Kurzbeschreibung

Am 2. Mai 1989 begann Ungarn damit, seine Grenzanlagen mit Österreich abzureißen; Stacheldraht und andere Befestigungen wurden entfernt. Im Sommer 1989 wurde es zusehends leichter, die ungarisch-österreichische Grenze von Osten nach Westen zu überqueren. Anfangs blieb die Flucht riskant, doch nachdem immer mehr Ostdeutsche ohne gültige Ausreisevisa passieren konnten, folgten bald weitere. Das Ergebnis war eine Massenausreise, welche die DDR in ihren Grundfesten erschütterte. In dem folgenden Artikel beschreibt ein Frankfurter Journalist die Ankunft eines Zuges aus Wien, in dem sich ostdeutsche Flüchtlinge befanden, die über die österreichisch-ungarische Grenze geflohen waren.

Hoffnungen ostdeutscher Flüchtlinge (8. August 1989)

  • Rüdiger Scheidges

Quelle

Sonderzug aus Pankow mit Umsteigen in Wien und Frankfurt: Flüchtlinge aus der DDR, Ihr Weg über die Grenze und die Ankunft in der Bundesrepublik

In fetten weißen Lettern begrüßt ein großflächiges Plakat am frühen Dienstagmorgen die 100 Flüchtlinge aus der DDR, die neun Stunden zuvor die Reise vom Wiener Westbahnhof angetreten haben: „Taste the West“, animiert die Werbung. Ob das neue Leben im Westen nun tatsächlich einen „Super-Geschmack“ zu einem „Super-Preis“ bringen wird, darüber machten sich die frisch Eingetroffenen noch keine Gedanken. Es ist 6.20 Uhr.

Kaum ist der D-Zug D222 mit viertelstündiger Verspätung an Gleis 3 des Frankfurter Bahnhofs eingelaufen, werden die übermüdeten Menschen von Fernsehkameras ausgeleuchtet und von Fotografen angeblitzt.

Einige ergreifen zunächst einmal die Flucht zurück in die beiden „Sonderwaggons“. „Warum fotografiert ihr mich und meine Kinder? Morgen wissen die da drüben Bescheid“, ärgert sich ein 28jähriger Vater dreier Kinder, die mit ihm in Ungarn über die Grenze kamen. Die meisten dieser Flüchtlinge haben wochenlang stillgehalten, nicht einmal Freunden oder Verwandten von der geplanten Flucht erzählt. Man wähnt sie noch in Urlaub, in Bulgarien oder Ungarn. „Ich habe niemandem etwas erzählt, keinem Verwandten, keinem Freund.“ Der das sagt, will die Freunde in der DDR selber verständigen.

Die bundesdeutsche Botschaft in Budapest hatte keiner der Übersiedler aufgesucht. „Man konnte praktisch mit seinem Trabi von der DDR aus bis zur grünen Grenze Ungarns nach Österreich fahren. Einige haben das auch so gemacht. Die Wagen stehen da jetzt rum“, erzählt ein 25jähriger Mann aus Bautzen und ist froh, „das alles hinter sich“ gelassen zu haben. Er weiß nicht, daß im ersten Halbjahr bereits 56000 Flüchtlinge in die Bundesrepublik gekommen sind, und er kann auch nicht wissen, daß der Moderator der Tagesthemen am Abend zuvor zwar nicht gesagt hat, „das Boot ist voll“. Aber er hat gesagt: „Es wird eng.“ Damit meinte er die deutsche Botschaft in Budapest, hätte aber auch das Zentrale Durchgangslager des Landes Hessen in Gießen meinen können, wohin die 100 Flüchtlinge am Dienstag gebracht wurden: Das Lager platzt aus den Nähten.

Eine 37jährige Mutter steht mit ihrer Tochter, dem Sohn und einem Familienfreund abseits des großen Pulks der Reporter. Jeder trägt eine kleine Tasche bei sich, die 17jährige Tochter dazu eine gelbe Plastiktüte eines Wiener Geschäftes. „Das ist alles, was wir mitbringen“, sagt die Tochter, die die fehlende Meinungsfreiheit in der DDR beklagt. Die Mutter erklärt: „Wir sind engagierte Christen und dort drüben nicht wohl gelitten.“ Der Vater ist noch in der DDR. „Der weiß von nichts“, sagt die Tochter.

Am 23. Juli sind die vier offiziell zum Ungarn-Urlaub aufgebrochen. „Dann haben wir uns an der Grenze den Drahtzaun angeschaut und sind am nächsten Tag rüber. Der ungarische Wachturm in der Nähe war unbesetzt und es kam zu keinem Zwischenfall.“ Den meisten erging es so. Keiner prahlt, keiner gibt an. Zögernd und im nüchternen Tonfall berichten sie.

Klaus und Bernd aus dem Bezirk Halle hatten bereits 1986 die Flucht geplant. „Das war uns damals dann doch zu gefährlich.” Als sie hörten, daß Ungarn die Grenzzäune niederreißen ließ, war der Entschluß gefaßt. „Wir sind um die Mittagsstunden über die grüne Grenze und haben keinen Grenzbeamten auch nur gesehen.” Andere wurden von ungarischen Grenzern angehalten. Doch den mittlerweile berüchtigten Stempel, der sie in der DDR als Flüchtlinge bloßstellen würde, hat niemand aufgedrückt bekommen. Der zweite Versuch klappte dann. Einige wenige Elternpaare haben ihre Kinder dabei. Ein Paar watete fünf

Stunden durch Wasser und Schilf des Neusiedler Sees. Nachts um 5.30 Uhr erreichten sie österreichischen Boden.

Kurz vor sieben Uhr fahren die beiden Busse vom Frankfurter Hauptbahnhof in Richtung Gießen ab. Im grauen Dunst des ungemütlich klammen Morgens kurven die Busse an Hochhäusern vorbei durch’s Bankenviertel Frankfurts. „Die Dresdner! Schau mal: Die sind überall, nur nicht in Dresden”, weist ein 25jähriger Mann aus Potsdam seinen Kumpel, ebenfalls aus Potsdam, auf den Bankenturm hin.

Die Menschen kommen aus allen Teilen der DDR, aus Cottbus, Potsdam, Zeitz, dem Bezirk Halle und Karl-Marx-Stadt. Die meisten haben in der letzten Juliwoche die DDR verlassen.

„Ich will irgendwohin, einen Job, eine Arbeit. Nur in ein kleines Dorf will ich nicht, die Leute sind sicher zu neugierig. Aber in Bayern sollen Arbeitskräfte gesucht werden”, meint einer gehört zu haben. Der gelernte Bäcker arbeitete jahrelang als Eisenbahnschaffner in seinem Heimatbezirk: „Jetzt möchte ich in eine Brotfabrik.”

Hinter ihm sitzt ein 21jähriger, der gerne als Tontechniker oder Elektriker beim Rundfunk arbeiten möchte. „Aber mit meiner Ausbildung? Wir sind doch Jahre zurück. Das wird wohl nichts”, sagt er und schläft vor Übermüdung ein.

„Also, wir nennen ihn ‚Gorbi’, wie ihr auch. Auch in Karl-Marx-Stadt haben wir einen hervorragenden Empfang von Westprogrammen. Aber die DDR ist still. Da bewegt sich nichts. Immer muß man sich anpassen, immer nach dem Mund reden. Die sind hoffnungslos. Um uns öffnen sich die Staaten, nur die DDR bleibt auf Kurs.” In den Nachbarländern im Ostblock sei man als Jugendlicher aus der DDR „der letzte Arsch”, meint der junge Mann. Selbst im Urlaub fühle man sich unwohl, schüttelt ein junger Facharbeiter aus Brandenburg seinen Kopf. In Lederjacke, Jeans und mit Turnschuhen gewandet, gibt er sich angesichts der gelungenen Flucht zuversichtlich. „Unabhängig und flexibel bin ich. Nichts wird mir hier passieren in der BRD.”

Sein Nachbar, ebenfalls aus Brandenburg, pflichtet ihm bei, auch wenn er seine Unsicherheit nicht verbergen will: „Ein bißchen Angst vor der Zukunft habe ich schon. Aber ich werde es packen”, macht er sich Mut. Der Selbstbewusste nebenan fügt hinzu: „Natürlich werden einige auf der Strecke bleiben. Das sind aber nur die, die nicht selbstständig denken können. Das ist halt so.”

[]

„Wenn jemand glaubt, man läßt so einfach ein Leben hinter sich und wenn jemand vermutet, wir kämen aus materiellen Gründen in den Westen, dann irrt der sich. Ich sage dazu nur: Ein Monat DDR wird dem auch reichen,“ beteuert ein blonder Langhaariger in kurzer Turnhose. In Gießen angekommen, wird er zunächst eine Telefonzelle ansteuern.

„Natürlich“ haben sie schon mitbekommen, daß genug Westdeutsche Ressentiments hegen und von „Flüchtlingsflut“ reden, „natürlich“ wissen sie, daß es zwei Millionen Arbeitslose in der neuen Heimat gibt. Sie wissen alle auch, daß der goldene Schein des Westens trügen kann. „Aber als ich meinem besten Freud erzählte, ich müsse jetzt unbedingt Urlaub machen und ein Transitvisum durch Ungarn hätte, da hat der nur gesagt: Mach bloß nicht, daß Du mit einem Stempel im Paß zurückkommst. Das war einmal.“

In Gießen erwartet die Flüchtlinge zunächst einmal eine „absolute Notsituation“ wie Gerald Weiß vom Hessischen Sozialministerium die Lage einschätzt. Das Durchgangslager ist mit 2000 „Belegungen“ überlastet, zum Teil müssen die Ankömmlinge in Turnhallen oder Wohncontainer einziehen. „Seit dem Bau der Mauer haben wir solch einen Flüchtlingsstrom nicht registriert. Wir können nicht hexen. Wir brauchen weitere 1000 Plätze – mindestens.“ Den Ankömmlingen ist dies egal. „Wir bleiben hier nicht lange.“

Quelle: Rüdiger Scheidges, „Sonderzug aus Pankow mit Umsteigen in Wien und Frankfurt; Sonderzug aus Pankow mit Umsteigen in Wien und Frankfurt: Flüchtlinge aus der DDR, Ihr Weg über die Grenze und die Ankunft in der Bundesrepublik“, Frankfurter Rundschau, 8. August 1989.