Oberflächlich betrachtet erscheinen sowohl Anton von Werner
(1843–1915) und Adolph Menzel (1815–1905) wie bewundernde Maler des
Hoflebens und königlichen Prunks. Bei genauerem Hinsehen jedoch wird
deutlich, dass Menzels Beweggründe und Talente weitaus komplexer waren
als die seines Freundes. Wichtig bei der Betrachtung von Menzels
Das Ballsouper (1878) ist die
Erkenntnis, dass er im Laufe seine langen Karriere nur ein großes Werk
im Auftrag des preußischen Hofes vollendete, nämlich das
Monumentalgemälde zum Gedenken an die Krönung König Wilhelms I. 1861 in
Königsberg. Selbstverständlich war Menzel seit den 1870er Jahren eine
gern gesehene Persönlichkeit bei Hofe und er hatte bereits zahlreiche
königliche, akademische und künstlerische Ehrungen erhalten. Doch in
dieser Phase seiner Laufbahn (man bedenke, dass sein erstes Meisterwerk,
Das Balkonzimmer, aus dem Jahre 1845
datiert) lebte und suchte er Inspiration in der Privatsphäre.
Überwiegend Autodidakt, stand er mit keiner Schule in Verbindung und
bevorzugte es, sich nicht mit Schülern zu umgeben.
Menzels Faszination für die Nebeneinanderstellung von Glanz und
Chaos, Konvention und Formlosigkeit liefert einen Zusammenhang für sein
Interesse an Berlins großen Hofbällen,
die er mit höchster Begeisterung besuchte. Diese lebendigen Ereignisse
hatten für ihn eine Doppelfunktion als Gelegenheiten, Skizzen für
spätere Gemälde vorzubereiten – manchmal konnte man Menzel beobachten,
wie er mit Block und Bleistift auf einem Tisch saß oder eifrig
Zeichnungen auf die Rückseite von Einladungen skizzierte. (Es war
bekannt, dass er Vorbereitungsarbeiten dieser Art in einem besonderen
roten Ordner in einem Schließfach seines Ateliers aufbewahrte.) Somit
lässt sich das hier zu betrachtende Chaos – das sowohl von Komplexität
als auch Spezifität überquillt – am besten als wohl überlegtes Chaos
beschreiben. Auf der rechten Bildhälfte, die fast ausschließlich mit
Frauen bevölkert ist, und ebenso im linken Bildabschnitt, in dem sich
fast nur Männer drängen, gibt es zahlreiche Anzeichen gesellschaftlicher
Betretenheit und Verwirrung. Überall streben die Gäste eine prekäre (und
scheinbar mühelose) Balance an, führen Gespräche, die in sozialem
Aufstieg münden könnten, während sie mögliche Katastrophen, verkörpert
durch verstreutes Essen und fallen gelassenes Besteck, zu umschiffen
versuchen. Die Art von kleinem Rahmen, in dem diese individuellen
sozialen Interaktionen stattfinden, kontrastiert mit Umfang und Dichte
der größeren Besuchermenge, in der jeder dem anderen im Weg zu stehen
scheint.
petite polonaise der
Einzelpersonen weiter. Doch im Gegensatz zu Werner, der sich beim Malen
solcher Szenen große Mühe gab, dass bestimmte Figuren als
zeitgenössische Honoratioren erkennbar waren, präsentiert Menzel über 50
höchst interessante und einzigartige, jedoch letztlich nicht
identifizierbare Gesichter. Während Werner zudem von architektonischer
Präzision besessen war (z. B. versuchte er in der ersten Version der
Proklamierung des
deutschen Kaiserreichs am 18. Januar 1871 (1877) den
Spiegelsaal von Versailles bis ins kleinste Detail wiederzugeben),
entspricht die hier gezeigte Reihe von Räumen keiner im Berliner Schloss
(oder irgendwo außerhalb Menzels Fantasie) zu findenden Konstellation.
Und während Werners eher dokumentarischer Realismus – wiederum am besten
zu beobachten in seiner Proklamierung
– einen Moment festhält, vermittelt Menzels freierer Stil Energie und
Bewegung. Seine Figuren drehen und winden sich, nicken und bücken sich;
das Klimpern von Gabeln auf Tellern und das Rauschen von Kleidern ist
beinahe zu hören; und der Bewegungseffekt ist so betont, dass der Herr
ganz rechts geradewegs aus dem Bildrahmen hinauszuschreiten scheint,
wobei anzunehmen ist, dass er einen Teller und ein Glas Champagner zu
einer unsichtbaren Begleitperson trägt. Die Auflösung von Ordnung und
Rang, auf den Kopf gestellte Konventionen, die Vermischung von Banalität
und Prestige: Dies sind die von Menzel in diesem Gemälde erreichten
Effekte. Doch nicht nur hier.
Zu bedenken ist, dass Das
Ballsouper, bereits 1876 in Angriff genommen, nur kurz nach der
Vollendung von Menzels
Eisenwalzwerk
(1875) entstand, welches das andere Ende des gesellschaftlichen
Spektrums darstellte. Die in diesen beiden Gemälden gezeigten
gegensätzlichen sozialen Welten werden zusammengebracht durch Menzels
Einsatz einer ähnlichen Bildstrategie: Beide Kunstwerke stellen
komplexe, in ebenso komplexen Kompositionen ausgedrückte Szenen dar;
beide laden den Blick des Betrachters zur Durchquerung der gesamten
Gemäldefläche ein – erst von einer Seite zur anderen und dann,
unterstützt durch Diagonalen, vom Vordergrund zum Hintergrund; beide
zeigen soziale Trennlinien und praktische Gemeinschaftsbildung, was
gleichzeitig auf Bedrohung und Anerkennung schließen lässt. Im Gegensatz
zu Werners durchdachtem, traditionellem Realismus ist Menzels Stil
jedoch angetrieben von einer persönlichen und künstlerischen Neugier,
die – mittels Ambiguität – einen Übergang in ein moderneres Zeitalter
bietet.
Der Kunsthistoriker Peter Paret hat die Ansicht geäußert, dass vor
dem Hintergrund Menzels Kunst die deutsche Moderne schärfere Konturen
gewinnt – ihre Widersprüchlichkeiten, unbeschrittenen Wege und
gelegentliche Versessenheit auf Details. Indem er dieses Argument
vorbringt, merkt Paret an, dass es falsch wäre, Menzel lediglich als
einen weiteren „Historienmaler“ einzustufen, wie die zahlreichen
glanzvollen Uniformen und Ballkleider zunächst scheinbar nahe legen.
Ebenso wie der Modernismus nach 1890 den literarischen Realismus und die
konventionelle Erzählkunst hinter sich ließ, so „besitzen“ Menzels
Pinselstriche „große Suggestivkraft“ und „seine Erzählkunst ist Ausdruck
einer durchdringenden Intelligenz“. (Peter Paret,
German Encounters with Modernism,
1840–1945, Cambridge: Cambridge
University Press, 2001, S. 9.) Es überrascht daher also kaum, dass
Künstler vom Rang eines Max Liebermann und des Franzosen Edgar Degas –
der aus reiner Bewunderung eine kleinere Version von Menzels
Ballsouper malte – eine
unwiderstehliche Affinität zwischen Menzels Kunst und ihrer eigenen
erkannten. Auch der dem Realismus zugeordnete Romanschriftsteller
Theodor Fontane verstand, dass Menzels
Unabhängigkeit ihm die Kommentierung der Bismarckschen Gesellschaft
sowohl mit Einfühlungsvermögen und kritischer Distanz erlaubte – eine
Ehrlichkeit, die mit dem Stachel der Ironie oder sogar ein wenig Satire
angereichert war. Das
Ballsouper hilft somit zu erklären, weshalb Menzel Werner darin
übertraf, einen vorausschauenden Individualismus aus dem Schatten der
Bismarckschen Konformität hervortreten zu lassen. Wie Paret es mit Blick
auf Menzel formulierte, empfand der königliche Hof immer ein „stilles
Unbehagen gegenüber den unberechenbaren und unkontrollierbaren Bildern
eines Künstlers, den man sicherheitshalber lieber ehrte als anstellte. [
. . . ] Was [im Ballsouper fehlt, ist
jegliches Anzeichen, dass diese wenigen Glücklichen durch ihre
Anwesenheit im Schloss an einem Stand der höheren Gnade, der von der
Erhabenheit und Machtvollkommenheit der Krone herrührt, teilhaben,
geschweige denn, ihn ausdrücken.“ (Peter Paret,
Art as History: Episodes in the Culture
and Politics of Nineteenth-Century Germany, Princeton: Princeton
University Press, 1988, S. 172.)