Kurzbeschreibung

Die Berichte britischer Diplomaten, die in den Hauptstädten der deutschen Bundesstaaten stationiert waren, liefern eine durchaus einzigartige Sicht auf die sozialdemokratische Bewegung während der Ära Otto von Bismarcks, ihr Abschneiden bei Wahlen und die Versuche, sie zurückzudrängen. Im vorliegenden Fall ergeben die Berichte aus Dresden, der Hauptstadt des Königreichs Sachsen — dem drittgrößten Bundesstaat im deutschen Kaiserreich mit über 3,5 Millionen Einwohnern im Jahr 1890 — eine Chronik des beachtlichen Anwachsens der SPD in einer hochindustrialisierten und urbanisierten Region des Reiches. Die britischen Gesandten hatten große Spielräume, um die abgegrenzten politischen Welten in der Region des Bundes, in der sie akkreditiert waren, zu erkunden und darüber zu berichten. Sie führten regelmäßig vertrauliche Gespräche mit Staatsministern, mit denen sie im Lauf der Zeit gut bekannt wurden; sie sammelten statistisches Material über den Wettstreit in einzelnen Wahlkreisen und beurteilten sie im Vergleich zur Presseberichterstattung und dem vor Ort kursierenden Tratsch. Zugleich waren sie in der Lage, örtliche Besonderheiten mit nationalen und internationalen Entwicklungen in einen Zusammenhang zu bringen — im vorliegenden Fall mit der deutschen und europäischen Arbeiterbewegung. Aussagekräftig ist in diesem Kontext eine Bemerkung, die vor langer Zeit der in Stanford lehrende Historiker James J. Sheehan machte: „Ein großer Teil der politischen Aktivitäten, die auf nationaler Ebene stattfinden, zielt darauf ab, Probleme zu vereinfachen, Ausrichtungen zu klären, die Politik auf eine Reihe binärer Entscheidungen zu reduzieren. (...) Aber (...) in der Welt der Lokalpolitik sind die Entscheidungen oft fließender, die Allianzen unsicherer, die Kombinationen komplexer.“

Die ersten Berichte (von 1871) wurden von dem britischen Gesandten Joseph Hume Burnley (1821–1904) verfasst, der von 1867 bis 1873 aus Dresden berichtete. Sein Nachfolger war George Strachey (1828–1912), der von 1874 bis 1897 in Dresden tätig war. Aus Stracheys aufschlussreichen Depeschen aus der sächsischen Hauptstadt in chronologischer Reihenfolge wird ersichtlich, dass er in den 1880er Jahren allmählich zu der Überzeugung gelangte, dass das staatliche Zurückdrängen der Sozialdemokraten, etwa durch den Versuch von stärker nach rechts orientierten Parteien, die Wähler gegen sie zu mobilisieren, ein hoffnungsloses Unterfangen war. Strachey war kein unkritischer Bewunderer sozialdemokratischer Politiker oder gar der sozialistischen Lehre, aber er zollte August Bebel (1840–1913) und Wilhelm Liebknecht (1826–1900) mehr als nur widerwilligen Respekt. „Sehr wenige Sachsen“, so berichtete Strachey am 26. Oktober 1881, „sind politisch gebildet genug, um zu erkennen, wenn es einen Bebel gibt, so sollte er im Parlament sitzen.“ Stracheys Sarkasmus zielte in andere Richtungen: gegen Bismarck oder gegen nationalliberale und konservative Politiker und Redakteure oder gegen Minister der Regierung oder gegen Richter und Spione und die Polizei, die nach seinem Empfinden ebenso zynisch wie irregeleitet waren in ihrem Versuch, politische Heterodoxie durch Repression auszumerzen.

Die sozialdemokratische Bewegung: Wachsende Wahlerfolge und staatliche Repression (1871–1890)

Quelle

Joseph Hume Burnley an Earl Granville, Nr. 10, Dresden (31. Januar 1871)

Auch wenn es die Sozialdemokratie hier ebenso gibt wie überall, wird sie von der Regierung zu energisch unterdrückt, als dass sie jemals gefährlich werden könnte, solange die repressiven Maßnahmen von Polizei und Militär mit vereinten Kräften und kompromisslos durchgeführt werden. Der von den Braunschweiger Demokraten[1] unternommene Vorstoß fand einen gewissen Widerhall in Sachsen, und in Zwickau wurde eine Versammlung zu dem Thema angeregt, die aber von der Regierung sogleich unterbunden wurde, und weder von der Zusammenkunft noch von den Demokraten ward weiter etwas gehört.

Dass kürzlich in Leipzig die beiden sächsischen Abgeordneten im Berliner Reichstag, die sozialdemokratischen Politiker Bebel und Liebknecht, wegen verräterischer Handlungen verhaftet wurden[2], ist ein deutlicher Beweis, dass die deutsche Regierung weiß, wie man etwas abwehrt, was sich zu einem störenden Element auswachsen kann, wenn man nicht beherzt eingreift. Und da der deutsche Arbeiter mehr Wohlergehen genießt & viel mehr Möglichkeiten hat, seine Zeit vernünftig an Vergnügungsstätten zu verbringen, die von Arm und Reich in bester Kameradschaft und Harmonie aufgesucht werden, glaube ich nicht, dass die arbeitenden Klassen viel Grund zur Klage haben.

Quelle: The National Archives, UK, FO 68/153; abgedruckt in Markus Mößlang und Helen Whatmore, Hrsg., British Envoys to the Kaiserreich, Bd. 1, 1871–1883, S. 271 f.

J[oseph]. Hume Burnley an Earl Granville, Nr. 57, Dresden (6. November 1871)

Im Chemnitzer Streik gibt es keine neue Phase. Die Arbeiter haben sich bislang ordentlich verhalten und sind in manchen Fällen der Aufforderung der Eigentümer gefolgt, die Arbeit wieder aufzunehmen unter der strikten Zusicherung, dass nicht zugelassen wird, dass sie von den Abweichlern belästigt werden. In einer Fabrik kehrten rund 3/5 der Arbeiter zurück, und in einer oder zwei anderen Fabriken die Hälfte. Zugleich […] werden die Gesetze energisch angewandt, falls es sich als notwendig erweisen sollte, eine Störung oder Einschüchterung abzuwehren. Einen ersten Schritt in diese Richtung hat der Chemnitzer Stadtrat bereits unternommen, indem er die Arbeiter warnte, dass nach § 153 der Gewerbeordnung solche widerrechtlichen Handlungen mit 3 Monaten Haft geahndet werden, sofern das deutsche Strafgesetzbuch nicht eine noch höhere Strafe vorsieht. []

Das wichtigste hiesige Organ der Sozialdemokratischen Partei ist der „Volksbote“, der von einem gewissen Dr. Walster herausgegeben wird und in dem gewohnten fanatischen Ton solcher Druckschriften verfasst ist, in denen der Fabrikant mit möglichst viel Hass überschüttet wird, der grundsätzlich für einen Tyrannen gehalten wird, von dem nichts Gutes zu erwarten ist.

Solche Druckerzeugnisse richten immensen Schaden an und gewöhnen die Arbeiter oft an zum größten Teil ungerechte Gedankengänge. […]

Auf diese Weise gewinnt derzeit eine gewaltige gesellschaftliche Umwälzung an Boden, die zwangsläufig in beklagenswerten Konflikten enden wird, wenn die niederen Stände nicht vom Gängelband ihrer gegenwärtigen Herrscher befreit werden und ihnen nicht beigebracht wird, auf den Rat anderer zu hören, die aufgrund ihrer Stellung und Bildung besser qualifiziert sind, sie zu lehren.

Quelle: The National Archives, UK, FO 68/153; abgedruckt in Mößlang und Whatmore, Hrsg., British Envoys to the Kaiserreich, Bd. 1, 1871–1883, S. 274 f.

George Strachey an Earl Granville, Nr. 2, Dresden (17. Januar 1874)

Zwanzig der vierundzwanzig [sic, statt dreiundzwanzig] sächsischen Wahlen zum Reichsparlament sind abgeschlossen. Das Ergebnis lautet […], dass die Sozialdemokraten überraschend stark abschneiden und nicht weniger als 6 Mitglieder nach Berlin entsenden, nachdem ihr voriges Aufgebot nur aus [August] Bebel und dem zweifelhaften [Reinhold] Schraps bestand. Sachsen hat damit, wie es scheint, doppelt so viele Sozialdemokraten gewählt wie das gesamte übrige Reich: Sachsen und Preußen sind die einzigen deutschen Staaten, in denen Angehörige dieser Partei gewählt wurden.

Die hiesige Überlegenheit der Sozialdemokratie ist sowohl real als auch wahlkämpferisch begründet. Nach einer gewöhnlichen Schätzung sind rund zwei Drittel der in Industrie oder Landwirtschaft arbeitenden Bevölkerung Sozialisten. Dort, wo in den Dörfern wie auch in den Städten Fertigungsindustrie ansässig ist, wird eine solche Stärke zur unaufhaltsamen Kraft. Die Sozialdemokraten haben allerdings ihrer absoluten und distributiven Kraft weniger zu verdanken als ihrer Energie und ihrem Geschick beim Wahlkampf. Eine nationalliberale Zeitung wittert hinter dem unliebsamen Vormarsch der Sozialdemokratie eine „Jesuitenintrige“: Ich jedoch komme zu dem Schluss, dass diese verhasste Gruppe sich angemessen der klassischen englischen Methoden des Wahlkampfes bedient hat, während die Liberalen die entscheidenden Taktiken, Kandidaten und Komitees vernachlässigt und mehr auf ihre Wünsche als auf ihre Energien vertraut haben.

Quelle: The National Archives, UK, FO 68/158.

George Strachey an den Earl of Derby, Nr. 6, Dresden (21. März 1874)

Von dem Königreich, das den wichtigsten Ort kontinentaler Gelehrsamkeit besitzt[3] und von sich behauptet, es sei zusammen mit den benachbarten thüringischen Staaten das geschichtliche Zentrum der deutschen Zivilisation, hätte man erwarten können, dass es eine gewisse Missbilligung des Reichspressegesetzes erkennen ließe.[4] […]

Ich vermute, dass eine große Mehrheit der Wähler aus Dresdens Ober- und Mittelschicht es nicht bedauern würden, wenn das Gesetz in seiner drakonischen Ursprungsform wiederhergestellt würde.[5] […] Es herrscht extreme Verbitterung gegen die Sozialisten wegen ihres starken Abschneidens bei den Wahlen in jüngster Zeit, wegen Streiks, steigender Löhne und der damit einhergehenden Preissteigerung, die sich in dieser Hauptstadt inzwischen sehr stark bemerkbar macht. […] [N]iemandem, der die Deutschen als Individuen und durch ihre wichtigsten Manifestationen und Kontroversen in den verschiedenen Kulturzweigen einigermaßen kennt, können ihre extremen persönlichen Empfindlichkeiten, ihr schwankendes Gemüt, ihre Ungeduld, ihr Spott, Sarkasmus und Widerspruch verborgen bleiben. Aufgrund dieser Konstitution sympathisieren sie bereitwillig mit Systemen, die heftige Kritik an Staatspersonen und staatlichen Maßnahmen bestrafen und Minderheiten zum Schweigen bringen.

Quelle: The National Archives, London, FO 68/158; abgedruckt in Mößlang und Whatmore, Hrsg., British Envoys to the Kaiserreich, Bd. 1, 1871–1883, S. 280 ff.

George Strachey an den Earl of Derby, Nr. 42, Dresden (3. Dezember 1874)

Das Königreich Sachsen ist, wie Sie wissen, die wichtigste Hochburg der deutschen Sozialdemokratie. Bei der Reichstagswahl vor zehn Monaten [Januar 1874] ging rund die Hälfte aller Stimmen an diese Partei […]. Die Bedeutung dieser Zahlen als Anzeichen für die wachsende Macht der Sozialdemokratie habe ich seinerzeit in meiner Korrespondenz erläutert. Heute möchte ich die Gelegenheit nutzen, die Haltung der proletarischen Klassen in Sachsen zur Pressefreiheit und zum Vereins- und Versammlungsrecht zu beschreiben.

1. […] Die Politiker und Zeitungen der achtbaren Fraktionen wahren in Bezug auf die Sozialdemokratie beachtliches Stillschweigen. Dies liegt zum Teil an der Indisposition der deutschen Eigenheiten des am Wesen des deutschen Geistes, der es zufrieden ist, wenn er sich seine Unwissenheit über Minderheiten bewahrt bis der Zeitpunkt gekommen ist, den Versuch zu unternehmen, sie zu verdreschen; zum Teil liegt es daran, dass es schwer ist, die Sachverhalte von Prozessen zu ermitteln, die wegen der geringeren Schwere des Verschuldens von der Kategorie der Geschworenenfälle ausgeschlossen sind und daher meist in Geheimverfahren verhandelt werden. Wenn also eine Versammlung von der Polizei aufgelöst oder ein Redakteur für ein Jahr ins Gefängnis geschickt wird, wird dies außer von den sozialdemokratischen Organen selten erwähnt. […]

2. Pressefreiheit.

[…] Ich vermute, dass kein sächsischer Sozialdemokrat sich niedersetzen und einen politischen Paragraphen oder Artikel schreiben kann, ohne das Gefühl zu haben, dass er bereits mit einem Fuß im Gefängnis ist. In den Genuss der Freiheit, dass in den Zeitungen tatsächlich über Staatspersonen und öffentliche Angelegenheiten diskutiert wird, kommt der sächsische demos nicht. Es ist eindeutig, dass die Sozialdemokraten unterschiedlich hart behandelt werden, wenngleich die Gerechtigkeit nahezulegen scheint, dass dem Stil einem ehemaligen wandernden Drechslergesellen wie [August] Bebel, einem Buchbinder wie [Johann] Most, einem Schuhmacher wie [Julius] Vahlteich (neuerdings Herausgeber der Chemnitzer Fr. Presse) vielleicht ein größerer Spielraum von Tatkraft und Schmähung gewährt zu werden scheint als Professoren aus gutem Hause wie [Heinrich von] Sybel und [Heinrich] von Treitschke.

3. Redefreiheit.

Verhaftungen wegen Äußerungen bei öffentlichen Versammlungen kommen nicht häufig vor, weil die Strafverfolgung energisch angewandt wird. Bei jeder Versammlung oder jedem Vortrag, der sich als öffentlich einstufen lässt, sind Polizeiagenten zugegen, die den Vorsitzenden sofort auffordern, einzuschreiten, sobald ein Redner Themen zu erörtern versucht, die nicht im Programm erwähnt werden, das vorher unbedingt der Polizei vorgelegt werden muss, oder sobald eine einzige den Agenten missliebige Bemerkung fällt. Sollte der Vorsitzende den Redner zu langsam zur Ordnung zu rufen, drohen die Agenten ihm Konsequenzen an: Wenn er sich weiterhin weigert, lösen sie die Versammlung auf. […]

Arbeiterversammlungen werden andauernd von der Polizei aufgelöst. […] Vor nicht langer Zeit geschah es, dass ein Redner, der die heutigen Grade der deutschen Freiheit in einer Art und Weise beschrieben hatte, die dem Polizeiagenten missfiel, fortfuhr: „... und ich kann zum Beispiel nicht sagen, ob nicht morgen, wenn ich aufwache, die Polizei neben meinem Bett steht, um mich zu verhaften“. Daraufhin wurde der Vorsitzende aufgefordert, den Redner anzuweisen, sich zu setzen, und als dieser sich weigerte, löste die Polizei die Versammlung auf: In einer solchen Situation würde vermutlich zudem der Redner in Haft genommen. Religionswidrige Bemerkungen werden immer generell immer unterbunden. Kürzlich entschied ein Berliner Gericht, dass die Personen der Gottheit und ders Kaisers zu heilig sind, um Diskussionsgegenstand zu sein. Beinahe ebenso sakrosankt sind die militärischen Institutionen des Reiches. Ein gewisser [Ignaz] Auer behauptete in einer Rede, das System der Einjährig-Freiwilligen der Armee verleihe ein Klassenprivileg, was kein vernünftiger Mensch in Abrede stellen würde, obwohl nur ein SozialdemokratAuer und seine Freunde an einer so gerechten sinnvollen Institution etwas auszusetzen haben. […] Auer wurde mit zehn Tagen Haft bestraft. […]

Dass, wie berichtet, Redner mitten im Satz zum Schweigen gebracht werden, wenn sie etwas Gefährliches äußern, gilt nur für die Parteileute der unteren Ränge. Doch wie der Herzog von Alba weiß die deutsche Justiz zwischen kleinen Reptilien und großen Fischen zu unterscheiden[6] Wortführern, insbesondere Reichstagsmitgliedern wie Bebel, [Wilhelm] Liebknecht oder Most, wird so viel Spielraum gewährt, wie sie sich nehmen. So gestattete man zum Beispiel Most (Abgeordneter für Chemnitz), sich für 19 Monate ins Gefängnis zu reden. […] Im Urteilsspruch heißt es, die von Most vorgebrachten Argumente für die Rechtsgrundlage der Pariser Commune seien vielleicht in der Versailler Nationalversammlung oder vor einem gebildeten Publikum oder auf einer Versammlung von Feinden der Commune zulässig, aber vor mutmaßlichen Sympathisanten dieser Institution habe sie den Charakter einer Straftat. […]

4. Die Einstellung der Sozialdemokraten zur Vereinigungsfreiheit lässt sich in wenigen Zeilen beschreiben. Jeder Verein, dessen Tätigkeit politische, religiöse, soziale oder erzieherische Gegenstände berührt, muss der Polizei einen vollständigen Bericht über seine Zielsetzung, Organisation, Führungsorgan etc. vorlegen, und die Polizei kann nach eigenem Ermessen diesen Verein verbieten oder auflösen. Kein Verein darf sich mit andernorts ansässigen Dach- oder Filial- oder ähnlichen Organisationen zusammentun oder mit Hilfe von Komitees, Abordnungen oder Briefen mit ihnen korrespondieren. Ein Sozialdemokratischer Zusammenschluss in Dresden darf nicht mit einem gleichgearteten Verein in Meissen oder Leipzig oder mit dem Zentralen Komitee der Fünf in Verbindung stehen. […]

6. Dies, Eure Lordschaft, ist die Situation der sächsischen Sozialdemokraten. Es gibt keine besonderen Angriffe auf sie, wie jüngst in Preußen und Bayern: Das hier gezeichnete Bild zeigt einen Normalzustand, der nicht nur im Königreich, sondern im gesamten Reich herrscht, wo auch immer die Sozialdemokratie ein sichtbares, konzentriertes Leben führt. […] Verfolgungen und Verurteilungen laufen mechanisch in ihrer herkömmlichen Spur. Ministerieller Druck auf Staatsanwälte und Richter ist nicht vonnöten […]. Man darf darauf vertrauen, dass der natürliche Eifer einer höchst konservativen Klasse, die den demos als wildes und widerspenstiges Untier betrachtet und weiß, dass die herrschende Klassen Mehrheit einen drakonisch scharfen Zwang gutheißt und einfordert und tendenziös formulierte Gesetze und die Möglichkeiten einer konstruktiven und falschen Auslegung bestens zu nutzen versteht.

Quelle: The National Archives, UK, FO 215/34 (Entwurf), FO 68/158 (Endfassung).

George Strachey an den Earl of Derby, Nr. 5, Dresden (27. Januar 1877)

Dem Berliner Beispiel folgend, hat Dresden einen Sozialdemokraten wiedergewählt. Die Wahlbeteiligung war mit ¾ des Wahlkreises enorm. Das Ergebnis: [August] Bebel 10.830, [Karl] Mayhoff (Nat. Lib.) 9.930. […]

Soweit bekannt, ist Bebels Sieg der einzige sozialdemokratische Sieg in der zweiten Runde der [Stich-]Wahlen. Wenn das zutrifft, hat sich ihre ursprüngliche Stärke von 6 nur um 1 erhöht. […] Der moralische Triumph ist größer als der zahlenmäßige. Einen vollständigeren Sieg hätte der Nachfolger von [Ferdinand] Lassalle [d. h. Bebel] nicht erringen können als seine Wiederwahl in der zweiten Hauptstadt Deutschlands, in der es zwar auch Fabrikationsindustrie gibt, die aber im Großen und Ganzen eine Residenzstadt der alten Art ist, deren Bevölkerung eine ungewöhnlich große Zahl selbstständiger und wohlhabender Personen beigemischt ist.

Quelle: The National Archives, UK, FO 68/161.

George Strachey an den Marquess of Salisbury, Nr. 14, Dresden (16. Mai 1878)

Die Nachrichten von dem Anschlag auf das Leben des Kaisers wurden hier von allen außer den extremen Anhängern der Sozialisten oder Partikularisten mit gebührenden Respekts- und Achtungsbekundungen für Seine Majestät aufgenommen.[7] Es ist damit zu rechnen, dass derlei beklagenswerte Vorfälle sich wiederholen, solange der deutsche Umgang mit missliebigen Minderheiten so bleibt, wie er ist. Vor rund 3½ Jahren habe ich in einem umfassenden, auf eigener Beobachtung fußenden Bericht gezeigt, wie es dazu kam, dass die Sozialdemokraten auf der einen Seite volle politische Rechte genießen und auf der anderen Seite keine aktiven Mitglieder der Partei der anhaltenden Gewissheit von Verfolgung und Bestrafung wegen Fehlverhaltens und Verleumdung entgehen. […] Aufgrund der Schwächen der nationalen Gemütsart sind die Deutschen sehr intolerant gegenüber Kritik, sodass es einen konstanten Fluss von Verfolgungsmaßnahmen gibt, eingeleitet von empfindlichen Beamten oder von den Vertretern staatlicher Organe, Institutionen, Berufsstände und Sektionen (Armee, Klerus, Polizei, etc. etc.), die vielleicht in ihrem Gemeinschaftscharakter und ihrem Handeln infrage gestellt wurden. […]

[Max] Hödels Anschlag in Berlin veranlasste manche nationalliberalen Organe, erneut darauf hinzuweisen, dass ein neuerlicher legislativer Kreuzzug gegen die sozialistische Propaganda geboten sei, die nach ihrer Überzeugung keinen Anspruch auf die Toleranz habe, die den „rechtmäßigen Parteien“ gebührt. Verantwortungsvolle Politiker werden sich ohne Zweifel dagegen wehren, dass der Reaktion so der Weg geebnet wird, doch die in jüngster Zeit zunehmende Stärke der Sozialdemokratie, die sich zum Beispiel an [August] Bebels Dresdner Wiederwahl in den Reichstag zeigt, und die überraschenden Wahlen in Berlin,[8] ganz zu schweigen vom schrittweisen Vordringen der Partei in kommunale Ämter, haben die Öffentlichkeit so aufgeschreckt, dass die Einführung eines Sechs-Artikel-Systems[9] meines Erachtens nicht auf allgemeine Ablehnung stoßen würde. Strikte Repression würde zweifellos einige ihrer Ziele erreichen, wohingegen […] die giftigsten Klassenfeindschaften und politischen Leidenschaften aufgestaut und am Leben erhalten werden.

Quelle: The National Archives, UK, FO 68/162; abgedruckt in Mößlang und Whatmore, Hrsg., British Envoys to the Kaiserreich, Bd. 1, 1871–1883, S 336 ff.

George Strachey an Earl Granville, Nr. 44, Dresden (10. November 1881)

Derzeit tagt der [sächsische] Landtag, der alle zwei Jahre zusammentritt.

Die erste politische Angelegenheit, mit der die 2. Kammer befasst wurde, war eine Interpellation der drei sozialdemokratischen Mitglieder [August] Bebel, [Wilhelm] Liebknecht und [Ludwig Emil] Puttrich zu der Frage, welche Gründe die Regierung dazu veranlasst hatten, über Leipzig den „kleinen“ Belagerungszustand zu verhängen.

Bebel legte dar: Wenn die Regierung der Meinung gewesen sei, dass die öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährdet ist, so hätte sie sich nicht mit der Beseitigung der inkriminierten Personen zufriedengegeben, sondern gegen die Sozialdemokratie alle Befugnisse ausgeübt, die ihr nach deutschem Recht zu Gebote stehen, und zudem die vermeintlichen Schuldigen wegen Verstoßes gegen das sächsische Gesetz gegen die entsprechenden Vereine belangt. Die angeblichen Geheimtreffen seiner Partei hätten nie stattgefunden: Einen Austausch mit russischen Nihilisten habe es nicht gegeben, und die gesammelten Gelder seien für aus dem Reich ausgewiesene Parteigänger bestimmt gewesen. […] All diese Vorgänge hätten nichts mit der Angst um Ordnung und Sicherheit zu tun, die von niemandem gefährdet worden seien. Der wahre Grund sei vielmehr, dass die sächsische Regierung die Wahlen habe beeinflussen wollen, indem sie sich einer Reihe missliebiger Personen entledigt, die sich angeblich an der sozialdemokratischen Propaganda beteiligten. […]

Herr [Hermann] von Nostitz [-Wallwitz] als Minister des Innern […] legte dar, […] die Partei strebe mit ihrem Programm die Beseitigung der Monarchie, des Privateigentums und der Religion und den Aufbau des Kommunismus und Atheismus an. Ihre Tätigkeit gestalte sich so, dass in Sachsen die durch das Gesetz von 1878 verbotenen Zeitungen weitgehend durch Pamphlete und Flugblätter ersetzt worden seien; anstelle der untersagten Vereine sei eine Reihe von Clubs gegründet worden, deren Namen auf harmlose soziale Zwecke hindeuteten, in Wahrheit aber den politischen Zielen der Partei, einschließlich der Aufstellung von Ausschüssen und Ernennung von Delegierten, und dem Aufbau einer wohldurchdachten Wahlorganisation einer regulären Kette von unterstellten Agitatoren und Autoritäten dienten.

Bei der beschriebenen Sachlage, so erklärte der Minister, seien die bekannten Ideale der Sozialdemokratie eine eventuelle, aber zweifelsohne nichtsdestoweniger reale Gefahr für die öffentliche Ordnung, der die Gesellschaft nicht tatenlos zusehen dürfe. […]

Quelle: The National Archives, UK, FO 68/165.

George Strachey an Earl Granville, Nr. 5, Dresden (17. Januar 1884)

Die Vorlage einer parlamentarischen Petition bezüglich des angeblich unrechtmäßigen Verbots einer Versammlung durch den Magistrat einer sächsischen Stadt [Großenhain] löste im Landtag eine lebhafte Debatte aus […].

Nach einer eröffnenden Rede von [August] Bebel zu den formalen Gesichtspunkten der Angelegenheit erörterte für die Regierung Herr [Otto] von Ehrenstein[10] die Haltung der Sozialdemokratie zur Gesellschaft und zum Staat. Das sozialistische Ideal beinhalte, so sagte er, zwei zentrale Punkte – die Abschaffung des Privatlebens und die Aufhebung der beruflichen Beschäftigung. In der Welt der Sozialdemokratie solle niemand eine besondere Berufung oder eine gesonderte private Existenz haben. Das menschliche Tun solle auf die gleichberechtigte Produktion und Verteilung des zum Leben Nötigen beschränkt werden. Die Erde solle in Distrikte eingeteilt und jedem Individuum des Menschengeschlechts von örtlichen Komitees sein Teil Arbeit und sein Teil Vergnügen zugewiesen werden. Die Grundvorstellungen seien in einem in Zürich veröffentlichten Buch Bebels mit dem Titel „Die Frau in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“ klar und deutlich dargelegt worden. Dieses Werk gehe noch weiter: Die Menschheit solle kein Geld haben und nicht in ihren eigenen Häusern essen. Bebel hatte geschrieben: „Da es in der neuen Gesellschaft keine Waren gibt, so gibt es auch kein Geld“ –und: „Die ganze Nahrungsmittelbereitung wird also in der Gesellschaft der Zukunft eine ebenfalls gesellschaftliche Einrichtung. Die Privatküche ist verschwunden.“ Verwirklicht werden solle dieses Programm durch die „Enteignung der Enteigner“, also durch eine umfassende Plünderung und allgemeine Neuverteilung des Eigentums. […]

Die amtliche Darstellung der Utopie, deren Quintessenz das Fehlen von Geld, der Genuss von Vergnügungen, die von Komitees angeordnet werden, und das Speisen an tables d’hôte ist, mag wohl einige Wirkung erzielt haben. Dass die Petition schlussendlich abgelehnt wurde, lag zum Teil an einer Formwidrigkeit in der Art ihrer Abfassung und daran, dass für das Verbot der Versammlung in Grossenhain eine technische Begründung gefunden wurde.

Quelle: The National Archives, UK, FO 68/168.

George Strachey an Earl Granville, Nr. 46, Dresden (1. November 1884)

Die Wahlen [zum Reichstag] haben die Illusionen, die – wie meine Korrespondenz gezeigt hat – man sich hier über die Sozialdemokratie gemacht hat, unsanft zerstört.

Es ist ein zentraler konservativer und staatlicher Glaubenssatz, dass der Sozialismus derzeit durch die vor sechs Jahren eingeleiteten Zwangsmaßnahmen ausgemerzt werde und dass seine weniger werdenden Anhänger anfingen, die leeren Versprechungen von Demagogen mit den philanthropischen Realitäten des Staatssozialismus zu vergleichen. Die Wahlen vom Dienstag zeigen, dass gerade das genaue Gegenteil geschieht.

Die Sozialdemokraten sind aus der Versenkung, in der sie nach dem Verbot von 1878 zeitweilig verschwanden, vollständig wiederaufgetaucht und haben mit frischer Energie und Begeisterung einen Neuaufbruch vollzogen, was offensichtlich eine Konsequenz der politischen Verfolgung ist, mit der sie eingeschüchtert werden sollten, so wie ihre verbesserte Parteiorganisation und -disziplin ohne Zweifel das Resultat des Versuchs ist, sie durch das Angebot staatlicher Patentlösungen der Führerschaft von [August] Bebel und [Wilhelm] Liebknecht abspenstig zu machen.

Vollständige Zahlen lassen sich erst nach den entscheidenden [Stich-]Wahlen angeben, bei denen die Sozialisten womöglich sehr viel mehr Stimmen erhalten werden. Zum jetzigen Zeitpunkt kann ich sagen, dass die Stimmen in Sachsen, die nach der Auflösung 1881 rund 80.000 betrugen, am Dienstag fast 127.000 erreichten, die höchste je im Königreich erreichte Zahl. […]

Dieser starke Stimmenzuwachs hat keine entsprechende Veränderung der Sitzverteilung bewirkt. Das sächsische Kontingent der sozialistischen Fraktion im Reichstag wird kaum größer sein als die bisherigen vier Mitglieder. Es ist charakteristisch für die Dresdener Presse, dass sie die oben angegebenen Zahlen beharrlich ignoriert, sodass ich sie selbst zusammenstellen musste, und die schamlose Behauptung aufstellt, dieses begünstigte Königreich bilde eine Ausnahme vom alarmierenden Zuwachs der Sozialdemokratie im ganzen Reich!

Quelle: The National Archives, UK, FO 68/168.

George Strachey an den Marquess of Salisbury, Nr. 57, Dresden (25. Oktober 1887)

Sachsens lokale Legislative [Landtag] tritt im kommenden Monat zu seiner alle zwei Jahre stattfinden Sitzung zusammen, und die vorgeschriebene Neuwahl eines Drittels der Mitglieder des Landtags, oder der Zweiten Kammer, hat soeben stattgefunden. Das Ergebnis ist in gewisser Weise vorteilhaft für die Regierung und die „Parteien der Ordnung“, denn es erwies sich, dass die Wahlkreise nach wie vor unter dem Einfluss der konservativen Reaktion stehen, die im vergangenen Februar durch die Auflösung des deutschen Parlaments erweckt wurde. […] [D]ie Sozialdemokraten haben nur den einen Sitz (der 21 [zu vergebenden Sitze]) errungen, den sie zuvor innehatten. Dies löste übermäßigen offiziellen und „patriotischen“ Jubel aus, der sich allerdings angesichts der Arithmetik der Fakten als bloßer „Tanz auf dem Vulkan“ darstellt. Die betreffenden Wahlkreise waren zuletzt 1881 zur Wahl aufgerufen, und ein Vergleich zwischen jenem Jahr und diesem Jahr zeigt, dass die Macht der Sozialdemokratie in fataler Geschwindigkeit gewachsen ist. Ich stelle fest, dass das Stimmergebnis der „Parteien der Ordnung“ jetzt um ein Drittel höher ist als 1881: die Sozialisten erhielten fünfmal so viele Stimmen. […]

Diese Tatsachen sind umso bedeutsamer, als in Sachsen das Stimmrecht bei den lokalen Parlamentswahlen [Landtag] an eine bestimmten Vermögensqualifikation gebunden ist,[11] die vermutlich die Hälfte der Arbeiter des Königreichs vom Wahlrecht ausschließt. Solche Erwägungen hindern die „Reptilienpresse“ und ihre offiziellen geistigen Väter hier und anderswo in Deutschland aber nicht, die sächsischen Wahlen als glanzvollen Sieg der Kräfte der Ordnung anzuführen – oder immer wieder zu beteuern, dass dank Fürst Bismarcks weisem Repressionsgesetz von 1878 und den wohltätigen Maßnahmen des Staatssozialismus, die inzwischen eingeleitet wurden, die Kraft der deutschen Sozial-Demokratie schrittweise gebrochen werde.

Quelle: The National Archives, UK, FO 68/171.

George Strachey an den Marquess of Salisbury, Nr. 50 (8. November 1889)

Gestern machte ich gegenüber dem [Sächsischen Kriegsminister] Graf [Alfred von] Fabrice die Bemerkung, am deutschen politischen Horizont gebe es gegenwärtig nichts Interessantes außer das Gesetz betreffend die Sozialdemokratie […]. Ich fragte Graf Fabrice, ob er der Meinung sei, dass die verbündeten Regierungen die Sympathien der Öffentlichkeit auf ihrer Seite haben, wenn sie die Sozialisten derart wie eine geächtete Klasse behandeln. Er sagte, dies sie sei seines Erachtens der Fall und der Wunsch nach dauerhaftem Zwang sei ziemlich allgemein. […]

Was das Gesetz betrifft, so bleibe ich bei meiner Überzeugung, dass der Zwang die geächtete Partei sowohl materiell als auch moralisch gestärkt hat. Und ich zweifle nicht, dass die vorgeschlagene Maßnahme […], wenn sie Gesetz wird, der Sozialdemokratie mehr Bekehrte zutreiben wird als alle Bemühungen und die ganze Beredsamkeit von [Wilhelm] Liebknecht und [August] Bebel.

Quelle: The National Archives, UK, FO 68/174.

George Strachey an den Marquess of Salisbury, Nr. 12, Dresden (21. Februar 1890)

Soweit meine Erinnerung zurückreicht, haben ohne Ausnahme die hiesigen führenden Persönlichkeiten in Ministerialverwaltung, bürgerlichem Leben und Industrie mitsamt der konservativen und national-liberalen Mehrheit und den der Regierung und Bismarck ergebenen Zeitungen nie aufgehört, immer wieder zu beteuern, dass die arbeitenden Klassen des Königreichs und des Reiches unter dem bewundernswerten System aus Ächtung und gleichzeitiger Liebedienerei, das die Reichsverwaltung [1878] in ihrer Weisheit ersann, langsam, aber sicher von der sozialistischen Ketzerei entwöhnt würden. […]

Die gestrige Wahl hat diese allgemeine Illusion unsanft zerstört. Die Hydra der Sozialdemokratie hat sich weit über alle Hoffnung hinaus von den Entmutigungen und Rückschlägen erholt, die sie unter der „Kartell“-Koalition von 1887 hinnehmen musste, und hat sich ihr Haupt mit nie dagewesener Lebenskraft und mit derart gesteigertem Wahlerfolg wieder erhoben, dass manche Stimmergebnisse kaum glaublich erscheinen.

Quelle: The National Archives, UK, FO 215/40 (Entwurf), FO 68/175 (Endfassung).

George Strachey an den Marquess of Salisbury, Nr. 13, Dresden (24. Februar 1890)

Ich habe in meiner vorausblickenden Schätzung der Ergebnisse der [Reichstags]Wahlen den Erfolg der Sozialdemokraten zu niedrig veranschlagt. 1887 waren von den 23 Mitgliedern, die das sächsische Kontingent für das Reichsparlament bilden, 6 Sozialisten, die bei der Parlamentswahl in jenem Jahr allesamt durch „Kartell“-Kandidaten ersetzt wurden. Das Ergebnis vom Freitag bedeutete nicht, wie es zunächst den Anschein hatte, dass die Sozialdemokraten die 4 oder 5 auf diese Weise verlorenen Sitze, sondern alle 6 zurückgewonnen haben. […]

[D]ie jetzige Situation ist Arithmetik, sodass ich erneut auf Zahlenvergleiche zurückgreifen muss. Dies waren die Stimmergebnisse der Sozialdemokraten in Sachsen:

1884: 128.140
1887: 151.000
1890: 236.140

Der Zuwachs seit der letzten Wahl beträgt somit überwältigende 80.000 Stimmen.

Die „Kartellparteien“ erhielten am Freitag 70.000 Stimmen weniger als bei den vorigen Parlamentswahlen, während die „Freisinnige“ Partei ihre alte unbedeutende Stärke nahezu verdoppeln konnte. Letztere ist immer noch ein kleiner Bruchteil der Wahlkreise, die zusammen nicht einmal ein Zehntel der aktiven Wählerschaft ausmachen. – Wenn ich die Gesamtzahlen zusammenzähle, komme ich zu dem Ergebnis, dass von 560.000 sächsischen Wählern am vergangenen Freitag 270.000 für „Thron und Altar“ stimmten, während fast 290.000 aus verschiedenen praktischen oder utopischen Gründen gegen die herrschende politische Ordnung Protest einlegten. […]

Die Bevölkerung von Sachsen und insbesondere von Dresden ist über alle Abstufungen hinweg ein unübertroffenes Muster schicklichen und gehorsamen Betragens. Die Behörden jedoch treibt die fortwährende Angst vor Unruhen um, deren Eintreten außer für das amtliche Denken vollkommen unvorstellbar ist. Während des Freitagabends und der Nacht wurde, obwohl die Stadt bis zur Verschlafenheit ruhig war, die gesamte Garnison, bestehend aus 10 Bataillonen Infanterie, 5 Schwadronen Kavallerie und Artillerie ad libitum, in Dauerbereitschaft gehalten […]. Ich bin mit dem Geist, von dem die herrschende Klasse und das höhere Militär beseelt ist, durchaus vertraut und kann sagen: Wenn es zu irgendwelchen Störungen gekommen wäre, hätte man eher eifrig als widerstrebend die Truppen eingesetzt und zu einer „Ladung Kartätschen“ gegriffen.

Quelle: The National Archives, UK, FO 215/40 (Entwurf), FO 68/175 (Endfassung).

George Strachey an den Marquess of Salisbury, Nr. 47, Dresden (25. Oktober 1890) (Entwurf)

Seine Exzellenz [der sächsische Kriegsminister General Alfred von] Fabrice sagte, er sei inzwischen zu dem Schluss gekommen, dass das Verbot [d. h. das kürzlich ausgelaufene Gesetz gegen die Sozialdemokratie] als Mittel der Entmutigung und Repression auf der ganzen Linie versagt und sich vermutlich schädlich ausgewirkt habe, weil es Verbitterung und Hass hervorgebracht habe. Das Gesetz habe nichts vermocht, weil es eine Halbheit gewesen sei. Wer Meinungen zum Schweigen bringen und ausrotten wolle, dürfe nicht mit Flohstichen operieren, sondern müsse zu den allerdrastischen Mitteln greifen.

Als ich sagte – „Sie meinen, man müsse schießen“, gab der General zu verstehen, dass er genau dies meine […].

Weiterführende Literatur

James Retallack, Red Saxony: Election Battles and the Spectre of Democracy in Germany, 1860–1918. Oxford: Oxford University Press, 2017.

James J. Sheehan, „What Is German History? Reflections on the Role of the Nation in German History and Historiography“, Journal of Modern History 53 (1981): S. 21 f.

Anmerkungen

[1] Burnley bezieht sich auf das Manifest der Braunschweiger Sozialisten vom 5. September 1870. Im Folgenden weist die Abkürzung „MW“ darauf hin, dass die betreffende Fußnote aus Mößlang und Whatmore, Hrsg., British Envoys to the Kaiserreich, 1871–1897, stammt.
[2] August Bebel und Wilhelm Liebknecht wurden am 17. Dezember 1870 verhaftet, weil sie Kritik am Krieg geübt und für einen Frieden ohne Annexion plädiert hatten (MW).
[3] Die Universität Leipzig (MW).
[4] Das Reichspressegesetz vom 7. Mai 1874 trat am 1. Juli 1874 in Kraft; mit ihm wurde im gesamten Deutschen Reich die Pressefreiheit eingeführt (MW).
[5] Strachey bezieht sich auf die ursprüngliche Absicht der Reichsregierung, Ausnahmebestimmungen für die ultramontane und sozialistische Presse in das Gesetz aufzunehmen (MW).
[6] Fernando Álvarez de Toledo (1507–1582), der 3. Herzog von Alba, war ein spanischer General und Gouverneur der Spanischen Niederlande. Seine brutale Herrschaft trug ihm den Spitznamen „Eiserner Herzog“ ein (Anmerkung d. Herausgeber).
[7] Am 11. Mai 1878 versuchte der Klempnergeselle Emil Max Hödel aus Leipzig, Wilhelm I. in Berlin zu erschießen. Das gescheiterte Attentat wurde als Vorwand für den ersten Entwurf des
Sozialistengesetzes vom Mai 1878 genutzt (MW).
[8] Bei den Reichstagswahlen im Januar 1877 gewann die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands zwei Berliner Wahlbezirke (MW).
[9] Strachey bezieht sich auf die repressiven Sechs Artikel vom 28. Juni 1832 im Deutschen Bund (MW).
[10] Otto von Ehrenstein war ein konservatives Mitglied des Sächsischen Landtags 18731878, Regierungsrat im Sächsischen Ministerium des Innern 18821887 und Kreishauptmann von Leipzig 18871906 (Anmerkung d. Herausgeber).
[11] Von 1868 bis 1896 war das Stimmrecht bei den Wahlen zum Sächsischen Landtag an die Bedingung geknüpft, dass der Betreffende mindestens 3 Mark im Jahr an Steuern an den Staat entrichtete. Damals hatten ungefähr 14 Prozent der sächsischen Gesamtbevölkerung – ausschließlich Männer – das Stimmrecht; bei den Reichstagswahlen waren es rund 21 Prozent (Anmerkung d. Herausgeber).

Quelle: The National Archives, UK, FO 215/40.

Übersetzung: aus dem Englischen ins Deutsche: Andreas Bredenfeld