Kurzbeschreibung

Die Reichstagsdebatten, die zur Verabschiedung des Sozialistengesetzes von 1878–1890 führten, waren noch nicht abgeschlossen, als im Juli 1878 bereits Pläne zur Bildung eines Netzes von Spionen in ganz Deutschland ins Leben gerufen wurden, um eine zentrale Sammelstelle für Informationen über die sozialdemokratischen und anarchistischen Bewegungen im In- und Ausland einzurichten – eine Art FBI und CIA in Personalunion – und regelmäßige Berichte über diese „Gefahren“ zu erstellen. Die zentralen Figuren hinter dieser Initiative waren der preußische Innenminister Graf Botho zu Eulenburg (1831–1912) und der Berliner Polizeipräsident Guido von Madai (1810–1892). Von 1878 bis 1884 stellte die Berliner Politische Polizei zweimal im Jahr (und danach seltener) die Informationen ihrer Spitzel und der regionalen oder lokalen Polizeibehörden in einer „Übersicht“ über die sozialistischen und anarchistischen Bewegungen zusammen. Im Jahr 1880 wurden diese Übersichten an einen Kreis von 140 führenden Beamten und Polizeidirektoren im In- und Ausland versandt. Schließlich wurden die Berichte auch an die preußischen Landräte verteilt, die in der Regel nur Auszüge erhielten, um zu verhindern, dass eine vollständige Übersicht in die Hände der Sozialdemokraten fiel. Der Bericht vom 12. Januar 1882 wird hier wiedergegeben, jedoch ohne einen späteren Abschnitt (etwa gleich lang wie dieser), der sich mit der „Subversion“ in England, Frankreich, Belgien, der Schweiz, Russland, Amerika und anderen Ländern befasste.

Allgemeine Übersicht über die Lage der sozialdemokratischen und revolutionären Bewegung durch die Berliner Politische Polizei (12. Januar 1882)

Quelle

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Die Agitation wurde auf alle nur mögliche Weise betrieben. Die Parteiführer waren den ganzen Sommer hindurch auf Reisen, um zu ermutigen und Rat zu erteilen, empfingen auch Deputierte der Wahlkreise bei sich oder trafen sich mit solchen am dritten Orte. Vertrauensmänner benachbarter Kreise traten miteinander in Verbindung, um sich gegenseitig zu unterstützen; in Mittweida im Königreich Sachsen versammelten sich einmal sogar Abgesandte sämtlicher Wahlkreise des Königreichs in der Stärke von 60 Mann.

Um die Agitation in die Massen zu tragen, wurden gemeinsame Ausflüge und Festlichkeiten arrangiert, zu denen mehrfach unverdächtige Vereine ihren Namen hergeben mußten, auch größere geheime Versammlungen abgehalten, aus deren Zahl hier nur diejenigen hervorgehoben werden mag, welche anfangs Oktober in der Nähe von Fürth unter Teilnahme von 400 Personen stattfand.

Nachdem der Versuch, öffentliche Parteiversammlungen durch die Vorschiebung irgendeiner der Behörde als Sozialist noch nicht bekannten Person als Unternehmer zustande zu bringen, mißlungen war, griff man auf das bereits von früher her geläufige Mittel, sich bemerkbar zu machen, zurück, drängte sich in den Versammlungen anderer Parteien und erwartete dort eine Gelegenheit, das Wort zu ergreifen und nach einigen farblosen Redewendungen ganz unerwartet den Namen des sozialistischen Kandidaten zu proklamieren. Wenngleich dieses Vorgehen überall, wo es zur Anwendung kam, besonders in Berlin, Magdeburg, Ottensen und einigen Städten Bayerns, die sofortige Auflösung der betreffenden Versammlung nach sich zog, so war doch der Zweck durch die Namensnennung schon erreicht.

Ferner wurden mit großem Eifer Wahlflugblätter aller Art verfaßt und zum Druck vorbereitet. Der Druck der Blätter und der Stimmzettel wurde fast ausnahmslos in Deutschland selbst, und zwar in Leipzig, Nürnberg, Berlin, Magdeburg, Braunschweig, Breslau, Dresden pp. ausgeführt, während zur Irreführung der Behörden Zürich als Druckort darauf angegeben wurde.

Die Verbreitung der Flugblätter wurde auf Weisung der Parteileitung, um den Eindruck möglichst frisch zu erhalten, auf die letzten Tage vor den Wahlen verschoben, dann aber mit großer Energie und Geschicklichkeit ins Werk gesetzt. In Dresden z. B. verteilten etwa 300 Mann in wenigen Abendstunden 40 000 Exemplare.[1] In Altona verwendete man Frauen und Mädchen, welche die Blätter im Busen versteckten und dadurch gegen vorzeitige Entdeckung sichern mußten, während in Breslau Kinder dieselben in Botanisiertrommeln den Verbreitern nachtrugen.

Während derartige Vorbereitungen fast überall in gleicher Weise betrieben wurden, war die spezielle Organisation der Wahlagitation den einzelnen Wahlkomitees und wo solche nicht besonders gewählt waren, Vertrauensmännern überlassen, welche dieselben den lokalen Verhältnissen anzupassen hatten. Hierher gehört z. B. für Berlin die Anfertigung metallener Schablonen, um die Namen der Kandidaten mittelst Farben auf Zäune, Haustüren, Bürgersteige und dergl. aufzutragen und auf diese Weise möglichst allen Genossen bekanntzugeben, sowie die Anmalung einer vierseitigen Figur mit der Inschrift „Wählt“ zur Empfehlung des Kandidaten Viereck.

Auch für die Beschaffung von Geld wurde nach Kräften gesorgt. Den Grundstock bildete die größte Hälfte der 12 000 Mark, welche Fritzsche und Viereck aus Amerika mitgebracht hatten. Dazu kamen freiwillige Spenden reicher Parteigenossen, unter denen sich, wie immer Höchberg durch die Hingabe von ungefähr 10 000 Mark ausgezeichnet hat, sowie die Erträge von Festlichkeiten, Verlosungen und Hauskollekten.

Außerdem wurden die Unterstützungen der Ausgewiesenen und ihrer Familien auf das Allernotwendigste herabgesetzt, um die dadurch ersparten Summen zu Wahlzwecken disponibel zu machen. Die Parteileitung scheute sich auch nicht, Angehörige anderer Parteien um Beiträge unter dem Vorgeben anzugehen, daß dieselben zu Unterstützungszwecken verwendet werden sollten, und Gelder, welche ihnen freiwillig geboten wurden, anzunehmen. Erst kürzlich ist im Reichstag konstatiert worden, daß auf diese Weise die Fortschrittspartei nicht unbedeutende Beiträge geleistet hat. Es wurden aber außerdem noch Briefe an Hunderte von Privatpersonen aller Stände abgeschickt, auf deren Mildtätigkeit man glaubte rechnen zu können. Für den Fall, daß durch diese Mittel nicht die erforderlichen Gelder beschafft werden sollten, hatte man in Aussicht genommen, den Betrag des auf die Monate Juli, August und September fallenden Steuererlasses[2] von Partei wegen zu erheben und den Bezug des „Sozialdemokrat“ für eine gewisse Zeit einzustellen. Es bedurfte indessen dieser äußersten Maßregeln nicht. Die gesammelten Gelder wurden, soweit sie nicht gleich an Ort und Stelle zur Verwendung kamen, an Bebel abgeliefert und von diesem an die einzelnen Wahlkreise nach Bedarf verteilt.

Das Ergebnis der Wahlen hat im allgemeinen der darauf verwendeten Mühe entsprochen.[3] Daß die Sozialdemokratie dabei mehr Sitze erworben hat, als sie bisher innehatte, ist zwar nicht ihr Verdienst allein, wie der Mißerfolg bei dem ersten Wahlgang beweist, sondern zum großen Teil den gegnerischen Parteien zuzuschreiben, deren gegenseitiger Haß so groß war, daß sie die Wahl eines Sozialdemokraten lieber sahen als die eines anderen Gegners. Am meisten trat dies in Breslau hervor, wo die Konservativen, und in Hanau, wo die Fortschrittspartei in der Stichwahl offenbar für den sozialistischen Kandidaten gestimmt haben. Der Vorgang in Hanau ist um so bemerkenswerten, als einige Wochen vorher Frohme[4] in einem offenen Briefe sehr heftige Ausfälle gegen die Fortschrittspartei gemacht hatte. Eine Erklärung für dieses eigentümliche Verhalten kann nur in der schon so oft hervorgehobenen und anscheinend unüberwindlichen Sympathie gefunden werden, welche die Fortschrittspartei für die Sozialdemokratie hegt und ohne Ansehen der Umstände bekunden zu müssen glaubt. Der „Sozialdemokrat“ hat deshalb nicht ganz unrecht, wenn er in der Nummer vom 17. November sagt, das Bild der Zerfahrenheit unter den Gegnern sei der höchste Triumph der Sozialdemokratie. Letztere werde bald für das größte, bald für das kleinere Übel erklärt, man bemühe sich nur, ihre Stimmen zu fangen, und führe ihr in demselben Augenblick die eigenen zu.

Die Wahlen haben aber beweisen, daß die Partei noch ebenso stark ist wie im Jahre 1878.

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Die Partei ist deshalb mit dem Ergebnis der Wahlen durchaus zufrieden, gibt ihrer Freude darüber unverhohlen Ausdruck und knüpft daran allerlei Hoffnungen für die Zukunft. Der „Sozialdemokrat“ meint sogar, durch die Wahlen sei das Gesetz vom 21. Oktober 1878 so gründlich ad absurdum geführt wie möglich, und ruft triumphierend aus: „Den Herrschern ist der Schreck in die Glieder gefahren, sie fühlen, daß es mit ihrer Herrlichkeit zu Ende geht. Darum Platz da, ihr Reichen und Mächtigen dieser Erde, Platz für die Armen und Unterdrückten; wir fürchten Eure Drohungen nicht, folgen Euren Verlockungen nicht, wir fordern jetzt.“[5]

Diese zur Schau getragene Siegeszuversicht ist indessen nicht ganz gerechtfertigt. Das Gesetz vom 21. Oktober 1878 ist durchaus nicht ohne jede Wirkung geblieben. Daß durch Strafbestimmungen wirkliche Überzeugungen weder umgestoßen noch daran gehindert werden können, weiter Wurzeln zu fassen, ist klar. Dies ist aber auch gar nicht der Zweck des Gesetzes, und es ist deshalb nicht dadurch bewiesen, daß trotz des Vorhandenseins desselben die Zahl der Sozialdemokraten ungefähr auf demselben Niveau wie vorher geblieben ist. Das Gesetz will in der Hauptsache nur der frivolen öffentlichen Aufreizung der Massen entgegentreten und durch Beseitigung der Hetzereien der Führer der ruhigen Überlegung Raum schaffen, und dies ist im allgemeinen erreicht.

Durch sorgfältige Beobachtung der Verhältnisse und strenge Anwendung der Strafbestimmungen ist es aber außerdem auch gelungen, die geheime Agitation erheblich zu erschweren, die Organisation der Partei, wenigstens an einigen Hauptorten, durch Entfernung der hervorragensten Persönlichkeiten empfindlich zu stören und sogar hie und da die Lust zur ferneren Beteiligung an der Bewegung ganz zu benehmen. Aus diesem Grunde haben sich z.B. Hartmann, die Gebrüder Kapell und einige andere, z. B. Hamburger, zurückgezogen; Mutlosigkeit gab auch die Veranlassung zu Vahlteichs Auswanderung,[6] und es kann wohl nicht ausbleiben, daß diese Beispiele im Laufe der Zeit Nachahmung finden. Außer diesen offenbaren Wirkungen des Gesetzes, die allerdings nur durch Anwendung der größten Aufmerksamkeit seitens der berufenen Behörden erzielt werden konnten und auch nur unter dieser Voraussetzung eine Ausdehnung für die Zukunft erhoffen lassen, deuten aber gewisse weitere Anzeichen darauf hin, daß auch aus anderen Gründen eine Besserung der Zustände nicht außer dem Bereich der Möglichkeiten liegt.

Obwohl der „Sozialdemokrat“ feierlich erklärt hat, die Partei paktiere nicht mit ihren Feinden,[7] so sind dennoch während der Wahlperiode mehrfach Kompromißverhandlungen zwischen der Sozialdemokratie und andern Parteien, entweder von der ersteren selbst angebahnt oder, wenn die Anregung von anderer Seite ausging, nicht direkt abgelehnt worden.

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In welche Richtung sich diese Anfänge entwickeln werden, dürfte in der Hauptsache davon abhängen, ob Bebel den dominierenden Einfluß, welchen er als der geistig bedeutendste und energischste Führer auf die Partei seit einiger Zeit wieder gewonnen hat, behalten und auszunutzen verstehen wird. Ist dies der Fall, so ist an ein Einlenken der Sozialdemokratie nicht zu denken, denn Bebel selbst ist, wie bereits früher bemerkt, jedem Kompromiß durchaus abgeneigt.

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Anmerkungen

[1] Vgl. hierzu Bebel, Leben, S. 768f.
[2] Durch das Gesetz vom 18. Februar 1881 war die sogenannte Klassensteuer bei Jahreseinnahmen unter 1200 Mark beseitigt worden.
[3] Bei den Reichstagswahlen am 27. Oktober 1881 wurden für die sozialdemokratischen Kandidaten 311961 Stimmen abgegeben, d. h. 6,1 % [].
[4] Karl Franz Egon Frohme (18501933), Maschinenbauer, Schriftsteller, seit 1868 Mitglied des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, nach dem Vereinigungskongreß 1875 einer der führenden Opportunisten orthodoxer Lassalleaner, unter dem Sozialistengesetz Delegierter der Parteikongresse 1880 und 1883; Mitglied des Deutschen Reichstags 1881–1918. []
[5] Nichtwörtliche Zitierung aus dem Artikel „Unser der Sieg trotz alledem!“ In: Der Sozialdemokrat, 3. November 1881.
[6] Julius Vahlteich mußte auswandern, weil er durch das Sozialistengesetz seine Existenz verloren hatte.
[7] Vgl. Der Sozialdemokrat, 6. Februar 1881 und 13. Oktober 1881.

Quelle: Berlin Polizeipräsident [Guido] von Madai, „Allgemeine Übersicht über die Lage der sozialdemokratischen und revolutionären Bewegung“, 12. Januar 1882; Brandenburgische Landeshauptarchiv Potsdam, Pr. Br. Rep. 30 Berlin C Polizeipräsidium Tit. 94 Lit. S Nr. 1255 Bd. 1, Bl. 278-299 R; abgedruckt in Dieter Fricke und Rudolf Knaack, Hrsg., Dokumente aus geheimen Archiven. Übersichten der Berliner politischen Polizei über die allgemein Lage der sozialdemokratischen und anarchistischen Bewegung 1878–1913. Band 1, 1878–1889. Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger, 1983, S. 109–15.