Kurzbeschreibung

Seit 1952 gibt der Mineralölkonzern Shell wissenschaftliche Studien zum Wertewandel Jugendlicher in Deutschland heraus. Die jungen Befragten dieser Shell Jugendstudie (Nummer 14 aus dem Jahr 2002) zeigen niedriges Vertrauen in die Politik, aber erhöhte Bereitschaft, für eine berufliche Karriere Leistung zu erbringen. Die „Null-Bock“-Stimmung früherer Generationen ist nicht mehr vorherrschend. Allerdings stehen der Gruppe der „Macher und Idealisten“ jene gegenüber, die sich eher überfordert fühlen und darauf mit Apathie und Ellenbogenmentalität reagieren.

Jugend im Blickpunkt (2002)

Quelle

Aufstieg statt Ausstieg: Jugendliche gestalten ihre Zukunft pragmatisch und zielorientiert

Jugendliche heute sind pragmatisch. In einem Wertecocktail mixen sie, was ihnen passend erscheint: Fleiß und Macht, Familie und Sicherheit, Kreativität und Lebensstandard – alles geht gleichzeitig. Gesellschaftlichen und persönlichen Herausforderungen stellt sich der Nachwuchs, und er will seine Probleme selbst lösen. Der Politik und den Parteien sprechen die Jugendlichen nur wenig Lösungskompetenz zu. Zu diesen Erkenntnissen kommt die 14. Shell-Jugendstudie. Die Untersuchung wurde gemeinsam von den Bielefelder Sozialwissenschaftlern Professor Dr. Klaus Hurrelmann, Professor Dr. Mathias Albert und einem Team des Münchener Forschungsinstitutes Infratest Sozialforschung verfasst. Im Auftrag der Deutschen Shell befragten die Forscher mehr als 2.500 Jugendliche im Alter von 12 bis 25 Jahren zu ihrer Lebenssituation, ihren Wertvorstellungen und ihrer Einstellung zur Politik.

Im Vergleich zu den vorherigen Untersuchungen zeigt die 14. Shell Jugendstudie, dass sich ein Trend deutlich verstärkt hat: Das allgemeine Interesse an Politik ist in der Jugend weiter rückläufig. Nur 34 Prozent der Heranwachsenden bezeichnen sich als politisch interessiert. Im Jahr 1991 waren es noch 57 Prozent. Eine wichtige Rolle spielen Alter und Bildungsniveau: Es sind vor allem ältere, gut ausgebildete Jugendliche, die sich für Politik interessieren oder einsetzen. Jüngere Jugendliche sind, auch im Zuge ihres Reifeprozesses, (noch) vorrangig mit sich selbst beschäftigt. Insgesamt würden gerade einmal 35 Prozent ganz sicher an Wahlen teilnehmen, weitere 37 Prozent nur „wahrscheinlich". Je jünger die Jugendlichen, desto geringer ist die Bereitschaft, sich an einer Bundestagswahl zu beteiligen. „Wahlen sind in der Jugend kein Selbstläufer: Es gilt, Jungwähler für die Demokratie zu begeistern", sagt Projektleiter Prof. Dr. Klaus Hurrelmann.

Geringes Vertrauen in Parteien

Obwohl die überwiegende Mehrheit der Jugendlichen die Demokratie für eine gute Staatsform hält, sind in den neuen Bundesländern immerhin 52 Prozent, in den alten Bundesländern 27 Prozent der Befragten kritisch gegenüber der demokratischen Praxis in Deutschland eingestellt. Vor allem Jugendliche in den neuen Ländern drücken damit ihre Kritik an Lebensverhältnissen und fehlenden persönlichen Chancen aus. Wie die Autoren feststellen, ist das Vertrauen der Heranwachsenden in politische Parteien gering, in die Bundesregierung, Kirchen, Gewerkschaften und Bürgerinitiativen mäßig. Als besonders vertrauenswürdig werden hingegen parteiunabhängige staatliche Organisationen wie die Justiz oder Polizei, aber auch Menschenrechts- und Umweltschutzgruppen eingeschätzt.

Nicht verändert hat sich auf den ersten Blick die politische Selbstpositionierung. Im Unterschied zur Gesamtbevölkerung ordnen sich Jugendliche im Durchschnitt nach wie vor leicht links von der Mitte ein. Dem politischen Extremismus wird eine klare Absage erteilt. Insbesondere in den alten Bundesländern gibt es immer mehr Jugendliche (33 Prozent), die sich im traditionellen Rechts-Links-Schema nicht einordnen können oder wollen. Während die Mehrheit der Befragten einer der beiden großen Volksparteien nahe steht, hat der Studie zufolge die Neigung der Jugendlichen zu den Grünen gegenüber den 80ern und 90ern kontinuierlich abgenommen. Insgesamt gaben 19 Prozent der Jugendlichen keine Antwort auf die Frage, welche der Parteien die Probleme in Deutschland am besten lösen könne, 37 Prozent sprachen keiner Partei die entsprechende Kompetenz zu.

Optimismus ist angesagt

In der gegenwärtigen gesellschaftlichen Lage sind Heranwachsende höheren Leistungsanforderungen und Risiken ausgesetzt als noch vor 20 Jahren. Das betrifft ein mögliches schulisches und berufliches Versagen, die Arbeitsmarktsituation, aber auch die persönliche Sicherheit in einer Welt offener Grenzen. Dennoch sieht die junge Generation ihre Zukunft positiv. „Die Jugendlichen haben ihre Wertorientierungen an diese neuen Rahmenbedingungen angepasst", erklärt Hurrelmann.

Die Studie zeigt, dass die Einstellung der Jugendlichen auf einen grundlegenden Wertewandel zurückgeht, der sich bereits in den 90er Jahren angedeutet hatte. Hurrelmann: „Die ideologisch unterfütterte Protest- und 'Null-Bock'-Stimmung früherer Generationen, die seinerzeit besonders von Studenten und Abiturienten kultiviert wurde, ist passé." Die Mentalität der Jugendlichen hat sich insgesamt von einer eher gesellschaftskritischen Gruppe in Richtung der gesellschaftlichen Mitte verschoben.

Aufstieg statt Ausstieg

Die meisten Jugendlichen reagieren auf die neue gesellschaftliche Agenda mit positivem Denken und erhöhter Leistungsbereitschaft. „Aufstieg statt Ausstieg" lautet das Motto, nach dem sie ihre Zukunft gestalten. Die Heranwachsenden entwickeln ihre eigene Perspektive und betreiben ein aktives „Umweltmonitoring". Sie überprüfen aufmerksam ihre soziale Umwelt auf Chancen und Risiken, wobei sie Chancen ergreifen und Risiken minimieren wollen. Übergreifende gesellschaftliche Ziele stehen dabei nicht im Mittelpunkt ihres Interesses. „Ziel ist es vielmehr, in einer leistungsorientierten Gesellschaft erfolgreich zu sein", so Hurrelmann.

Leistung, Sicherheit und Einfluss sind den Jugendlichen wichtiger geworden. Das zeigt auch der Vergleich mit einer anderen wissenschaftlichen Untersuchung zur Wertorientierung aus der zweiten Hälfte der 80er Jahre: Während damals erst 62 Prozent der Heranwachsenden „Fleiß und Ehrgeiz" für bedeutsam hielten, sind es heute bereits 75 Prozent. In der vorliegenden Studie ebenfalls ganz oben auf der Werteskala: „Streben nach Sicherheit" (von 69 Prozent auf 79 Prozent gestiegen), sowie „Macht und Einfluss" (von 27 Prozent auf 36 Prozent). Hurrelmann über die Ergebnisse der Studie: „Jugendliche haben diese 'altbürgerlichen' Prinzipien jedoch von ihrem 'Staub' befreit und entwickeln ein neues, unbefangenes Verhältnis zu ihnen. Sicherheit, Ordnung und Fleiß werden mit modernen Werten wie Kreativität, Toleranz und Genuss zu einer neuen Synergie verknüpft."

„Ja" zu Karriere und Familie

Der Wertewandel in der Jugend wird gerade auch von den weiblichen Heranwachsenden getragen. Mädchen und junge Frauen sind heute ehrgeiziger, aber auch selbstbewusster. „Karriere machen", „sich selbstständig machen" und „Verantwortung übernehmen" ist für sie ebenso wichtig wie für Jungen und junge Männer. Etwa die Hälfte der Schülerinnen und Schüler strebt heute das Abitur oder eine fachgebundene Hochschulreife an. Auffällig ist, dass mehr Mädchen als Jungen eine höhere Bildung erreichen wollen. Mädchen haben zumindest im Bereich der Schulbildung die Jungen inzwischen sogar überholt.

Gleichzeitig hat die Familie einen hohen Stellenwert. 75 Prozent der weiblichen und 65 Prozent der männlichen Befragten meinen, eine Familie zum „glücklich sein" zu brauchen. Über zwei Drittel der Jugendlichen wollen später eigene Kinder haben. „Karriere und Familie schließen sich bei den meisten Jugendlichen heute nicht mehr aus, sondern sind zwei zentrale, gleichberechtigte Zielvorstellungen für die Lebensführung", so Hurrelmann.

Erfolgsfaktor Bildung

Den neuen Zeitgeist verkörpern insbesondere die Jugendlichen, die in Schule, Ausbildung und Beruf erfolgreich sind. Potenziell benachteiligt fühlen sich hingegen Jugendliche, die ein geringes Bildungsniveau aufweisen. Sie haben schlechtere Chancen, ihre beruflichen Wünsche einzulösen und sind mit ihrer gegenwärtigen Lebenssituation weniger zufrieden.

Macher und Idealisten

Die Studie unterscheidet vier Typen von Heranwachsenden, die sich den neuen gesellschaftlichen Herausforderungen in verschiedener Weise stellen:

„selbstbewusste Macher",

„pragmatische Idealisten",

„zögerliche Unauffällige" und

„robuste Materialisten".

Die „selbstbewussten Macher", eine Aufsteigergruppe aus der breiten sozialen Mitte und in beiden Geschlechtern gleichermaßen vertreten, sind ehrgeizig, streben nach Einfluss und einer produktiven gesellschaftlichen Entwicklung. Ein fördernder und fordernder Erziehungsstil hat ihnen das psychologische Rüstzeug dafür vermittelt. Soziales Engagement ist wichtig, klar vorne steht aber persönliche Leistung.

Den „selbstbewussten Machern" steht eine zweite aktive und optimistische Gruppe zur Seite: die „pragmatischen Idealisten", die bevorzugt aus den bildungsbürgerlichen Schichten stammen und zu 60 Prozent weiblich sind. Sie konzentrieren sich jedoch eher auf die ideelle Seite des Lebens und engagieren sich zum Beispiel für andere Menschen oder die Umwelt. Dennoch unterscheiden sich diese Jugendlichen von den „Postmaterialisten" der 70er und 80er Jahre: Sie sind sicherheitsbewusster, stehen ohne ideologische Scheuklappen zu „Recht und Ordnung" und zum Leistungswettbewerb.

Apathie und Ellenbogen

Die „robusten Materialisten" und die „zögerlichen Unauffälligen" kommen mit den Leistungsanforderungen in Schule und Beruf weniger gut zurecht. Sie sehen deshalb verstärkt skeptisch in ihre persönliche Zukunft. Während die Unauffälligen mit Resignation und Apathie auf ihre ungünstige Situation reagieren, demonstrieren die „robusten Materialisten", eine vorwiegend männliche Gruppe, zumindest äußerliche Stärke. Um ans Ziel zu kommen, setzen sie häufig ihre Ellenbogen ein und übertreten im Zweifelsfall auch bewusst gesellschaftliche Regeln. Obwohl unter den Materialisten vermehrt „Underdogs" sind, schauen sie auf sozial Schwächere, Ausländer und Randgruppen herab. Ein kleiner Teil neigt zu politischem Radikalismus.

„Zentrale Aufgabe der Gesellschaft ist es, diese beiden Gruppen zu integrieren", sagt Hurrelmann. „Die Unauffälligen müssen aus ihrer Passivität herausgeholt und gefördert werden." Bei dem Teil der Materialisten, der zu Aggressivität neigt, gehe es zunächst darum, Grenzen zu setzen. Erst wenn diese Jugendlichen das Regelwerk der Gesellschaft akzeptieren, seien „weichere" Integrationsmaßnahmen gefragt.

Gesellschaftliches Engagement

Trotz des geringen politischen Interesses sind viele Jugendliche in ihrem Lebensumfeld gesellschaftlich aktiv. Dabei orientieren sie sich an konkreten und praktischen Fragen, die für sie mit persönlichen Chancen und Nutzen verbunden sind. Im Vordergrund stehen eigene, jugendbezogene Interessen und eine sinnvolle Freizeitbeschäftigung. Um mit ihren Anliegen Gehör zu finden und sich in Netzwerken zu koordinieren, nutzen Jugendliche verstärkt das Internet.

Obwohl die Heranwachsenden sich für andere Menschen oder den Umwelt- und Tierschutz einsetzen, haben Bürgerinitiativen, Hilfsorganisationen wie Greenpeace oder Amnesty International, Parteien und Gewerkschaften deutlich weniger Zuspruch als Vereine, Bildungseinrichtungen und selbst organisierte Gruppen. Viele Jugendliche engagieren sich auch individuell. Insgesamt sind weibliche Jugendliche ökologisch und in sozialen Feldern stärker aktiv, während sich männliche Jugendliche vermehrt für ein besseres Zusammenleben, Ordnung und Sicherheit im Wohnort einsetzen. 35 Prozent der Jugendlichen sind regelmäßig gesellschaftlich aktiv, 41 Prozent gelegentlich und 24 Prozent überhaupt nicht. Auch hier gilt: je höher das Bildungsniveau und die soziale Schicht, desto intensiver die gesellschaftliche Aktivität der Jugendlichen. Hurrelmann: „Neben der Schule haben Vereine, die freiwillige Feuerwehr und die Rettungsdienste eine wichtige Funktion bei der Integration benachteiligter Jugendlicher in die Gesellschaft."

Offen gegenüber Europa und Globalisierung

Europa ist für die Jugend eine Realität und wird ganz offensichtlich als persönliche Chance betrachtet. Eine relative Mehrheit der Jugendlichen (47 Prozent) spricht sich dafür aus, dass sich die Europäische Union perspektivisch zu einem Staat entwickeln sollte. Ähnliches gilt für die EU-Osterweiterung. Überhaupt sollte aus Sicht der Jugendlichen Deutschland seine neuen internationalen Verpflichtungen annehmen.

Auch im Hinblick auf die Globalisierung gibt sich die Jugend pragmatisch und offen. Chancen und Herausforderungen werden realitätsnah bewertet, Schwierigkeiten nicht verdrängt. In der Bewertung der Globalisierung sind ideologische Positionen passé. Es wird erkannt, dass das Leben durch die Globalisierung auch interessanter und vielfältiger wird.

Quelle: „Aufstieg statt Ausstieg: Jugendliche gestalten ihre Zukunft pragmatisch und zielorientiert“, 14. Shell Jugendstudie, August 2002; http://www.shell-jugendstudie.de.