Kurzbeschreibung

Im Juni 1870 wurde der spanische Thron Prinz Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen (1835–1905), einem Verwandten König Wilhelms I. von Preußen, angetragen. Leopold nahm die Kandidatur an, doch sie wurde am 2. Juli nach Protesten seitens der französischen Regierung zurückgezogen. Mitte Juli weilte Wilhelm I. zu einem Kuraufenthalt in Bad Ems. Dort traf er mit dem französischen Botschafter Vincent Graf Benedetti (1817–1900) zusammen, der in einer Unterredung Wilhelms Garantie forderte, auf die Kandidatur eines Hohenzollerns für den spanischen Thron auf alle Zeiten zu verzichten. Wilhelm lehnte das Ansinnen höflich ab, und ein Telegramm mit dem Bericht über den Vorgang wurde von Heinrich Abeken (1809–1872), einem Mitglied der Gesandtschaft des Norddeutschen Bundes in Paris, an Bismarck nach Berlin übermittelt. Bismarck, der fest entschlossen war, einen Krieg mit Frankreich zu provozieren, beriet sich mit dem Kriegsminister Albrecht von Roon (1803–1879) und dem Chef des preußischen Generalstabs, Helmuth von Moltke (1800–1891). Bevor er den Bericht über die Unterredung des Königs mit Benedetti für die Presse freigab, redigierte Bismarck ihn auf eine Weise, welche die Franzosen provozieren musste. Frankreich erklärte am 19. Juli den Krieg und damit begann der Deutsch-Französische Krieg. Bismarcks Plan, Preußen als Opfer französischer Aggression erscheinen zu lassen, ging auf; dies wiederum trug erheblich zu der Entscheidung aller deutschen Staaten bei, sich am Krieg zu beteiligen und später dann, im Januar 1871, dem neuen Deutschen Reich beizutreten. Der unten wiedergegebene Text ist ein Auszug aus Bismarcks Lebenserinnerungen, die mit Vorsicht zu genießen sind. Hier leugnet er, dass der Telegrammtext von ihm erweitert oder verändert worden sei—er habe ihn lediglich gekürzt. Der ursprüngliche Text der Emser Depesche und die für die Presse freigegebene bismarcksche Fassung folgen in den beiden nächsten Einträgen.

Bismarcks Erinnerungen des Abends, an dem die Emser Depesche redigiert wurde (13. Juli 1870)

  • Otto von Bismarck

Quelle

Zum Rücktritt entschlossen trotz der Vorwürfe, die mir Roon darüber machte, lud ich ihn [Roon] und Moltke zum 13. ein, mit mir zu Drei zu speisen, und theilte ihnen bei Tische meine An- und Absichten mit. Beide waren sehr niedergeschlagen und machten mir indirect Vorwürfe, daß ich die im Vergleiche mit ihnen größere Leichtigkeit des Rückzuges aus dem Dienste egoistisch benutzte. Ich vertrat die Meinung, daß ich mein Ehrgefühl nicht der Politik opfern könne, daß sie Beide als Berufssoldaten wegen der Unfreiheit ihrer Entschließung nicht dieselben Gesichtspunkte zu nehmen brauchten wie ein verantwortlicher auswärtiger Minister. Während der Unterhaltung wurde mir gemeldet, daß ein Ziffertelegramm, wenn ich mich recht erinnere, von ungefähr 200 Gruppen, aus Ems, von dem Geheimrath Abeken unterzeichnet, in der Uebersetzung begriffen sei. Nachdem mir die Entzifferung überbracht war, welche ergab, daß Abeken das Telegramm auf Befehl Sr. Majestät redigirt und unterzeichnet hatte, las ich dasselbe meinen Gästen vor, deren Niedergeschlagenheit so tief wurde, daß sie Speise und Trank verschmähten. Bei wiederholter Prüfung des Actenstücks verweilte ich bei der einen Auftrag involvirenden Ermächtigung Seiner Majestät, die neue Forderung Benedettis und ihre Zurückweisung sogleich sowohl unsern Gesandten als in der Presse mitzutheilen. Ich stellte an Moltke einige Fragen in Bezug auf das Maß seines Vertrauens auf den Stand unsrer Rüstungen, respective auf die Zeit, deren dieselben bei der überraschend aufgetauchten Kriegsgefahr noch bedürfen würden. Er antwortete, daß er, wenn Krieg werden sollte, von einem Aufschub des Ausbruchs keinen Vortheil für uns erwarte; selbst wenn wir zunächst nicht stark genug sein sollten, sofort alle linksrheinischen Landestheile gegen französische Invasion zu decken, so würde unsre Kriegsbereitschaft die französische sehr bald überholen, während in einer spätern Periode dieser Vortheil sich abschwächen würde; er halte den schnellen Ausbruch im Ganzen für uns vortheilhafter als eine Verschleppung.

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Alle diese Erwägungen, bewußt und unbewußt, verstärkten in mir die Empfindung, daß der Krieg nur auf Kosten unsrer preußischen Ehre und des nationalen Vertrauens auf dieselbe vermieden werden könne.

In dieser Ueberzeugung machte ich von der mir durch Abeken übermittelten königlichen Ermächtigung Gebrauch, den Inhalt des Telegramms zu veröffentlichen, und reducirte in Gegenwart meiner beiden Tischgäste das Telegramm durch Streichungen, ohne ein Wort hinzuzusetzen oder zu ändern, auf die nachstehende Fassung:

„Nachdem die Nachrichten von der Entsagung des Erbprinzen von Hohenzollern der kaiserlich französischen Regirung von der königlich spanischen amtlich mitgetheilt worden sind, hat der französische Botschafter in Ems an Seine Majestät den König noch die Forderung gestellt, ihn zu autorisiren, daß er nach Paris telegraphire, daß Seine Majestät der König sich für alle Zukunft verpflichte, niemals wieder seine Zustimmung zu geben, wenn die Hohenzollern auf ihre Candidatur wieder zurückkommen sollten. Seine Majestät der König hat es darauf abgelehnt, den französischen Botschafter nochmals zu empfangen, und demselben durch den Adjutanten vom Dienst sagen lassen, daß Seine Majestät dem Botschafter nichts weiter mitzutheilen habe.“ Der Unterschied in der Wirkung des gekürzten Textes der Emser Depesche im Vergleich mit der, welche das Original hervorgerufen hätte, war kein Ergebniß stärkerer Worte, sondern der Form, welche diese Kundgebung als eine abschließende erscheinen ließ, während die Redaction Abekens nur als ein Bruchstück einer schwebenden und in Berlin fortzusetzenden Verhandlung erschienen sein würde.

Nachdem ich meinen beiden Gästen die concentrirte Redaction vorgelesen hatte, bemerkte Moltke: „So hat das einen andern Klang, vorher klang es wie Chamade, jetzt wie eine Fanfare in Antwort auf eine Herausforderung.“ Ich erläuterte: „Wenn ich diesen Text, welcher keine Aenderungen und keinen Zusatz des Telegramms enthält, in Ausführung des Allerhöchsten Auftrags sofort nicht nur an die Zeitungen, sondern auch telegraphisch an alle unsre Gesandschaften mittheile, so wird er vor Mitternacht in Paris bekannt sein und dort nicht nur wegen des Inhaltes, sondern auch wegen der Art der Verbreitung den Eindruck des rothen Tuches auf den gallischen Stier machen. Schlagen müssen wir, wenn wir nicht die Rolle des Geschlagenen ohne Kampf auf uns nehmen wollen. Der Erfolg hängt aber doch wesentlich von den Eindrücken bei uns und Andern ab, die der Ursprung des Krieges hervorruft; es ist wichtig, daß wir die Angegriffenen seien, und die gallische Ueberhebung und Reizbarkeit wird uns dazu machen, wenn wir mit europäischer Oeffentlichkeit, so weit es uns ohne das Sprachrohr des Reichstags möglich ist, verkünden, daß wir den öffentlichen Drohungen Frankreichs furchtlos entgegentreten.“

Diese meine Auseinandersetzung erzeugte bei den beiden Generalen einen Umschlag zu freudiger Stimmung, dessen Lebhaftigkeit mich überraschte. Sie hatten plötzlich die Lust zu essen und zu trinken wiedergefunden und sprachen in heiterer Laune. Roon sagte: „Der alte Gott lebt noch und wird uns nicht in Schande verkommen lassen.“ Moltke trat so weit aus seiner gleichmüthigen Passivität heraus, daß er sich, mit freudigem Blick gegen die Zimmerdecke und mit Verzicht auf seine sonstige Gemessenheit in Worten, mit der Hand vor die Brust schlug und sagte: „Wenn ich das noch erlebe, in solchem Kriege unsre Heere zu führen, so mag gleich nachher ‚die alte Carcasse‘ der Teufel holen.“ Er war damals hinfälliger als später und hatte Zweifel, ob er die Strapazen des Feldzugs überleben werde.

Quelle: Otto von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. Stuttgart: J. G. Cotta, 1898, Bd. 2, S. 87–92. Online verfügbar unter: https://digital.staatsbibliothek-berlin.de/werkansicht?PPN=PPN816111677&PHYSID=PHYS_0001&DMDID=DMDLOG_0001.