Quelle
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Die Masse der Jugend betrachtete sich als verlorene Generation, und sie begann unter denkbar ungünstigen Voraussetzungen ihre Wanderung zwischen den zwei Welten, der in Blut und Tränen untergegangenen und jener neuen Welt, die sich die deutschen Menschen durch eigene Kraft schaffen müssen, aber deren Gestalt der Jugend in ihrer Verbitterung, Ratlosigkeit, ihrem Betrogensein und dem täglichen Druck ihrer sozialen und materiellen Lage nebelhaft und in weite Ferne gerückt scheint. Der sozialistischen Arbeiterbewegung, die durch die Entwicklung dazu berufen ist, an hervorragender Stelle die gesellschaftlichen Verhältnisse unseres Landes neu zu gestalten, obliegt die verantwortungsvolle Aufgabe, die Probleme der jungen Generation zu lösen. Sie muß der Jugend einen neuen Geist geben, sie auf neue Wege führen. Dadurch wird sie die Jugend gewinnen und sie zu einer gesellschaftlichen Kraft der Gegenwart und Zukunft gestalten können.
Wie ist denn die wirtschaftliche und soziale Lage der Jugend?
Der Zweite Weltkrieg veränderte ganz erheblich die Bevölkerungszusammensetzung. Wenn bei einer normalen Bevölkerungszusammensetzung die Altersgruppen von 20 bis 40 Jahren etwa 12 Millionen ausmachten, so sind heute kaum 6 Millionen übriggeblieben. Das bedeutet ein Absinken um die Hälfte. Die Rückkehr der Kriegsgefangenen in die Heimat wird zwar die arbeitsfähige Bevölkerung vergrößern, aber das schreiende Mißverhältnis nicht beseitigen können. Das Resultat des männermordenden Krieges ist ein absolutes Absinken der erwerbsfähigen männlichen Bevölkerung. Hinzu kommt noch, daß etwa eine Million erwerbsunfähiger oder stark erwerbsbeschränkter junger Männer die arbeitspolitische Lage noch erschweren. Im Mai 1946 waren zum Beispiel im Lande Sachsen von 4700 männlichen Arbeitslosen im Alter von 19 bis 25 Jahren 4128 erwerbsbeschränkt.
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So wie der Krieg und die Hitlerzeit Not und Krankheiten im Gefolge hatten, so brachten sie auch eine Lockerung der Arbeitsmoral und ein Anwachsen der Jugendkriminalität mit sich. Für viele ist es heute noch einträglicher, den Beruf eines Schwarzhändlers auszuüben, als durch ehrliche Arbeit ihr Brot zu verdienen.
Daß das Anwachsen der Jugendkriminalität eine unmittelbare Folge der Hitlererziehung und des Krieges ist, bedarf keiner Beweise. Es genügt die Feststellung, daß in den Jahren der Hitlerherrschaft die Verbrechen von Jugendlichen von Jahr zu Jahr zunahmen. Der Nazismus ist letzten Endes die Ursache, daß wir heute eine große Zahl jugendlicher Banditen, Schwarzmarkthändler und junger Menschen beiderlei Geschlechts haben, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Betrug, Raub, Unterschlagung und Schwarzhandel nehmen den größten Anteil der Delikte ein. 80 % aller Delikte, die durch Jugendliche in Berlin begangen wurden, sind Eigentumsdelikte. 85 % der jugendlichen Straffälligen sind Jungen und 15 % Mädel im Alter von 11 bis 21 Jahren; davon sind 40 % zwischen 16 und 18 Jahren, je 25 % zwischen 14 und 16 Jahren und 18 bis 21 Jahren und 10 % zwischen 11 und 14 Jahre alt.
Nichts wäre falscher, als aus diesen nüchternen Zahlen die Schlußfolgerung zu ziehen, die Jugend sei verwahrlost, und vielleicht mit pharisäerhaft erhobenem Zeigefinger auf die «schlimme Jugend» zu zeigen. Sensationslust und dunkle Absichten reaktionärer Kreise versuchen die wirklichen Ursachen zu verdecken, um politisches Kapital daraus zu schlagen. In dem Maße, wie sich die Verhältnisse in Deutschland bessern werden, wird auch die Jugendkriminalität zurückgehen.
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Wollen wir die politischen und ideologischen Verhältnisse und Strömungen in der Jugend untersuchen, so muß von der Erkenntnis ausgegangen werden, daß die junge Generation wohl nach außen eine einheitliche umfassende Masse darstellt, in ihrer inneren Struktur aber in verschiedene Gruppen zerfällt. Ziemlich scharfe Grenzlinien lassen sich zwischen den Vierzehn- bis Achtzehnjährigen und den Neunzehn- bis Fünfundzwanzigjährigen ziehen. Diese unterscheiden sich wieder von den Jugendlichen älteren Jahrganges. Den beiden ersten Gruppen ist gemeinsam, daß sie keine anderen Maßstäbe besitzen als die der Hitlerzeit, wobei die Achtzehn- bis Fünfundzwanzigjährigen heute noch die Gruppe der Jugend darstellen, die noch abwartend ist. „Wir haben uns die Finger genügend verbrannt, laßt uns mit allem zufrieden!“ ist eine oft gehörte Redensart. Auf diese Gruppe trifft vor allem die Feststellung eines ausländischen Berichterstatters zu, der schrieb: „Unter Politik können sich offenbar sehr viele Menschen in Deutschland nur das vorstellen, was die Nationalsozialisten aus der Politik gemacht haben, etwas Schlechtes, das abzulehnen ist. […] Bei der jungen Generation, bei denjenigen, die nur den Nationalsozialismus und seine Begriffswelt gekannt haben, scheint diese Haltung besonders weit verbreitet zu sein […] “
Aufgewachsen im Nazismus, erzogen in den verruchten Lehren der Hitlerbarbarei, fremd dem Gedankengut anderer Völker, brach diesen jungen Menschen eine Welt zusammen, die sie haltlos machte und mißtrauisch, skeptisch, teilweise zynisch dem Neuen gegenüber. Gerade diese zweite Gruppe hat es besonders schwer, sich zurechtzufinden. Die Jüngeren finden sich schneller zurecht und sie entwickeln bereits eine beachtliche gesellschaftliche Aktivität. Das drückt sich auch darin aus, daß die große Mehrheit der Mitglieder der „Freien Deutschen Jugend“ Jungen und Mädel zwischen vierzehn und achtzehn Jahren sind.
Seit dem Tage des Zusammenbruchs geht ein politischer Klärungsprozeß in der Jugend vor sich, der in der sowjetisch besetzten Zone eine beträchtliche Breiten- und Tiefenwirkung angenommen hat. Kurz nach der Bildung der demokratischen politischen Parteien entstanden bei den Selbstverwaltungen der Städte und Dörfer antifaschistische Jugendausschüsse, deren Aufgabe es war, die Jugend zu sammeln und im demokratischen Sinne zu erziehen. Die Bedeutung der Jugendausschüsse lag darin, daß sie der Jugend den Weg ebneten für das Entstehen einer großen, einheitlichen und überparteilichen Massenjugendorganisation. Aus den Jugendausschüssen erwuchs auch jenes Aktiv, das heute an der Spitze der Organisationen der „Freien Deutschen Jugend“ steht. Seit dem 7. März besteht in der Sowjetzone die FDJ, die gegenwärtig in den fünf Ländern und Provinzen rund 300 000 Mitglieder zählt und neben den Parteien, Gewerkschaften und Frauenausschüssen schon eine beachtliche gesellschaftliche Rolle spielt. Die FDJ ist eine Jugendorganisation, in deren Reihen alle Weltanschauungen und Konfessionen sowie die verschiedensten Schichten der Jugend Platz und Spielraum haben. War es doch mit ein Ergebnis des Krieges, daß eine ganze Reihe sozialer Schranken niedergerissen wurden. Vor der Arbeiterjugend, den Studenten, der Bauernjugend wie den jungen Angestellten stehen die gleichen großen Probleme. Sie können nur gemeinsam und durch gemeinsame Anstrengungen gelöst werden. Deshalb fiel der Gedanke einer einheitlichen Jugendorganisation auch auf fruchtbaren Boden. Und deshalb ist die Jugendbewegung in der sowjetisch besetzten Zone viel fortgeschrittener als in den westlichen Gebieten Deutschlands.
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(Verner war KPD-Funktionär und „Westemigrant“, 1946/47 Mitglied des Zentralrats der FDJ.)
Quelle: Paul Verner: „Probleme der jungen Generation“, Einheit Nr. 1 (September 1946), S. 240 ff; abgedruckt in Christoph Kleßmann und Georg Wagner, Das gespaltene Land. Leben in Deutschland 1945–1990. Texte und Dokumente zur Sozialgeschichte. München: C.H. Beck, 1993, S. 126–28.