Kurzbeschreibung

Ende der 1980er Jahre nahmen zahlreiche Osteuropäer deutscher Abstammung die durch die Politik von Glasnost und Perestroika entstandene Möglichkeit wahr, in das Land ihrer Vorfahren auszuwandern, in der Hoffnung, sich dort ein besseres Leben aufbauen zu können. Hier spricht ein westdeutscher Journalist mit einigen dieser Spätaussiedler.

Motive der Spätaussiedler (15. Juni 1989)

  • Walter Rueb

Quelle

„Dank Gorbatschow durften wir raus“

Der Zustrom von Aussiedlern in die Bundesrepublik Deutschland hält an, er ist gegenwärtig höher als je. 121 619 Aussiedler kamen allein in den ersten fünf Monaten dieses Jahres nach Westdeutschland. Allein in der NRW-Landesstelle für Aussiedler, Zuwanderer und ausländische Flüchtlinge in Unna-Massen unweit Dortmund wurden seit dem 1. Januar 1989 rund 32 000 polnische Aussiedler (im Jahre 1988 insgesamt 47 310) sowie annähernd 10 000 Aussiedler aus der Sowjetunion aufgenommen (1988 waren es 16 229). Noch stärker ist der Anstieg der „DDR“-Übersiedler: In den ersten fünf Monaten des laufenden Jahres kamen so viele wie im ganzen Jahr 1988.

Dienststellenleiter Fritz Wiegand und seine Mitarbeiter sehen sich angesichts des Zustroms vor einem Berg von Problemen und Arbeit. Zudem gilt es, noch Tausende von schriftlichen Verfahren aus dem vergangenen Jahr zu erledigen. „Viele Unterlagen fehlten“, sagt Wiegand. „Wegen des starken Andrangs schon 1988 blieb manches liegen.“

Mit Nachdruck verweist er auf die weiterhin gültige Freizügigkeit der Aussiedler. „Jeder kann an seinen Wunsch-Wohnort ziehen. In der Praxis aber haben wir gute Erfahrungen mit Beratung und Überzeugung der Aussiedler gemacht. Die meisten sind einsichtig genug, nicht auf total überfüllten Traumzielen wie Espelkamp oder Detmold als künftigen Wohnorten zu bestehen, weil dort bereits Freunde oder Verwandte untergekommen sind und weil es Kirchen für Mennoniten und Baptisten gibt.“

Die Aussiedler aus Polen rekrutieren sich weiterhin aus jüngeren, der deutschen Sprache nur in Ausnahmefällen mächtigen Jahrgängen. Aus der UdSSR kommen zumeist ältere Menschen oder Großfamilien mit vielen Kindern. Ein älteres Ehepaar aus einer kleinen Stadt in der Ukraine hatte den Ausreiseantrag fünfmal gestellt und auf die Ausreise zehn Jahre warten müssen. „Nur der Politik von Gorbatschow haben wir unsere Ausreise zu verdanken“, sagen die Ehefrau und ihr Mann fast wie aus einem Mund. „Aber Gorbatschow hat es schwer. Bürokraten und Parteifunktionäre sind gegen Perestrojka und Glasnost, die einfachen Menschen aber unterstützen Gorbatschow bei seinen Reformbestrebungen.“

Das Ehepaar wird nach Bochum ziehen. „Wir haben keinen Wunsch-Wohnort angegeben“, sagt die Frau. „Doch man hat uns geraten, nach Bochum zu ziehen. Dort gebe es noch Wohnungen und Arbeit.“ Das Paar schwankt zwischen Trauer und Freude. Nach der Antragstellung verlor der Ehemann seine Stelle als Busfahrer und Fahrlehrer, anschließend hieß es nicht nur die Ukraine zu verlassen, sondern auch Abschied zu nehmen von zwei erwachsenen Söhnen. „Wir hoffen, daß sie bald nachkommen.“

Warum wollten sie überhaupt aussiedeln? „Deutsche müssen auf deutschem Boden leben“, sagt die Frau mit leuchtenden Augen. Wie sehen sie ihre Zukunft? „Wir wollen in Frieden leben und arbeiten“, sagt ihr Mann. „Und uns der BRD gegenüber dankbar erweisen.“

Schwach ist der Aussiedlerstrom zur Zeit aus Rumänien. Nur gut 600 Personen sind in den ersten fünf Monaten des laufenden Jahres aus Ceausescus Reich gekommen. Bei der Familie Ziegler aus Siebenbürgen ging es nach der Antragstellung schnell. „Wir durften vier Monate und 20 Tage später bereits raus“, erzählt Vater Johann Ziegler (47). „Wir werden zu meiner Schwester in Wuppertal ziehen. Kurz vor unserer Ausreise hat auch meine Mutter eingereicht

. . . “

Mit ihm sind seine Frau Gerda (47), Tochter Gerda (18) und Sohn Albert (22) gekommen. „Nein, in Kleinkopisch und Umgebung ist von Systematisierung, wie die Kommunisten in Bukarest die Dorfzerstörung beschönigend nennen, nichts zu sehen“, sagt Ziegler auf eine entsprechende Frage. Er verneint auch die Frage, ob er nach der Antragstellung seinen Arbeitsplatz als Zimmermann verloren habe.

Die gesamte Familie spricht perfekt Deutsch. „Zu Hause und in der Volksschule von Kleinkopisch gelernt“, erklärt Gerda. Das Gymnasium besuchte sie im zehn Kilometer entfernten Mediasch. Einen Pfarrer gab es in der evangelischen Kirche im Wohnort nicht mehr, wohl aber zwei deutschsprachige Zeitungen. „Das Abhören deutscher Radiosender ist erlaubt“, fügt sie hinzu. „Aber das Hören von Radio Free Europe ist streng verboten.“

Ziegler schüttelt den Kopf auf Fragen nach Lebensmittelknappheit, Benzinmangel und Kälte in den Wohnungen. „Wir hatten ein eigenes Haus“, erklärt er. „So konnten wir Hühner und zwei Schweine halten. An Weihnachten wurden die Schweine geschlachtet. Das gab Fleisch für das ganze Jahr. Rationiert waren Zucker, Mehl, Öl, Fleisch und Brot. Benzin gab es 30 Liter im Monat. Wir hatten aber kein Auto. . . . Und in unserem Heim war es warm. Geheizt wurde mit Erdgas.“

Sorgen um Arbeitsplätze und Unterkunft machen sich die Zieglers nicht. „Ich suche Arbeit“, sagt Mutter Gerda. „Und ich nehme an, was sich bietet – egal, was.“ Auch Vater Johann ist zuversichtlich, Arbeit auf dem Bau zu finden. Für Tochter Gerda steht fest: „Zuerst mache ich das Abitur.“

Quelle: Walter H. Rueb, „Dank Gorbatschow durften wir raus“, Die Welt, 15. Juni 1989.

Motive der Spätaussiedler (15. Juni 1989), veröffentlicht in: German History in Documents and Images, <https://germanhistorydocs.org/de/ein-neues-deutschland-1990-2023/ghdi:document-3680> [22.04.2024].