NVA-Hubschrauberstaffel in Cottbus „Führungsbereitschaft“ befohlen wurde. Verläßlicher waren Meldungen über Stützpunkte der Sicherheitskräfte im Küchenholz und im Rosental so­wie über Vorbereitungen auf dem agra-Gelände in Markkleeberg zur schon am 7. Oktober geprobten Internierung von „Zugeführten“. Kirchen sollten für Flüchtende offengehalten werden, in St. Thomas entstand in fliegender Eile eine Sanitätsstelle. In Krankenhäusern wurden Notbetten aufgestellt und vor allem die chirurgischen und Intensivstationen verstärkt besetzt. Tausende von zusätzlichen Blutkonserven standen bereit. []

Leipzig glich an diesem Tag einem Heerlager. Nach späteren Aussagen von Bereitschaftspolizisten war ihnen vormittags mitgeteilt worden, daß ein fried­licher Ausgang der Demonstration wenig wahrscheinlich sei und sie vorbe­reitet sein müßten, möglichen Gewalttätigkeiten zu begegnen. Dementsprechend trugen sie Kampfausrüstung: Helme mit Visier und Nackenschutz, Schilde, Gasmasken (Tränengas war in großen Mengen herangeschafft worden), Schlagstöcke und sogenannte RWKs (Reizwurfkörper); Offiziere waren mit Pistolen bewaffnet, auch Hundestaffeln eingesetzt. Auf dem Hof der VP-Bezirksbehörde standen „aufmunitionierte“ Schützenpanzerwagen bereit, die tonnenschweren Stahlkolosse ausgerüstet mit Räumschilden, die Fahrer mit MP und je sechzig Schuß Munition. Die Polizeitruppe zählte insgesamt dreitausend Mann, davon zwölfhundert zur Verstärkung aus den Bezirken Halle und Neubrandenburg herbeibeordert. Hinzu kamen noch fünf Hundertschaften von Betriebskampfgruppen sowie eine sicher vierstellige Anzahl von Einsatzkräften des Ministeriums für Staatssicherheit, dessen Arsenale nicht nur Handfeuerwaffen bargen. []

In der Nikolaikirche und in drei weiteren Gotteshäusern wurde während der Friedensgebete ein von sechs Persönlichkeiten der Stadt getragener Aufruf zur Besonnenheit verlesen: „Unsere gemeinsame Sorge und Verantwortung haben uns heute zusammengeführt. Wir sind von der Entwicklung in unserer Stadt betroffen und suchen nach einer Lösung. Wir alle brauchen einen freien Meinungsaustausch über die Weiterführung des Sozialismus in unserem Land. Deshalb versprechen die Genannten heute allen Bürgern, ihre ganze Kraft und Autorität dafür einzusetzen, daß dieser Dialog nicht nur im Bezirk Leipzig, sondern auch mit unserer Regierung geführt wird. Wir bitten Sie dringend um Besonnenheit, damit der friedliche Dialog möglich wird.“

Dieser gemeinsame Appell des Kabarettisten Bernd-Lutz Lange, des Ge­wandhauskapellmeisters Kurt Masur und des Theologen Peter Zimmermann, sowie der Sekretäre der SED-Bezirksleitung Kurt Meyer, Jochen Pommert und Roland Wötzel wurde um 18 Uhr auch vom Sender Leipzig und etwa eine Stunde später vom Stadtfunk ausgestrahlt. Die engagierte wie couragierte Wortmeldung hat unzweifelhaft beigetragen zum friedlichen Verlauf dieses Tages, ohne jedoch die voreilig bescheinigte entscheidende Rolle gespielt zu haben. Einzig die geballte Kraft der siebzigtausend angsterfüllten und dennoch nicht weichenden Menschen in der Innenstadt und auf dem Ring erzwang um 18.25 Uhr den endgültigen Rückzug der bewaffneten Einheiten. Jene Namenlosen meinte wohl Christoph Hein, als er vorschlug, Leipzig zur „Heldenstadt“ der DDR zu ernennen.

An diesem Leipziger 9. Oktober siegte die Deutsche Demokratische Revolution 1989. An jenem Montag nämlich wurde der Ruf „Wir sind das Volk!“ zur materiellen Gewalt, die fortan alle zögerlichen Zugeständnisse von Partei und Regierung bewirkte und beschleunigte. []

Quelle: Vorwort (S. 7–8) „Oktoberrevolution 1989“, aus Leipziger Demontagebuch. Zusammengestellt und mit einer Chronik von Wolfgang Schneider. Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 1990 (die Originalausgabe erschien 1990 im Gustav Kiepenheuer Verlag; Gustav Kiepenheuer ist eine Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG); abgedruckt in Christoph Kleßmann und Georg Wagner, Hrsg., Das gespaltene Land. Leben in Deutschland, 1945–1990. Texte und Dokumente zur Sozialgeschichte. München: Verlag C.H. Beck, 1993, S. 438–40.